Schlüsselqualifikationen für die Zukunft

WIESBADEN. Der Unitariertag 2007, der vom 25. - 28. Mai 2007 stattfindet, steht unter dem Motto: „Zukunftsträume - Zukunftsängste".

Im Mittelpunkt dieses Themas stehen die Kinder.

Nach unitarischer Auffassung sollte der autonome Mensch seinen eigenen Sinn für sein Leben finden. Dazu ist Unabhängigkeit von Fremdbestimmung, Selbstständigkeit und der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, notwendig.

Einer der Referenten des Unitariertages ist der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Peter Struck, dessen Kernthesen hier vorab zu lesen sind.

 

 

 

Erziehung und Bildung in einer beschäftigungsärmer werdenden Gesellschaft: Schlüsselqualifikationen für die Zukunft unserer Kinder im Wirtschaftsstandort Deutschland.

Von Peter Struck

Immer häufiger beklagen Ausbildungsleiter - zumal von Großbetrieben, die im internationalen Wettbewerb bestehen müssen -, dass sie mit den Schulabschlusszeugnissen ihrer Bewerber nicht mehr viel anfangen könnten. Sie würden nur noch auf die Noten der Fächer Deutsch, Mathe, Englisch oder Physik gucken, und dann müssten sie zwei- oder dreitägige Aufnahmeprüfungen machen, um festzustellen, was die Bewerber an Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Erkundungskompetenz, Handlungskompetenz, Konfliktfähigkeit, Kreativität und Flexibilität drauf haben, die ja in Zeugnissen nicht vermerkt sind, auch weil in Abschlusszeugnissen keine Texte stehen dürfen. In einigen Bundesländern sind wie in Sachsen in den Abschlusszeugnissen vorausgehenden Zeugnissen „Kopfnoten" wie „Fleiß", „Ordnung", „Mitarbeit" und „Betragen" vermerkt oder wie im Saarland Kommentare zu „Benimm-Bausteinen", also zu Tugenden, die eher in frühere gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse passten als in einen internationalen bzw. „globalisierten" Wissenschafts-, Wirtschafts- und Kulturstandort des Jahres 2005.

Norwegen benotet „Höflichkeit" in den Schulen. Aber Höflichkeit, Benehmen, Fleiß, Ordnung und Betragen sind Begriffe, die mehr den Anpassungsgrad eines Untertanen in einem Obrigkeitsstaat widerspiegeln; sie stehen mehr für äußere Tugenden als für innere Werte bzw. innere Kompetenzen.

Wenn das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin nach dem deutschen „PISA-Schock" den Schulen vorwirft, sie würden mit dem heute immer noch vorherrschenden „fragend-entwickelnden Unterricht" eine „Osterhasenpädagogik" betreiben, mit der der Lehrer am Beginn der Stunde die Lernziele versteckt, die nun von allen Schülern im Gleichschritt voranschreitend gegen Ende der Stunde gefunden werden sollen, dann steht diese Methode für eine „Unterrichtsvollzugsanstalt", in der „Be-Lehrer" „Belehrte" mit unflexibel zur Verfügung stehendem Wissen vollzustopfen gedenken, das dann zwar abfragbar ist, aber in ungewohnt neuen Lebenssituationen nicht weiterführend eingesetzt werden kann.

Dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht nur einen unteren Mittelplatz bei Lesekompetenz, bei mathematischen und bei naturwissenschaftlichen Kompetenzen belegt, sondern dass zumal in Deutschland auch eine besonders starke Gruppe schwacher Schüler diagnostiziert wird, dass unsere 15-Jährigen, die man bei PISA vermessen hat, schulisch mehr oder weniger genau das widerspiegeln, was ihre familiäre Herkunft, nicht aber ihr IQ hergibt, und dass in Deutschland die Jungen deutlich schlechter abschneiden als die Mädchen, in Finnland, dem zweimaligen PISA-Weltmeister, und in Schweden, dem Sieger über alle 15 internationalen Studien der letzten 25 Jahre hinweg, in der Gesamtpopulation die Jungen aber ebenso gut sind wie die Mädchen, macht uns mittlerweile überdeutlich, dass wir das häusliche, schulische und betriebliche Lernen ganz anders organisieren müssen als bisher.

Nicht die Parteien, die Lehrerverbände, die Kirchen, die Kammern oder die einzelnen Bundesländer sagen uns mit ihren bisherigen ideologischen Präferenzen, wie wir Lernen organisieren müssen, sondern die Hirnforscher und die Lernpsychologen.

Die deutsche Schule war jahrhundertelang die reformfreudigste und die beste der Welt, denn sie war eine Halbtagsschule mit der nachmittäglichen Ergänzung der Hausaufgaben. Das gab ganz viel an Lernen: Vormittags wurde der Schüler in großen Gruppen belehrt, nachmittags musste er allein und selbstständig Probleme lösen, üben und anwenden. Wenn Deutschland bei PISA nach oben kommen will, muss also entweder der Anteil der Hausaufgaben verdoppelt werden, oder die Hausaufgaben müssen in eine Ganztagsschule, die ja international gesehen Standard ist, integriert werden.

Was die Entwicklung Richtung Ganztagsschule anbelangt, hat Deutschland mittlerweile mit dem Vier-Milliarden-Euro-Zuschuss vom Bund den „Fuß in der Tür". Aber ändern muss sich auf dem Weg in die internationale Wettbewerbsfähigkeit vor allem die Lernkultur. Und da können wir viel von Finnland und Schweden sowie Kanada im Sinne eines Paradigmenwechsels lernen. Neben einer ganz anderen Lehrerbildung, die nicht mehr länger nur Lehrer für Fächer und Schulformen, sondern auch Klassenlehrer schafft, die den Eltern bei der Erziehung zu helfen vermögen, brauchen wir auch die Umsetzung der Erkenntnisse von Hirnforschern und Lernpsychologen, die sich zu 15 Geboten des Lernens bündeln lassen:

  • Mit dem Lernen muss früher und ganz langsam begonnen werden, und das Tempo muss dann stärker als bisher gesteigert werden. Junge Menschen sollten mit fünf Jahren eingeschult werden und am Ende der Klasse 12 die Hochschulreife erwerben. „Auf den Anfang kommt es an" sagen die Skandinavier. Die besten Lehrer müssen in die Vorschule und in die ersten Klassen. Zur Zeit überfordern wir die Erst- und Zweitklässler, und ab Klasse 3 bis zum Abitur unterfordern wir.
  • Kinder lernen besser, wenn sie selbst lernen, als wenn man sie belehrt. Wir müssen also unsere Belehrungsanstalten zu Lernwerkstätten umbauen.
  • Kinder lernen besser durch Handeln und Sprechen als durch Zuhören, also müssen sie mehr über Materialien und über Reden als bislang lernen dürfen.
  • Wir brauchen eine andere Fehlerkultur beim Lernen. Die Art und Weise, wie Kinder lernen, ist die über Um- und Irrwege. Sie jahrelang mit roter Tinte, schlechten Noten, erhobenen Zeigefingern und bösen Gesichtern durch die Schule zu begleiten, ist also kontraproduktiv. Kleine Kinder lernen besser ohne Noten, ältere Jugendliche aber besser mit Noten. Wenn Schulanfänger zuerst lernen, sich selbst einschätzen zu können und ihre Gefühle angemessen zum Ausdruck zu bringen, brauchen sie noch keine Noten.
  • Zu zweit ein Problem zu lösen gibt mehr an Lernen als allein, zu viert oder zu 27. Die Partnerarbeit ist also der Einzelarbeit, der Kleingruppenarbeit und der Arbeit im Klassenverband überlegen (von vielen Ausnahmen abgesehen).
  • Was Schüler lernen sollen, lernen sie vor allem dadurch, dass sie es anderen zu erklären haben.
  • Kinder lernen mehr von Gleich- oder Ähnlichaltrigen als von noch so guten Erwachsenen.
  • Kinder lernen in jahrgangsübergreifenden Lernfamilien mehr als bei Unterbringung nach Geburtsjahrgängen.
  • Erst muss der Lehrer Respekt vor dem Kind haben, dann erhält er von ihm Respekt zurück.
  • Kinder brauchen viel Resonanz beim Lernen, und zwar auch von Mitschülern und Eltern, nicht nur in Form einer roten Drei vom Lehrer.
  • Was Kinder lernen sollen, müssen sie häufig üben und anwenden können. Die Lehrpläne müssen also so dünn wie in Finnland oder in den Niederlanden werden, damit Zeit für Üben und Anwenden gewonnen wird.
  • Lernen braucht Zeit, deshalb reichen Halbtagsschulen für unsere komplexe, komplizierte und immer wissensstärkere Welt nicht mehr.
  • Lehrer sind effizienter und sie halten besser und länger durch, wenn sie nicht mehr Be-Lehrer, sondern Lernberater oder Coaches sind.
  • Einsame Lehrer bringen nicht so viel zustande wie Lehrer im Team. Wenn zwei Lehrkräfte zusammen zwei Klassen führen oder eine Gruppe von Lehrern eine Klassenstufe und wenn Lehrer wie in Skandinavien 35 Zeitstunden in der Schule verbringen, von denen nur ein Teil Unterricht ist, dann ist damit auch kostenlose Supervision und Lehrerfortbildung verbunden.
  • Gelassene Lehrer erreichen mehr als strenge oder gestresste.
  • Portfolios, in denen Schüler über Jahre ihre Werke, ihre Selbsteinschätzungen und die Resonanz ihrer Mitschüler, Eltern und Lehrer sammeln, sind ergiebiger als bloße Notenzeugnisse.
  • Klassen müssen zu Lernfamilien mit Werkstattcharakter gewandelt werden und Schulen zu Lerndörfern, die Lebensmittelpunkte der jungen Menschen sind, was Halbtagsschulen nie sein können.
  • Neben Fachlehrern, die Fächer beherrschen, brauchen Schulen zunehmend Klassenlehrer, die auch etwas von Ernährung, Bewegung, Spiel, Verhaltens- und Lernstörungen, Gewalt- und Suchtprävention, Medienerziehung und Elternschaft lernen im Sinne einer zugehenden Pädagogik verstehen, zumal da mittlerweile etwa 30 Prozent der deutschen Eltern Angst vor Erziehung haben und etwa 60 Prozent der deutschen Kinder nicht mehr hinlänglich erzogen in die Schule kommen. Die altbewährte Arbeitsteilung, mit der die Familie erzieht und die Schule bildet, funktioniert bei immer mehr Kindern nicht mehr, so dass die Schule ihren klassischen Bildungsauftrag mit einem breiteren erzieherischen Rahmen anreichern muss. In dem Maße, wie sie auch langfristig nicht wird die Erziehung des Elternhauses übernehmen können, nicht wird Reparaturbetrieb der Gesellschaft wird werden dürfen, muss sie gegenläufig wenigstens den Eltern bei der Erziehung zu helfen vermögen, damit ihre Bildung gelingt.

Würde man Schule in diesem Sinne organisieren, könnten auch die Jungen wieder mit den Mädchen Schritt halten.

Schlüsselqualifikationen

1. Selbstständigkeit
2. Team- bzw. Kooperationsfähigkeit
3. Erkundungskompetenz
4. Handlungskompetenz
5. Konfliktfähigkeit
6. Kreativität/Musische Kompetenzen
7. Flexibilität
8. Toleranz
9. Fähigkeit zum vernetzenden Denken
10. Kommunikationsfähigkeit
11. Emotionale Kompetenzen