Seit Mai 2014 gibt es die Kampagne "My Stealthy Freedom". Zunächst als Facebookseite veröffentlichte sie Bilder von Frauen, die sich ohne den obligatorischen Schleier zeigten. Sie wurde zur bedeutendsten Bewegung des zivilen Ungehorsams, um sich gegen die Hijab-Gesetze der Islamischen Republik aufzulehnen.
Seit der Gründung der Islamischen Republik Iran werden Frauen dort tagtäglich für ihren Widerstand gegen den Zwangsschleier gedemütigt, beschimpft, körperlich und seelisch misshandelt, mit Geldstrafen belegt, verhaftet, inhaftiert – oder sogar getötet. Dieser Widerstand war anfangs unorganisiert. Die Glieder dieser Protestbewegung, die sich bereits am 8. März 1979 – dem Internationalen Frauentag – formierten, verbanden sich zunächst in privaten Lesekreisen und bei heimlichen Zusammenkünften. Später traten sie mit öffentlichen Veranstaltungen, Vortragsreihen und Initiativen wie der Kampagne "Eine Million Unterschriften gegen diskriminierende Gesetze" an die Öffentlichkeit – und schließlich mit den mutigen Stimmen der Aktivisten der jüngeren Generation mit der Kampagne "My Stealthy Freedom".
In den vergangenen 47 Jahren verrutschten Tag für Tag Schleier – in Schulen, am Arbeitsplatz, auf Feiern, in Parks oder im Auto. Haare wurden sichtbar, wenn auch schleichend und im Verborgenen. Frauen riskierten bei dieser Kampagne ihre körperliche Unversehrtheit, ihre psychische Geborgenheit und ihre wirtschaftliche Existenz – ebenso wie die ihrer Familien. Sie gaben diesem weitverbreiteten, individuellen Protest endlich Gesicht und Stimme. Dabei machten sie zwei Dinge unmissverständlich klar:
Erstens: Sie sind nicht allein.
Zweitens: Ihre scheinbar vereinzelten Handlungen formen ein kollektives Aufbegehren.
Darin liegt die Stärke jeder widerständigen Bewegung unter autoritären Regimen – weil diese Regime jede Form der Organisation gezielt unterdrücken.
Junge Aktivistinnen der Kampagnen "My Stealthy Freedom", "Weiße Mittwoche" und "Meine Kamera ist meine Waffe" nutzten moderne Technologien und Soziale Netzwerke, um generationsübergreifende Verbindungen zu schaffen und dem Protest Dynamik und Kontinuität zu verleihen.
Wo der Schleier fällt, beginnt die Freiheit
Lange wurde behauptet, der Schleier sei kein zentrales Problem – insbesondere nicht für Frauen mit existenziellen Sorgen. Doch ob Professorin oder Fabrikarbeiterin: Die Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln, ist grundlegend. Sie ist der Schlüssel zur selbstbestimmten Entscheidung über Bildung, Beruf, Wohnort, Reisen, Scheidung und ökonomische Unabhängigkeit. Der Kampf gegen den Zwangsschleier ist daher kein Randthema – sondern ein essentieller Kampf um Selbstbestimmung von Frauen in islamischen Kulturkreisen weltweit.
In vielen dieser Gesellschaften werden Mädchen schon im Elternhaus zur Gehorsamkeit erzogen. Ab dem siebten Lebensjahr – mit dem Schuleintritt – beginnt in islamischen Autokratien die staatliche Disziplinierung: Das "Nein-Sagen" wird systematisch abtrainiert, und Erniedrigung wird zur Normalität. Selbst wenn Frauen später Zugang zu höherer Bildung erhalten, fällt es vielen schwer, ihre Rechte einzufordern – zu tief sitzen Angst, Scham und internalisierte Unterwerfung.
Der Zwangsschleier ist eine zentrale Macht- und Kontrollpraxis islamistischer Ideologie. Jeder Riss in dieser Fassade ist zugleich ein Riss im gesamten autoritär-theokratischen System. Er zertrümmert das Schaufenster einer "gehorsamen islamischen Gesellschaft" weit über die Grenzen Irans hinaus. Der Kampf gegen den Schleier ist ein Kampf gegen häusliche wie gesellschaftliche Tyrannei – und für Freiheit. Freiheit wiederum ebnet den Weg zu Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Bürgerrechten, Brot und Obdach.
Wenn Frauen – im vollen Bewusstsein der Gefahr – ohne Hijab auf die Straße gehen, um ihr Recht auf freie Kleidungswahl einzufordern, warum sollten sie dafür kritisiert werden – nur weil andere Frauen vielleicht andere Prioritäten haben? Wer behauptet, es gäbe "wichtigere Probleme als den Schleier", verkennt die Tiefe des gesellschaftlichen Kampfes. Gesellschaftlicher Wandel ist kein mechanischer, linearer Prozess – die Kämpfe sind miteinander verflochten. Die Freiheit, über den eigenen Körper und das eigene Erscheinungsbild zu bestimmen, ist direkt verbunden mit Meinungsfreiheit – und mit allen anderen Grundrechten.
Diskursverschiebung zu Islamistens Gnaden
Ein tiefgreifender Effekt der Kampagnen zeigt sich auch in der iranischen Diaspora. Durch einige Schlüsselereignisse gelangten Islamismus-verharmlosende Theorien der postmodernen Wissenschaft in westliche Diskurse: Prägend waren die Präsidentschaft Mohammad Khatamis (1997–2005), der unter dem Deckmantel des "Dialogs der Kulturen" den Hijab als kulturelles Symbol iranischer Identität verkaufen wollte, sowie die weltpolitischen Umbrüche nach 9/11, die westlichen Kriege gegen Terrorgruppen in Afghanistan (Taliban als Unterstützer Bin Ladens und Al-Qaidas) und gegen die Tyrannei Saddam Husseins im Irak. All dies führte zu einer Moralisierung der Kritik am Islam – als "Religion der Unterdrückten" – und stellte iranische Frauen in der Diaspora vor neue Hindernisse. Der Hijab avancierte zum authentischen Ausdruck einer Minderheiten-Kultur. Kritik an diskriminierenden islamischen Gesetzen, an patriarchalen Strukturen und menschenrechtswidrigen Normen oder dem Zwangsschleier – selbst bei Kindern in muslimischen Communitys im Westen – wurde rasch mit "Islamophobie" oder "Rassismus" etikettiert.
Iranische, afghanische und andere Frauen aus migrantischen Gemeinschaften in der Diaspora, die islamkritische Positionen vertraten, sahen sich plötzlich auch im Westen mit Zensur und Ausschluss konfrontiert. Die Argumentationsweise der sogenannten "Reformisten " im Iran – die demokratische Forderungen im Namen des "Widerstands gegen ausländische Feinde" wie die USA unterdrückten – fand auch in europäischen und nordamerikanischen Diskursen ihren Widerhall. Frauen, die über patriarchale Gewalt in muslimischen Communitys sprachen, wurde das Wort entzogen.
Ein persönliches Beispiel: Bei einer Veranstaltung einer parteinahen Stiftung von Bündnis 90/Die Grünen sprach ich aus dem Publikum über sexuelle Belästigung von Frauen im öffentlichen Raum islamischer Gesellschaften. Plötzlich wurde mir das Mikrofon abgestellt. Der Moderator verwies stattdessen auf eine Studie, laut der Finnland die höchste Rate sexueller Belästigung aufweise. Ich erhielt keine Gelegenheit zu erwidern, dass es in islamisch geprägten Gesellschaften kaum verlässliche Daten gibt – weil Frauen aus Angst vor männlichen Familienangehörigen, wegen Scham oder aus Angst vor dem Ausschluss aus ihrer Gemeinschaft schweigen. Und dass es für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Tabuthemen keine Fördermittel gibt. Forschende, die sich mit solchen Themen beschäftigen möchten, riskieren den Vorwurf der Islamophobie – und meiden sie daher.
Als schließlich Bilder und Videos mutiger iranischer Frauen, die ihre Sicherheit riskierten, um für ihre Freiheit einzutreten, weltweit über Soziale Netzwerke verbreitet wurden, erhielt auch die Diaspora neuen Auftrieb. Kleine Bäche verbanden sich zu reißenden Strömen – und wurden zum Alptraum der Islamischen Republik.
Fällt der Schleier, fällt das Regime
Drei Wochen nach der mutmaßlichen Ermordung von Mahsa Amini und dem Beginn des "Frau.Leben.Freiheit."-Aufstands, durchbrach Ali Khamenei, der Oberste Führer, sein Schweigen auf einer Militärveranstaltung. Verärgert sagte er: "Wenn ein amerikanischer Akteur (damit gemeint war das Gesicht hinter "My Stealthy Freedom", Masih Alinejad, Anm. d. A.) diese Ereignisse mit der Berliner Mauer vergleicht, sollte euch das zu denken geben. Und falls ihr es bisher nicht verstanden habt – versteht es jetzt und bezieht klar Stellung."
Auch Erich Honecker, letzter Staatschef der DDR, sagte am 19. Januar 1989: "Die Mauer wird so lange bestehen, wie die Gründe für ihre Errichtung bestehen. Sie wird in 50 oder 100 Jahren noch stehen."
Doch nur wenige Monate später fiel die Mauer. Erst als nicht mehr Einzelne, sondern Massen sie überwanden, fiel das System – trotz schreckender Geheimpolizei, Grenzschutz und Militär.
So ist es auch heute im Iran: Jeder sichtbare Riss in der Mauer der islamischen Kopfbedeckung ist ein Schritt auf dem Weg zur Freiheit. Fällt der Schleier, fällt das Regime.
1 Kommentar
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Im Zuge der weltweiten "Entreligionisierung" sollten auch die Muslimischen Länder den Zwang der Religionen aufgeben und den Menschen Freiheit ermöglichen aus dem Joch der Unterdrückung, welcher besonders in
Lasst nicht nach dies zu fordern, auch die christlichen Menschen sehnen sich nach Freiheit
von der überflüssigen Last der Religion, welche nur Unfrieden stiftet, wie man aus der Geschichte der Menschheit erfahren hat, die reale Vernunft muss sich auf Dauer durchsetzen.