„Gebt mir mein Leben zurück!“

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Alicia von Rittberg als Luisa / Foto: Filmbild

BERLIN. (hpd) Lässt sich die Situation der Jugend von Hunderttausenden ehemaliger Heimkinder beispielhaft in einem Fernsehfilm zur Hauptsendezeit überhaupt darstellen? Das ZDF hat diese Frage aufgenommen, angenommen und entstanden ist ein berührender Film über Luisa und Paul in den 1960er Jahren im evangelischen Erziehungsheim „Falkenstein“ und ihre Situation heute.

Noch immer sind die Fragen des Umgangs mit den ehemaligen Heimkindern in Deutschland noch nicht abschließend geklärt und gelöst. Noch immer ist es ein Thema. Ob die Herausforderung, das Buch von Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herrn“ einem Millionenpublikum im Fernsehen als Spielfilm zur Hauptsendezeit nahezubringen, gelungen ist, können heute Abend alle Zuschauer selber bewerten.

Mich selbst hat der Film berührt und ich war nicht der einzige, der bei der Vorpremiere in Berlin schließlich Tränen in den Augen hatte. Entstanden ist ein Film über die Situation der Heimkinder in den 1950er und 1960er Jahren Deutschlands. Der Film ist für die Fernsehzuschauer produziert worden, nicht für die Heimkinder. Erste Reaktionen, die uns erreichten waren enttäuscht: „Zu weich, die Realität war brutaler“, „Wo sind die katholischen Heime dargestellt“, etc. Verständnis für die Überlegungen der Drehbuchautorin, einen beispielhaften Film zu thematisieren, haben seinige der Betroffenen nicht allzu sehr. Zu stark haben diese Jahre in den Heimen ihr eigenes Leben verändert, zerstört, ohne Mitleid für ihre Leiden, dass sie selber ebenfalls kein Mitleid mehr haben können.

„Wir waren keine Kinder. Nie!“

Der Film hat zwei Ebenen. Zum einen, als Rahmenhandlung, die beiden ehemaligen Heimkinder, Luisa (Senta Berger) und Paul (Matthias Habich), die sich 2008, nach 44 Jahren, in Berlin treffen und sich mit der Frage ihrer Jugend auseinandersetzen, mit den Fragen, ob sie vor dem Petitionsausschuss des Bundestages darüber berichten sollen, worüber sie so lange geschwiegen haben.

Zum anderen das Schicksal der jungen Luisa (Alicia von Rittberg), die bei ihrer Mutter aufwächst und, als einziger ‚Makel‘, unehelich geboren ist. Ein ganz normales Mädchen ihrer Zeit, 17 Jahre, mit Flausen für Rock ‚n Roll und Elvis im Kopf. Als ihre Mutter für eine Operation ins Krankenhaus muss, entscheiden die Sachbearbeiterin im Jugendamt und der Pastor, dass sie in das evangelische Kinderheim „Falkenstein“ kommt, das einen untadeligen Ruf habe.

Der Film beginnt leise, zeigt den militärischen Drill im Heim, die Normierung als Nummer, die Gegenwehr von Luisa, die der Meinung ist, dass sie nur vorübergehend dort untergebracht sei, was bei den anderen Mädchen helles Lachen verursacht. Der Film zeigt den Arbeitsdrill des zwölfstündigen Schuftens in der Wäscherei, es beginnt die Gewalt, wenn sie nicht spurt. Immer deutlicher zeigt sich, dass hinter der fürsorglichen Fassade, des „Hier wirst du für dein Leben nützliche Regeln lernen“ der nackte Terror der Unterwerfung und der Niedertracht herrscht, die sich selbstgerecht als „Gott gefällig“ rechtfertigt.

Die rebellierende Luisa kommt in Kontakt mit dem stillen Paul (Leonard Carow), der in dem Jungentrakt der ehemaligen Burg untergebracht ist und geprügelt wird, wenn er, der zum Stottern neigt, nicht fehlerfrei reden kann. Er hat seine eigenen Wege gefunden, um sich den Rest einer Würde zu bewahren.

Beiden, deren Beziehung einen Raum schafft für Hoffnung und Freundschaft, gelingt es eines Tages, zu entkommen, ein kurzes Fest der Freiheit weniger Stunden zu erleben, bis sie verhaftet, zurückgebracht und voneinander getrennt werden. Paul wird in das Arbeitslager der Diakonie in Freistatt gebracht, Luisa trifft ihre eigene Entscheidung.

„Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört“

Dieser Satz von Hannah Arendt, den der ältere Paul (Matthias Habich) schließlich, nach langem Zögern, sein Schweigen zu beenden, vor dem Petitionsausschuss sagt, fasst seine Lebenserfahrung zusammen, seine Bitterkeit und Einsamkeit, die ihn sich in den Büchern hat verkriechen lassen, während Luisa Deutschland verlassen hatte und in der Fremde (vergeblich) versuchte, Abstand zu gewinnen..

 

Anschließend an den Fernsehfilm wird noch eine halbstündige Dokumentation gezeigt, in denen einige der ehemaligen Heimkinder persönlich berichten.

Carsten Frerk
 

„Und alle haben geschwiegen“. Fernsehfilm der Woche, ZDF, Montag 4. März 2013, 20:15.
Regie: Dror Zahavi, Drehbuch: Andrea Stoll, Darsteller: Senta Berger, Matthias Habich, Alicia von Rittberg, Leonard Carow, Marie Anne Fliegel, Birge Schade, Jasmin Schwiers, Anke Sevenich, Antje Schmidt und andere. (89:22).

Peter Wensierski, Margarete Rupprecht/MdB, Senta Berger, Matthias Habich / Fotografie: Evelin Frerk

Birge Schade, Jasmin Schwiers, Antje Schmidt / Fotografie Evelin Frerk

Zitate

Spiegel-Autor Peter Wensierski: „In den sechziger Jahren gab es 3.000 Heime für Kinder und Jugendliche mit mehr als 200.000 Plätzen – etwa 65 Prozent davon waren katholisch oder evangelisch, knapp 25 Prozent staatlich, der Rest in freier oder privater Trägerschaft. Gut die Hälfte der Kinder war zwei bis vier Jahre in den Heimen untergebracht, andere verbrachten ihre ganze Kindheit und Jugend in den oft hermetisch abgeschlossenen Häusern, die sie nicht verlassen durften. Erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres – der damaligen Volljährigkeit – wurden sie entlassen.“

Drehbuchautorin Andrea Stoll: „Mein besonderer Dank gilt neben dem ZDF auch dem Regisseur Dror Zahavi, dessen aufwühlende Filmsprache dem traumatischen Raum in der Psychologie der Figuren eine fühlbare Präsenz verleiht.“

Produzentin Doris Zander: „Die Heime haben in meiner Kindheit eine dunkle Ahnung hinterlassen. Eine geflügelte Drohung war: "Wenn du nicht lieb bist, kommst du ins Heim!" Wir wussten nicht genau, was da los war – aber es konnte nichts Gutes sein.“

Regisseur Dror Zahavi: „Die größte Herausforderung für mich war ohne Zweifel die Arbeit mit den jungen Darstellern. Die Mehrzahl der agierenden Personen war unter 18 Jahren. Schon die Suche nach den Richtigen und die vielen Castings waren sehr aufwändig. Die größte Schwierigkeit jedoch bestand darin, die jungen Darsteller bei der Inszenierung von Gewalt und Missbrauchsszenen soweit zu beschützen, dass bei ihnen keine bleibenden Schäden verursacht werden.“

Senta Berger: „Später erst habe ich begriffen, was es heißt, ein "Heimkind" zu sein. Was es bei der Arbeitssuche bedeutete, beim beruflichen Weiterkommen, bei der Wahl der Freunde. (…) Langsam, sehr langsam sickerte nach außen wie in den Heiminstitutionen junge Menschen gebogen, verbogen und gebrochen worden sind. Nicht in allen, nein, sicher nicht, aber in vielen - zu vielen.“

Matthias Habich: „In der Szene vor dem Petitionsausschuss fühlte ich mich als der schauspielerische Stellvertreter aller Opfer der in den Kinderheimen begangenen Gewalttaten. Ich war mir der Verantwortung bewusst und versuchte meine Anklagen und Argumente so vorzubringen, dass sie nicht nur in die Ohren, sondern auch ins Gewissen des Auditoriums drangen.“

Alicia von Rittberg: „Ich denke, jeder aus meiner Generation hat vor allem in letzter Zeit von den sexuellen Missbräuchen durch Amtsträger der Kirche gehört. Das speziell im Film behandelte Thema war mir jedoch vor Drehbeginn noch nicht bekannt.“

Leonard Carow: „Ganz für sich hat Paul einen Schutzwall gebaut und sich seine eigene Welt unter den harten Umständen errichtet. Als er Luisa kennenlernt, beginnt er zum ersten Mal sich wieder zu öffnen. Als schwierige Schlüsselszene für den Charakter sehe ich das Vorsprechen des Gebetes, in der aus dem verschlossenen Jungen ein stiller Held wird.“

 

Nachbemerkung:

Alle, die den Film nicht am Montag sehen konnten, können den Film jetzt in der ZDF-Mediathek anschauen.

Ebenso die anschließende Dokumentation.