Im Buch "Deutschland ohne Dach. Die neue Obdachlosigkeit" wird in 18 persönlichen Lebensgeschichten deutlich, warum gegenwärtig immer mehr Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten "auf der Platte" landen. Und es bietet Lösungskonzepte.
Zehntausende Menschen sind obdachlos, Hunderttausende ohne eigene Wohnung. Und es werden immer mehr statt weniger. Das Statistische Bundesamt hat in Vorgriff auf den nächsten "Wohnungslosenbericht" der Bundesregierung, der 2024 erscheint, bereits am 2. August 2023 in einer Pressemitteilung bekanntgegeben, dass "die Zahl der Wohnungslosen seit dem letzten Bericht rapide angestiegen ist. Das hat zum erheblichen Teil mit dem Krieg in der Ukraine zu tun, von den hier Geflüchteten sind 130.000 Menschen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe untergebracht." Die Herausgeber des Buches warnen jedoch davor, die Problematik als ein hausgemachtes Problem mit Verweis auf die derzeit hohe Zahl ausländischer Geflüchteter kleinzureden. "Kündigungen, Mietschulden, Erkrankungen oder häusliche Gewalt sind wichtige Auslöser von Wohnungslosigkeit."
Die meisten Wohnungslosen nimmt man in der Öffentlichkeit jedoch nicht wahr, denn sie retten sich in ihrer prekären Situation meist in Abbruchhäuser, Lager oder sonstige fragwürdige Behausungen. "Wirklich sichtbar sind nur die Wohnungslosen, die selbst ein solches Dach nicht mehr über ihrem Kopf haben. Es sind die ohne Obdach, die Obdach-Losen, die uns auffallen, die uns ins Auge fallen." Mit 50.000 wird die Zahl dieser Existenzen ohne jegliche Behausung beziffert, das entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Städten wie Hennef, Bruchsal oder Wismar.
"Es braucht einen Politikwechsel, der nur gemeinsam erkämpft werden kann. Es geht um ein Menschenrecht, ohne dessen Realisierung eine Gesellschaft unglaubwürdig wird und verkümmert, will sie sozial genannt werden", schreibt Günther Wallraff im Vorwort zum Buch. Er ist einer, der es wissen muss, hat er sich doch für Recherchen zum Thema für seine Reportage "Unter Null" selbst eine Zeit lang unter diejenigen begeben, die auf der Straße leben. Bei seiner Recherche stieß er auch auf die Website https://ohnewohnung-wasnun.blogspot.com, die mit über 900 Adressen von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe Hilfe zur Selbsthilfe für mittellose Wohnungslose und Obdachlose deutschlandweit anbietet. Und er lernte so den Herausgeber der Seite Richard Brox kennen, der auch Herausgeber des vorliegenden Buchs ist. Brox lebte selbst 30 Jahre lang auf der Straße und schrieb darüber mit der Hilfe des Journalisten Albrecht Kieser das Buch "Kein Dach über dem Leben", das ein Spiegel-Bestseller wurde. Im Interview mit dem Bochumer Stadt-Anzeiger (16.12.2023) skizziert Brox die derzeitige Situation:
"Seit den 1950er Jahren habe ich nicht mehr so viele Obdachlose auf der Straße gesehen wie heute. In Essen, Duisburg, Dortmund und Köln ist die Lage besonders dramatisch. Es gibt zehntausende Tagelöhner und Saisonarbeiter ohne Pass, die obdachlos geworden sind. Die tauchen in keiner Statistik auf. Es ist eine Schande und niemand soll sagen, wir seien sozial in diesem Land. Wenn wir nichts ändern, sterben uns die Menschen unter den Händen weg. Wohnungslosen- und Suchthilfe sind total überfordert, da wurden Stellen gestrichen und gespart. Jeder Mensch hat das Recht auf Schutz und Würde. Aber wir helfen ihnen nicht."
Richard Brox hat das Buch gemeinsam mit dem Journalisten Albrecht Kieser und der Autorin Sylvia Rizvi konzipiert und herausgegeben; jeder von ihnen hat Obdachlose, Wohnungslose und ehemalige Obdachlose interviewt. Herausgekommen ist ein Querschnitt durch die deutsche Gesellschaft; von einer slowakischen Roma-Familie über eine Transfrau, einen afrikanischen Flüchtling, einen ehemaligen Firmeninhaber, einen Deutschland-Rückkehrer, einen ehemaligen Biologielehrer, einen weltreisenden Radfahrer, eine Selbsthilfeaktivistin für obdachlose Frauen und zahlreiche andere. Sie alle erzählen sachlich und ohne Larmoyanz die Geschichte ihrer Biographie der Wohnungs- und Obdachlosigkeit, den Überlebenskampf auf der Straße und manchmal ihren Neuanfang mit Dach über dem Kopf. Außerdem entwickeln einige von ihnen persönliche Ideen und Konzepte zur Überwindung der aktuellen Entwicklung in Richtung noch höherer Wohnungs- und Obdachlosigkeit.
Das mag naiv klingen, jedoch genügt ein Blick über den deutschen Tellerrand nach Norden. Während Deutschland sich nämlich nicht einmal dazu durchringen kann, das Menschenrecht auf Wohnen in den Katalog seiner Grundrechte aufzunehmen, sind andere Länder in dem Bereich wesentlich fortschrittlicher, "etwa Finnland, wo das Prinzip 'Housing first' das Wohnrecht fast für alle garantiert", so Günther Wallraff.
Wer bisher dachte, mit dem vorhandenen Sozialsystem der Notschlafstellen sei das Problem doch gelöst, der bekommt eine Nachhilfestunde in den Realitäten dieser Einrichtungen, die aufgrund mieser finanzieller und personeller Ausstattung oft am Limit und weit darüber hinaus arbeiten und somit zwar einen Schutz vor Wind und Wetter bieten, ansonsten aber keinen Schutz, sei es vor Beraubung, tätlichen Angriffen oder gar sexuellen Übergriffen.
Unter https://bundesverband-housingfirst.de kann man sich über den aktuellen Stand der Aktivitäten von Initiativen und Trägern, die in Deutschland Housing-First-Pilot- und Modellprojekte durchführen, informieren. Der Seitenbetreiber, der Bundesverband Housing First e.V., macht dafür Lobbyarbeit und unterstützt Kommunen und andere Interessierte, Housing First nach dem finnischen Modell einzuführen oder weiterzuentwickeln.
Im abschließenden Kapitel "Armut und Obdachlosigkeit überwinden" bringt Richard Brox das zielführende Prinzip einfach auf den Punkt:
"Man gebe den Obdachlosen zur Behebung ihrer Obdachlosigkeit zuerst eine Wohnung. Bei Bedarf auch gerne mit einer begleitenden Sozialbetreuung. Nicht als Zwangsmaßnahme, sondern freiwillig abrufbar. Dort lässt man die Menschen ankommen und gibt ihnen die notwendige Zeit, sich an das neue Leben zu gewöhnen. Bei Handlungsbedarf stehen ihnen soziale Fachdienste oder anderweitig erfahrene und geschulte Helfer*innen zur Seite. Nicht als Zwangsmaßnahme, sondern freiwillig abrufbar. Am Ende dieses Prozesses haben wir voneinander gelernt und haben einen Menschen retten können."
Richard Brox geht noch weiter. Er schlägt vor, das Recht auf Wohnraum, Ausbildung und Arbeit in allen Landesverfassungen und im Grundgesetz festzuschreiben: "Das Recht auf Wohnraum ist für alle Menschen in diesem Lande zu gewährleisten. Das Recht auf Arbeit und Ausbildung wird verbrieft."
Das erfordert ein komplettes Umdenken in der staatlichen Sozialpolitik, Wohnungsbaupolitik und Arbeitsmarktpolitik. Damit holte Deutschland nur das nach, was Länder wie Finnland bereits umgesetzt haben.
Ein Text ist gut, wenn er aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstand, schrieb einst Rainer Maria Rilke. "Deutschland ohne Dach. Die neue Obdachlosigkeit" ist so ein Text. Wenn Sie ihn gelesen haben, werden Sie die Obdachlosen, die ihnen auf der Straße begegnen, anders wahrnehmen als bisher. Obdachlosigkeit ist ein gesellschaftliches Problem. Um es zu verstehen, sollten sie sich mit dem Schicksal der 18 Protagonisten des Buchs und ihren individuellen Schicksalen vertraut machen. Dann wird klar, weshalb Housing first mehr ist als nur ein Schlagwort. Es ist der erste Schritt in eine zukunftsgerichtete, soziale Gesellschaft, in der Obdachlosigkeit der Vergangenheit angehört.
Der Herausgeber Richard Brox hat sich die Rückkehr aus der Obdachlosigkeit in ein Leben mit Dach mühevoll erkämpft. Neben seinem Blog begleitet er ehrenamtlich schwerkranke Obdachlose - in inzwischen deutschlandweit etwa 100 Kliniken ist seine Telefonnummer in den jeweiligen Sozialstationen zu diesem Zweck erfasst. Doch damit nicht genug: "Mein nächstes Ziel ist die Gründung eines Hospizes für Obdachlose. Darüber hinaus bin ich als Berater bei vielen Einrichtungen tätig. Es gibt jeden Tag einen neuen Grund aufzustehen." Ein bemerkenswertes Engagement.
Uneingeschränkte Leseempfehlung!
Rowohlt, Hamburg 2023, 288 Seiten, Broschur 13,00 Euro (D) / 13,40 Euro (A). ISBN 978-3-499-01140-5