In ihrem neuen Buch "Meine Reise ins Übermorgenland. Allein unterwegs von Jordanien bis nach Oman" breitet die Autorin Nadine Pungs ein dreidimensionales Mosaik der arabischen Halbinsel aus, real, gegenwärtig und in Myriaden von Nuancierungen schillernd. Das Buch ist das Projekt einer säkularen Kulturbotschafterin, die das Schreiben über ihre Reisen als Weltaufklärung im besten humanistischen Sinn begreift.
Nadine Pungs studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Auf der Suche nach Intensität und Schönheit zieht es sie immer wieder in die Welt. Sie engagiert sich als Aktivistin beim Düsseldorfer Aufklärungsdienst für freiheitliche Werte, Säkularisierung und Vernunft. Sie erläutert: "Der Humanismus kann das Positive im Menschen in den Mittelpunkt rücken und mittels Philosophie, Kunst, Literatur und Wissenschaft fördern."
Im Kontext der Aufklärung stehen auch ihre Reiseerzählungen. Allein und mit Neugier im Gepäck macht sie sich Ende 2018 erneut auf den Weg und erkundet die Arabische Halbinsel von Jordanien über Kuwait, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Oman bis an die Grenze des Jemen. Sie reitet mit Beduinen durch die Wüste, übernachtet in Zelten und Wolkenkratzern, spricht mit Gastarbeitern und Geflüchteten. Sie trifft einen Scheich und hat eine Audienz mit einer Prinzessin.
Nadine Pungs schreibt über ihr Orientbild vor Reiseantritt:
"Der Orient ist meine Blaue Blume, ein aufgeklapptes Märchenbuch. Meine Erinnerung an jene Fremde nährt sich aus Gemälden, die im Louvre hängen, aus Geschichtsbüchern und aus den Erzählungen literarischer Reisender. Meine Erinnerung nährt sich aus Klischees."
So macht sie sich auf den Weg, um die Wahrheit über den Orient herauszufinden. Sie begibt sich auf die Suche nach Antworten über das heutige Arabien, die sie wieder zu neuen Fragen führen werden. "Meine Reise ins Übermorgenland" ist das Projekt einer säkularen Kulturbotschafterin, die das Schreiben über ihre Reisen als Weltaufklärung im besten humanistischen Sinn begreift.
Nadine Pungs besucht Sehenswürdigkeiten, streift durch die Souqs nahe ihrer Hotels, macht Bekanntschaften und beschreibt in poetischen-filigranen Szenen das Leben, wie es auf der Straße stattfindet. Zwischendurch flicht sie historische Erläuterungen zu den von ihr besuchten Orten ein. Ihre Bekanntschaften sind Taxifahrer, Concierges, Souvenirverkäufer, sie lernt Leute auf der Straße kennen und erhält so Einblicke in die gesellschaftlichen Realitäten.
Den Start in ein neues Land macht jeweils eine Skizze der gesellschaftlichen Situation mit Zahlen, Daten, Fakten und einer Einordnung im Verhältnis zu den Nachbarstaaten. So wird beispielsweise Jordaniens politisch heikle Lage zwischen Palästina, Israel, Syrien, Irak und Saudi-Arabien für den Leser plausibel.
Expats-Problematik, Kafala-System und Generation Golf 2.0
Bei ihrer Ankunft in Kuwait Downtown wird die Autorin zufällig von zwei Expats (Gastarbeitern) aufgegabelt und zuerst nach Downtown gefahren. Anschließend führen die beiden sie durch die Megalopolis. Durch das hilfsbereite Paar findet eine erste Annäherung der Autorin mit einem der gesellschaftlichen Hauptthemen – der Expats-Problematik – statt.
Das Kapitel "Die drei von der Tankstelle" stellt die schwarze Goldklasse der privilegierten Expats vor. Anschließend geht es nahtlos über zur generellen Expats-Problematik und tief in die Thematik hinein: Pungs skizziert das Kafala-System, bei dem der Arbeitgeber für den Gastarbeiter bürgt und so dessen Aufenthaltsstatus gewährleistet, der Arbeitnehmer damit aber im Gegenzug seinen Pass an den Arbeitgeber abgeben muss und quasi rechtlos wird. Die Autorin erörtert, auf was für einer inhumanen Haltung das Kafala-System gebaut ist.
Das fehlende Gespür der bürgerlichen Bevölkerung für die Universalität der Menschenrechte und den Arbeitnehmerschutz findet die Autorin in allen von ihr bereisten Ländern.
Insbesondere in Bahrain lernt Pungs durch ihre Gastgeberin Sara das Leben und Nachtleben der Generation Golf 2.0 zwischen Party, Pillen und Pot kennen sowie deren Probleme, einen eigenen Weg zwischen Tradition und Moderne zu finden.
Politische Landkarte Arabiens
Die Autorin skizziert das politische Verhältnis der Länder zu ihren Nachbarländern, präsentiert Informationen zu den verschiedenen Koalitionen und skizziert die historischen Entwicklungen und Konflikte, die zur heutigen Situation geführt haben. So ergibt sich aus dem Flickenteppich sukzessive ein schlüssiges Gesamtbild der politischen Landkarte Arabiens.
Historie wird immer dann von der Autorin eingeflochten, wenn sie geschichtsträchtige Orte verhandelt. Damit stellt sie den Kontext zwischen Geschichte und Gegenwart her.
Neben ihrer soziokulturellen Sensibilität für gesellschaftliche Verhältnisse und dem historisch-analytischen Blick ist ihre kommunikative Art mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen wichtig für das Gelingen ihres Projekts: Sie erfährt zahlreiche wichtige Details über die Expats-Situation durch Taxifahrer, Concierges oder ihre Busnachbarn.
Interviews mit dem Großherzog Mamdouh Bisharat, der Kriminologin Daniya und Prinzessin Madja Ra’ad liefern Informationen über gesellschaftliches Engagement wichtiger Persönlichkeiten.
Die politisch-gesellschaftlichen Analysen fokussieren teilweise profunde recherchierte Hintergrundaspekte und schaffen Distanz. Den Interviews merkt man die journalistische Professionalität in den Fragestellungen an. Das politische Engagement der Autorin kommt emotional in den Passagen über das Kafala-System zum Tragen. Filigran sind ihre anschaulich-poetischen Straßenbeschreibungen. Der literarische Stil oszilliert gekonnt zwischen diesen Feldern.
Pungs beschreibt eine schillernde und vielfältige Region mit interessanten Menschen, Orten, Geschichte und Problemen in einem Vielvölkergebiet, das in Zukunft menschlich funktionieren kann, sofern die einheimische Bevölkerung lernt, die Expats, die als Gastarbeiter das Dienstleistungssystem mittragen, als Menschen mit gleichen Rechten zu akzeptieren. Wie wenig das heutige Arabien mit unseren Klischees zu tun hat, macht die Autorin deutlich, indem sie die heutigen Alltagsrealitäten schildert und analysiert.
Die Darstellung des Islam ist ausdifferenziert und dabei von unaufgeregter Tonalität: "Gestern war der Geburtstag des Propheten Mohammed, heute ist Weltfernsehtag. Auf Glaube folgt Glotze."
Frauenbild
Im Kapitel "Gestern und übermorgen" geht sie kritisch auf die Gashwa als strengste Form der Verhüllung ein "Die Frau wird zu einem körperlosen und gesichtslosen Schatten." Dieses Urteil relativiert sich, als sie später am Beispiel der Menschenrechtsaktivistin Tawakkol Kaman erläutert, dass Verschleierung und der aufgeklärte Kampf für Menschenrechte sich nicht grundsätzlich ausschließen müssen.
Im Oman beschreibt sie die Ibadisten als demokratische, wertkonservative, tolerante und dabei pragmatische Richtung des Islam, die dem klassischen Islam mehr entspricht als die orthodoxe Linie. Im Diskurs über den Niqab und seinen soziokulturellen Hintergrund kommt sie an den Punkt, der westlichen Meinung, die im Niqab die Unterjochung durch eine religiöse Vorschrift sieht, vehement zu widersprechen.
Beim Lesen fällt auf, dass es unter Pungs Bekanntschaften keine arabische Frau gibt, die auf ihre persönliche Art und Weise nicht stark wäre. Im Kapitel "Alles anders" stellt sie dann als Reisende direkt die eigene Kultur infrage und kommt zu dem Schluss, dass die tatsächliche Welt der Frauen in Arabien zwischen Protektion und Paternalismus oszilliert. Über diese Portraits starker und selbstbewusster arabischer Frauen zeichnet die Autorin das Bild einer selbstbewussten weiblichen Generation, die ihren eigenen Weg gehen wird.
Kuwait als Beispiel für die politische Aufladung
Das Kapitel beginnt mit dem Überfall des Irak auf Kuwait 1990 in der persönlichen Erinnerung der Autorin als damals neunjähriges Mädchen. Einen Ausflug mit ihrer Bekannten Leyla auf den Highway 80 nutzt Pungs für einen historischen Abriss des Kuwait-Krieges, der mit der Fahrt nach Al Qurain zur Gedenkstätte im Haus der Widerständler seinen Höhepunkt findet: Damit kehrt sie an den Anfang ihrer Erzählung zum Kuwait-Krieg zurück, diesmal aus der Perspektive der erwachsenen Reisenden vor Ort. Das ist einmal literarisch sehr gekonnt. Es ist deshalb politisch wichtig, weil damals nur zensierte Bilder gesendet wurden, man bekam von den tatsächlichen Wunden im Land nichts mit. Es geht Kuwait seit der Befreiung durch die "Koalition der Willigen" seitdem wieder besser, der Staat prosperiert. Pungs liefert die ungeschönte Wahrheit über Highway of Death, Al Qurain, Kuwait-Krieg und jene Wunden, die davon heute noch sicht- und spürbar sind.
Vom Morgenland zum Übermorgenland
Die Autorin hat einige interessante Araber kennengelernt, Arbeiter, Beduinen, Scheichs und Gastarbeiter, die zwischen Traditionsbewusstsein und Moderne oszillieren. Sie hat in Bahrain eine sehr junge Generation kennengelernt, die auf der Suche nach einer neuen Identität ist und daher von einer gewissen Ziellosigkeit getrieben wird, was in Zeiten kultureller und religiöser Umbrüche dazugehört. Genau diese wird die Zukunft Arabiens bauen. Eine Generation, die überkommene Traditionen nicht mehr unhinterfragt übernimmt, die sich ihrer beduinischen Herkunft und Traditionen sowie ihrer Religion sehr wohl bewusst ist, aber den Jeep dem Kamel vorzieht und die über das Internet so global integriert ist, dass es für sie gar keinen Grund gibt, sich abzuschotten, sondern die selbstverständlich an der modernen Gegenwart teilhat.
"Nicht nur der Westen erschafft sich seinen Orient. Der Orient wird auch vom Orient konstruiert. Aber ist nicht genau dieses Schauspiel wahrhaftig? Eine authentische Inszenierung nennt Ilija Trojanow solcherart Gaukelei. Und daher ist der Souq echt. Er ist ein Abbild unserer Wirklichkeit. (…)
Die arabische Realität verzeichnet jedoch Risse und die Gesellschaften hangeln sich zwischen Übergängen und Umbrüchen entlang. Mit pittoresker Rückständigkeit hat das nichts zu tun, im Gegenteil. Manche Touristen mögen vielleicht enttäuscht sein, wenn sie feststellen, dass die Bedu iPhones benutzen und statt Ziegen Instagram füttern. (…) Auch ich glaubte, dass ich mir Wadi Rum nur 'klassisch' auf dem Rücken eines Höckerträgers erarbeiten könne und nicht im klimatisierten Land Rover. Dabei übersah ich, dass kein Bedu heute mehr auf Kamelen unterwegs ist."
Im Vergleich zu ihrem Debüt hat Nadine Pungs einen Quantensprung gemacht, sie schreibt stilistisch noch präziser und beschreibt direkter. Die Tatsache, dass sie diesmal mehrere Länder bereist, zwingt sie zur Komprimierung. Das wirkt sich auf den sprachlichen Rhythmus und Überblendungstechnik aus. Viele Szenen faden ins Nichts. Die Autorin überlässt es dem Leser, selbst den Schluss eines Ausflugs oder Tages für sich zu beenden. Wichtigster politischer Topos ist die ausdifferenzierte, präzise gesellschaftlich-religiöse Analyse der bereisten Länder.
"Meine Reise ins Übermorgenland. Allein unterwegs von Jordanien bis Oman" ist ein "Kursbuch Arabien" mit der Geschichte Arabiens, der politischen Landkarte, den politischen und gesellschaftlichen Systemen, den verschiedenen Religionen und unterschiedlichen Richtungen des Islam sowie der gesellschaftlichen Expat-Problematik, die durch das Kafala-System entrechtet und unterdrückt werden.
Das Buch ist umso mehr eine großartige Reiseerzählung, in der das literarische Talent der Autorin besonders in den Beschreibungen von Straßenszenen zum Leuchten kommt:
"Ich wohne downtown, im alten Amman, das sich so zeigt wie etliche orientalische Metropolen. Laut, fiebrig. Ich streune umher, durch eine Innenstadt, die aus allen Nähten platzt und trotzdem vorwärts wuchert. Die Autos fließen zäh wie Sirup, Menschen wimmeln vorbei an Shishaläden, in denen Kohle und Tabak verkauft werden. Der Bürgersteig bäumt sich auf, als wäre darunter noch eine Stadt vergraben. Klimaanlagen hängen an Balkonen, die Fassaden beigegrau wie Schleifpapier. Ein Jüngling im Weihnachtsmannkostüm verteilt Flyer für eine Kebab-Bude. Im nächsten Shop betten sich Schrotflinten in der Auslage, im benachbarten Laden dampfen wieder Shishas.
Die Griechen nannten Amman vor 3.000 Jahren 'Philadelphia', das bedeutet Bruderliebe. Ein paar hundert Kilometer weiter in Syrien massakrieren sich die Menschen. Ein Barbier wetzt sein Messer. Wintermäntel schaukeln neben Abayas, Ohrringe neben Handyhüllen. In den Obstläden hängen Bananen an Haken, ein Straßenhändler vertickt Unterhosen für Männer. Auf einer Packung steht 'Magic Style' gedruckt. Ein Bursche mit einem Turbanberg auf dem Kopf lässt seine Gebetskette durch die Finger gleiten. Hinter ihm baumeln Taschen aus Plüsch, Louis Vuitton ist aufgenäht. Nähmaschinen stehen im Schaufenster, in drei Geschäften nebeneinander. Autos hupen und brettern über Rot. Ein Polizist bläst in seine Trillerpfeife und ruft mir zu: 'Passen Sie auf, die fahren wie die Verrückten.' Ich nicke. Eine Katze streift mein Bein, es riecht nach gegrilltem Hähnchen und Benzin. Ich liebe Amman, hier sprudelt das Leben, hier ist alles saftig."
Diese Szene ist damit genau eines der Steinchen, die "Meine Reise ins Übermorgenland" zu dem machen, was die Autorin zu Beginn in ihrer eigenen Zielsetzung formulierte:
"Dieses Buch soll ein Mosaik aus Erzählungen werden, aus Schicksalen und Heimlichkeiten, aus Nebengeräuschen und Wundern. Eine kleine Arabeske sozusagen. Und vielleicht lässt sich aus all den Nahaufnahmen eine Ahnung formen, von jener Weltgegend, die uns immer noch so fremdartig erscheint."
Wen beim Lesen dieser Nahaufnahmen nicht das chronische Fernweh packt, so dass man sofort den Rucksack schultern und losziehen will, um auf den Pfaden der Autorin ebenfalls das heutige Arabien zu erkunden, dem ist nicht mehr zu helfen.
Absolute, uneingeschränkte Leseempfehlung!
ISBN-13: 978-3890295244. 18,00 Euro.
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Carola Dengel am Permanenter Link
Hier ein Hinweis auf die "Kulturbrücke Hamburg", ein Bericht über die Vorsitzende Frau Hourvash Pourkian :"„Wir machen uns stark für die Rechte von Frauen in Deutschland und in den Ländern, in denen Fra
Ihre besondere Kritik gilt jenem Teil der europäischen Linken, die die Ideale und Ziele der Revolte von 1968 vergessen haben und sich kulturrelativistischem Denken ergeben.