Das sogenannte Gute

BERLIN. (hpd) Woher kommt Altruismus und wie viel Altruismus ist natürlich? Ein Biologe wird darauf eine andere Antwort geben als ein Soziologe. Inwieweit bestimmen die Gene unser Verhalten? Kommt in der Natur wirklich nur vor, was sich evolutionär als nützlich erwiesen hat? Diesen Fragen widmet sich Frans de Waals jüngstes Buch „The Bonobo and the Atheist“.

Es ist gerade in den USA herausgekommen und widmet sich auch der Religion, von der man lange glaubte, dass sich ihr Kern auf Moral und Altruismus gründeten.

Wenn Wissenschaftler einige Reputation erlangt haben, erwartet man von ihnen, dass sie über ihr Fachgebiet hinaus zu drängenden Fragen der Menschheit Stellung nehmen und am besten erklären, warum die Welt so ist, wie sie ist, oder wenn sie Biologen sind, warum wir so sind, wie wir sind. Konrad Lorenz hat das getan mit seinem Buch „Das sogenannte Böse“ und damit das Denken einer Generation geprägt, zumindest in Deutschland. Das war in den Sechzigern. Tiere galten infolgedessen allzu lange als von Instinkten geleitete Automaten, der Mensch als ein Wesen, das im Grunde immer noch von denselben oft destruktiv wirkenden Verhaltensmechanismen gesteuert wurde.

Der Mensch - das besondere Tier, so wird es jeder Biologe sehen und gleichzeitig zu einem gewissen Konservativismus neigen. Geht man bis auf die Wurzeln zurück, ist wenig im Verhaltensrepertoire des Menschen so einzigartig menschlich, darauf wird er uns immer wieder hinweisen. Auch Frans de Waal tut das. Sein neuestes Buch ist kein wissenschaftliches Buch, sondern das besonnene Essay eines Mannes, der sich jahrzehntelang mit dem Verhalten der Schimpansen und Bonobos beschäftigt hat. Es zeugt von einer sehr persönlichen Bodenständigkeit und Bildung. Denn immer, wenn  Frans de Waal davon spricht, wie Menschen sind und sein können, und wenn es um das religiöse Bild des Menschen geht, greift er auf die Werke von Hieronymus Bosch zurück, der einst in demselben niederländischen Städtchen ´s-Hertogenbosch lebte und wirkte, in dem auch der heute in den USA arbeitende Forscher geboren wurde.

Entstanden ist schließlich ein doch sehr ermutigendes Buch. Wir können auf das Gute im Menschen durchaus vertrauen, denn es hat biologisch sehr alte Wurzeln. Das ist seine Botschaft. Frans de Waal  erweist sich aber auch - wie der Renaissancemaler - als zutiefst humanistisch gesonnen. Das Gute liegt uns nicht so fern und vor allem: Es kommt nicht von oben und nicht aus dem Jenseits.

Die Wurzel des Altruismus

Die Wurzel des Altruismus liegt in der mütterlichen Sorge um die Nachkommen. Sorge kostet etwas, aber sie verlangt in der Regel keine Aufopferung oder Selbstverleugnung. Tiere und Menschen kümmern sich umeinander, weil Gutsein sich gut anfühlt. Der Sinn für Fairness entspringt einem Gefühl, damit liegt Frans de Waal durchaus in der Tradition des englischen Philosophen David Hume. Er belegt diese Thesen mit zahlreichen klugen Experimenten und Beobachtungen, die er und seine Kollegen in den vergangenen Jahrzehnten angestellt haben.

Dabei erfahren wir viele erstaunliche Details. Wer hätte etwa gedacht, dass schon Krokodilmütter ihre Nachkommen vorsichtig in ihren Schnauzen von einem Ort zum anderen tragen? Oder dass selbst Elefanten miteinander kooperieren, um mittels einer gemeinsam von zwei Seiten angezogener Schnur an Futter heranzukommen?

Kooperationen

Primaten, insbesondere Schimpansen, kooperieren auf vielfältigste Weise. Das kann nur mittels eines Gefühls für Fairness gelingen. Gemeinsam jagende Schimpansen müssen erwarten können, dass die Beute auch so verteilt wird, dass jeder etwas abbekommt. Sonst lassen sie es schnell. Bekannt sind Experimente, die beweisen, dass Schimpansen es ablehnen, sich mit schlechterem Futter als Belohnung für eine erfolgreich durchgeführte Aufgabe zufrieden geben, wenn sie sehen, dass ihr Kompagnon besser entlohnt wird. Weniger bekannt ist, dass auch derjenige, der besser davonkommt, es irgendwann ablehnen wird, bevorteilt zu werden. Zu groß ist seine Angst, dass dadurch Disharmonie unter seinen Artgenossen aufkommen könnte.

Harmoniebedürfnis

Im Harmoniebedürfnis sieht Frans de Waal einen Hauptmotor eines funktionierenden Gruppenverhaltens bei den Primaten. Denn sie sind auf die Gruppe angewiesen, die aber auch das Verhalten jedes ihrer Mitglieder beobachtet und im Zweifelsfall sanktioniert. Man sieht, so frei von Zwängen ist ein Affenleben nicht. Und der Mensch? Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft wurden die menschlichen Gesellschaften immer größer und unübersichtlicher. An die Stelle der direkten Kontrolle trat das Mandat von oben. Diese Aufgabe übernahm die Religion. Mit bekannten Konsequenzen. Himmlische Belohnung und höllische Strafen sollten sie bei der Stange halten, selbst da, wo sie sich unbeobachtet glaubten. Sorge um den Nächsten steigerte sich im Christentum wie im Buddhismus zur lobenswerten und erstrebenswerten Selbstlosigkeit.

Dennoch ist die Geschichte der Religionen zweifelsohne eine Erfolgsgeschichte, darauf weist Frans de Wall hin: Es gibt keine Gesellschaft ohne sie. Wie es ohne sie wäre, davon haben wir keine Kenntnis, argumentiert Frans de Waal. Damit variiert er Voltaires berühmtes Bonmot auf Rousseaus Proklamation, der Mensch sei von Natur aus gut, dem der gewitzte Philosoph entgegnete, wie der Mensch von Natur aus sei, wissen wir nicht - wir begegneten ihm immer nur im Zustand der Kultur.

Allzu Wissenschaftsgläubigen erteilt Frans de Waal einen Dämpfer. Die Wissenschaft kann beschreiben, aber ebensowenig sagen, wie der Mensch sich verhalten solle, wie ein Restaurantkritiker, der urteilt, wie ein Ei schmecken solle, ein Ei legen könne. Wie schafft man also den Sprung vom „so ist es“ zum „so soll es sein!“, das berühmte Hume´sche Rasiermesser? Keine Sorge, so Frans de Waal, das tut die Natur schon von ganz allein. Moral hat sich von innen nach außen, vom Kern der tierischen und menschlichen Gefühle zum komplizierten Regelwerk entwickelt. Und diese Gefühle erfüllen ein Bedürfnis, dass es dem Nächsten, zunächst dem familien- und gruppenmäßig nächsten, gut geht, und entsprechen einer Abneigung, ihm Schaden zuzufügen. Ohne Sollen.

Darüber hinaus lassen sich eine Reihe von Verhaltensweisen bei Tieren beobachten, die sogar von regelrechter Aufopferung zeugen. Dem eigenen Genpool täten sie damit nichts Gutes. Auch nicht immer, wenn man die Hilfskonstruktion heranzieht, dass wenigstens die Gene der nächsten Verwandten in ihren Überlebenschancen davon einen Vorteil hätten. Aber wer sagt, dass alles, was vorkommt, einen Vorteil haben muss! Es reicht, dass insgesamt die Bilanz nicht allzu negativ ist. Und selbst, wenn es der evolutionäre Druck ist, der das sogenannte Gute erzeugt, bleibt es dennoch, was es ist, das Gute, bilanziert Frans de Waal.

Religion stimuliert das Gefühl und macht großzügig. Tests haben erwiesen, dass bloß die vorher gehörte Erwähnung von Wörtern aus dem religiösen Repertoire wie „Gott“ oder „himmlisch“ Menschen bereiter macht, weniger egoistisch zu teilen. Aber allein schon das Vernehmen von Wörtern wie „Gesetz“ oder „Richter“ zeitigt die gleiche Wirkung, ergab ein weiteres Experiment. Sie entstammen dem Vokabular der Zivilgesellschaft, eine relativ junge Errungenschaft der Menschheit. Frans de Waal, der, katholisch erzogen, bekennt, dass für ihn die Religion nie eine Rolle gespielt hat, ist zuversichtlich, dass irgendwann sie die Rolle der Religion übernehmen kann. Doch das braucht Zeit.

Angefangen hat diese Entwicklung immerhin schon in Zeiten Hieronymus Boschs. Auf dessen Bildern entdeckt Frans de Waal die Wonnen eines durchaus irdischen Glücks. Die berühmten Strafen erweisen sich ihm bei genauem Hinsehen dazu eher als Folgen eines Verhaltens, dem der Mensch sich selbst durch sein maßloses Tun aussetzt. Ja, sogar eine Bewunderung für das mannigfaltige Entstehen der unterschiedlichsten Lebensformen mag Frans de Waal in so mancher Bildecke der Meisterwerke seines Landsmanns entdecken, in denen es nur so kreucht und fleucht. Kurz, die vielleicht geahnte Vorwegnahme einer Idee der Evolution.

Simone Guski

Frans de Waal: “The Bonobo and the Atheist. In Search of Humanism Among the Primates“, Norton & Company New York, London 2013, 289 Seiten, Hardcover ab 16,83 Euro.