Eine Evangelisierung steht an, und eine "Entweltlichung" der Kirche, wie er es schon in der Freiburger Rede 2011 hervorgehoben. Der Mainzer Kardinal Lehmann hat dies jüngst unterstrichen, als er im Zusammenhang mit dem Papst-Rücktritt zu einer Orientierung auf das "Fundament eines lebendigen Glaubens" aufgerufen hat: "Darum hat uns auch Papst Benedikt XVI. mit seinem zentralen Werk über das Leben Jesu und mit den Gesammelten Schriften ein Erbe geschenkt und hinterlassen, das auch für die Kirche der Zukunft wichtiger ist als ein Aktivismus jeglicher Art."
Das ist das Programm des Dr. Ratzinger, und dafür wird er seine Arbeit im "Weinberg des Herrn" fortsetzen, wenn auch an anderer Stelle und mit anderen Mitteln. Dr. Ratzinger zieht sich auf ein in der katholischen Organisation nicht vorgesehenes Wächteramt zurück. Sein Einfluss wird enorm groß sein; auch deshalb ist dem Theologen und Kirchenkritiker Horst Herrmann zuzustimmen, der darauf hingewiesen hat, dass auch der nächste Papst den Reformstau nicht überwinden wird.
Den kritischen Kräften innerhalb der katholischen Kirche dürften die Vorgänge in Rom jedoch Auftrieb geben: wenn schon der Papst die Stellvertreterschaft des divanisierten Jesus durch Eigenkündigung beenden darf und nicht mehr die Entscheidung des Allmächtigen abwartet, ihn von seiner Position abzuberufen, warum soll dann in allen anderen Bereichen, etwa hinsichtlich der Ehescheidung, der Geburtenregelung und Verhütung, der Berufung von ausschließlich Männern zur Priesterschaft, dem Zölibat, der Sterbehilfe, der Homosexualität alles beim Alten bleiben? Wenn schon der oberste Katholik Vernunftgründe dafür anführt, seine Entscheidung an die des von den Katholiken angebeteten Gottes zu setzen, warum sollen dann nicht auch an anderen Stellen Vernunftgründe in der katholischen Kirche Einzug halten?
Dass der Rücktritt vom Amt des Stellvertreters an einem 28. Februar erfolgt, mag Zufall sein – aber bei einem in der Theologie und der Geschichte der katholischen Kirche so tief verwurzelten Mann wie Dr. Ratzinger mag man nicht an Zufall glauben.
Am 28. Februar des Jahres 380 erließ der römische Kaiser Theodosius das Edikt Cunctos populos, mit dem per staatlicher Anordnung die christlich-trinitarischen Religion zur einzig wahren katholischen Religion erklärt wurde. Damit wurde das Ergebnis des Konzils von Nicäa zur alleinverbindlichen Grundlage des allein zulässigen Glaubens gemacht, und zwar nicht von Theologen, sondern von den für die Innenpolitik zuständigen staatlichen Organen, ohne vorhergehende Konsultationen mit kirchlichen Vertretern, wie antike Kirchenhistoriker berichtet haben. Waren anfangs Andersgläubige noch "nur" der Strafe der Ächtung und Verbannung ausgesetzt, wurden in den folgenden Jahren durch weitere Edikte des Theodosius die noch vorhandenen heidnischen Kulte verboten, durch Eheverbote (etwa mit Juden) tief in die private Sphäre eingegriffen sowie der Abfall vom (wahren) Christentum unter Strafe gestellt, die Häresie zum Verbrechen erklärt. Durch diese und eine Vielzahl weiterer staatlicher Akte wurde das katholische Christentum zur Staatsreligion erhoben.
Will Dr. Ratzinger mit der Wahl des Rücktrittsdatums zeigen, dass es so wie bisher mit der katholischen Kirche tatsächlich in einem grundsätzlichen Sinne nicht mehr weitergehen kann? Gewiss soll es zwar mit einer konservativen Ausrichtung weitergehen, aber mit einer Konzentration auf das Religiöse und nicht auf das Weltliche drum herum?
Der Mann, der angetreten ist, den zunehmenden "Unglauben" zu bekämpfen, hat aber durch sein Wirken dazu beigetragen, und zwar wesentlich auch mit seinem Rücktritt, die katholische Kirche und die katholische Religion zu entmystifizieren.
Danke, Herr Dr. Ratzinger.
Walter Otte