BERLIN. (hpd) Kolkraben täuschen ihre Artgenossen und beweisen damit, dass sie sich in sie hineinversetzen können. Im Sinai benutzen die unscheinbaren Graudrosslinge unterschiedlich gereihte, fast syntaktisch aufgebaute Signale, um sich vor Raubvögeln aus der Luft oder Schlangen zu warnen. Gleiches entdeckte man erst kürzlich bei den Berberaffen. Sind Vögel also genauso schlau wie diese Primaten?
Gerade tut sie es wieder! Eine Dohle lässt ihre faustgroße Beute im flatternden Tiefflug auf das Flachdach eines mehrstöckigen Hauses gegenüber fallen. Ich tippe auf einen McDonald´s-Behälter, den sie unten aus dem Trubel der Straße dort hinaufgerettet hat. Noch einmal und noch einmal. Bis die Verpackung aufspringt und der Dohlenschnabel an den Inhalt herankann. Manchmal trippelte die Dohle auch mit ihrer Beute im Schnabel an der Dachkante entlang und warf den zu erwartenden Leckerbissen wiederholt spielerisch in die Luft. Wie um den Genuss noch etwas aufzuschieben. Ich bin sicher, es ist immer dieselbe Dohle. Seit über einem Jahr.
Das ist noch gar nichts, lese ich in Immanuel Birmelins Buch „Von wegen Spatzengehirn! Die erstaunlichen Fähigkeiten der Vögel“. In den USA wurden Möwen beobachtet, die Muscheln über einer Küstenstraße niederfallen ließen und warteten, bis vorbeifahrende Autos sie zerdrückten. Rabenkrähen in England spezialisierten sich auf Zebrastreifen, wo sie gefundene Nüsse auslegten, von den Autos zermalmen ließen und in den Rotphasen in Ruhe deren Inhalt aufpickten.
Bei Vögeln kommt es vor, so erzählt durch seine Tierdokus fürs Fernsehen bekannt gewordene Autor, was wir bisher nur unseren nächsten Verwandten zutrauten: Sie kooperieren in Gruppen. Sie haben ein Ich-Bewusstsein. Sie können logische Schlüsse ziehen. Sie entwickeln lokale kulturelle Traditionen. Heimische Rohrsänger und australische Leierschwänze bauen die Laute ihrer Umwelt in ihren Gesang ein, um ihrer Angebeteten zu imponieren. Vom Handy-Klang bis zur Kreissäge. Kanarienvögel studieren sogar jedes Jahr völlig neue Gesänge ein.
Ihre dafür notwendigen grauen Zellen befinden sich nicht wie bei uns in der Großhirnrinde, entdeckte der Biopsychologe Onur Güntürkün an der Universität Bochum, sondern im evolutionär viel älteren Subpallium. Dort vollziehen sich bei ihnen die für das intelligente Verhalten notwendigen vielfältigen und immer neuen Vernetzungen der Nervenzellen. Außerdem ist das Hirn unserer gefiederten Zeitgenossen relativ zur Körpergröße sogar genauso groß wie das der Primaten.
Geduldige japanische Forscher beobachteten an den hierzulande neuerdings eher ungeliebten Tauben staunend, dass sie nach zwei unter farbigen Deckeln versteckten Futternäpfchen zu schließen vermögen, unter welchen farbigen Deckeln sich immer, unter welchen nie Futter verbirgt. Bei den Kombinationen gelb - rot, rot - grün, grün - blau fanden sie es immer unter der gelbhaltigeren Farbe. Wenn ihnen alle gezeigt wurden, suchten sie unter gelb immer, unter blau nie. Ja, sie wussten sogar Bilder von Picasso stets von einem Monet zu unterscheiden, selbst dann, wenn diese auf Schwarz-Weiß-Raster reduziert waren. Und soviel kapierten sie wenigstens von Symmetrie, dass sie ein b und ein p als Signal für Futter auch dann wiedererkannten, wenn es ihnen spiegelverkehrt und dazu gar noch auf dem Kopf präsentiert wurde. Tauben sind wohl auch keine Legastheniker.
Solche erstaunlichen Fähigkeiten zur räumlichen Orientierung lassen sich vielleicht noch damit erklären, dass Vögel fliegen können und sehr präzise Raumvorstellungen entwickeln müssen, um sich zu orientieren. Auch Futterverstecke konnten sie sich den Winter über zu merken. Die im Experiment in Oxford nachgewiesene Fähigkeit einer Neukaledonischen Krähe, sich ein Werkzeug zu basteln, um ein Werkzeug herzustellen – einen Haken zu biegen, um ein Eimerchen mit Futter eine Röhre hinaufhangeln zu können - lässt an die Fähigkeit vieler Vögel zu komplizierter Nestbautechnik denken. Aber das erklärt noch nicht alles.
Eine Elster erkannte sich im Spiegel. Der Beweis: sie versuchte einen an der Brust angebrachten Fleck, den sie an ihrem Ebenbild entdeckte, durch Verrenkungen mit dem Schnabel und Reiben der Brust am Boden zu entfernen. Sie verfügte also über ein Bewusstsein ihrer selbst. Kolkraben, die Futter vor ihren Artgenossen verstecken, müssen auch die Gabe besitzen, sich in andere Gruppenmitglieder hineinzuversetzen – und über eine gewisse Zeitvorstellung, über ein Konzept von Zukunft. Denn das gehört zu einem Plan.
Auf Neuseeland vorkommende Keas können nicht nur Mülleimer öffnen. Sie verstehen offenbar auch elementare physikalische Zusammenhänge. Der Deckel zu von ihnen begehrten Butterröllchen hob sich in einem für sie erdachten Experiment nur, wenn zumindest einer aus dem Trupp der Keas die Hebelwirkung einer Art Wippe zum Einsatz brachte. Der Tüchtige kam dann freilich nicht selbst in den Genuss des Leckerbissens. Allem Anschein nach trieben die in Gruppen lebenden Keas nun die Rangniederen, die Wippe zu betätigen, um so selbst an das begehrte Futter zu kommen. Das wäre der erste beobachtete Fall, bei dem Vögel andere Vögel zur Kooperation zwingen!
Vögel können im Experiment Ähnliches leisten wie Primaten. Obwohl sie schon vor etwa 115 Millionen Jahren entstanden und die Affen erst vor 55 Millionen Jahren. Vielleicht sind ja weder die Menschen die ‚Krönung der Schöpfung‘ noch die höchstentwickelten Affen, die Hominiden, kommt mir der Gedanke. Und Ähnlichkeit hat mit Verwandtschaft nicht immer etwas zu tun. Vergleichbar komplizierte Anforderungen und Herausforderungen an ein Lebewesen erzeugt möglicherweise ein überraschend ähnliches Verhaltensrepertoire – an ganz verschiedenen Ecken und Enden der Evolution!
Simone Guski
Immanuel Birmelin: „Von wegen Spatzenhirn! Die erstaunlichen Fähigkeiten der Vögel“, Kosmos Verlag, Stuttgart 2012, 207 S., 19,95 Euro.
Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.