Zur Verteidigung gefährlicher Ideen

(Teil 2) von Steven Pinker

 

Erkunde alle maßgeblichen Ideen

Sollten wir einige Ideen als gefährlich behandeln?

Schließen wir glatte Lügen, irreführende Propaganda, aufhetzende Verschwörungstheorien von bösartigen Verrückten und technologische Rezepte für kriminelle Anschläge aus. Erwägen wir nur Gedanken über die Wahrheit empirischer Behauptungen oder über die Wirkungskraft politischer Maßnahmen, die, sollten sie sich als wahr erweisen, ein erhebliches Überdenken unserer moralischen Empfindlichkeiten erfordern würden. Erwägen wir auch Ideen, welche, wenn sie sich als falsch herausstellen, Menschen schaden könnten, die an ihre Stichhaltigkeit glauben. In beiden Fällen wissen wir nicht im Vorhinein, ob sie wahr oder falsch sind, und können es nur durch Untersuchen und Debattieren herausfinden. Gehen wir zuletzt davon aus, dass wir nicht davon reden, Menschen am Scheiterhaufen zu verbrennen oder ihnen die Zungen rauszuschneiden, sondern darüber, dass man sie entmutigt, weiter zu forschen und man ihren Ideen so wenig Zugang zur Öffentlichkeit wie möglich gewährt. Es gibt gute Gründe, alle maßgeblichen Ideen zu untersuchen, gleichgültig, wohin sie führen mögen. Die Idee, dass Ideen im Vorhinein entmutigt werden sollten, widerlegt sich selbst. Sie zeugt wahrlich von absoluter Arroganz, weil sie davon ausgeht, dass man sich der Güte und Wahrheit seiner eigenen Ideen so sicher sein kann, dass man sich dazu berechtigt fühlen darf, die bloße Untersuchung von Ideen anderer Menschen zu unterbinden.

Es ist auch schwierig, sich einen Aspekt des öffentlichen Lebens vorzustellen, wo Ignoranz oder Wahn besser sind als ein Bewusstsein für die Wahrheit, sogar für eine unangenehme. Nur Kinder und Geisteskranke beteiligen sich am "Magischen Denken", dem Trugschluss, dass gute Dinge wahr werden, wenn man nur an sie glaubt und schlechte Dinge verschwinden, wenn man sie nicht beachtet oder sie hinfort wünscht. Vernünftige Erwachsene möchten die Wahrheit wissen, weil jede Handlung, die auf falschen Grundannahmen aufbaut, nicht die Folgen haben wird, die sie sich wünschen. Es ist sogar noch schlimmer: Logiker sagen uns, dass man aus einem Gedankengebäude, das einen Widerspruch enthält, alle möglichen Aussagen ableiten kann, egal wie absurd sie sind. Da Ideen mit anderen Ideen verbunden sind, manchmal in zirkelförmiger und unvorhersehbarer Weise, kann die Entscheidung, etwas zu glauben, das vielleicht nicht wahr ist, oder sogar das Aufbauen von Mauern der Ignoranz um eine Thematik, das gesamte intellektuelle Leben verderben und dazu führen, dass überall Fehler wuchern. Möchten wir in unserem Alltag angelogen oder von patriarchalischen "Beschützern" im Dunkeln belassen werden, wenn es um unsere Gesundheit geht, um Finanzen oder auch nur um das Wetter? Stellen Sie sich vor, dass jemand öffentlich fordert, dass wir keine Forschung im Bereich der globalen Erwärmung oder im Bereich der Energieknappheiten mehr betreiben sollten, weil sich herausstellen könnte, dass es sich um ernsthafte Probleme handelt, die äußerst unangenehme Folgen für die Wirtschaft haben könnten. Die politischen Führer unserer Zeit werden von intellektuell verantwortungsbewussten Menschen zurecht verurteilt, wenn sie stillschweigend diese Haltung einnehmen. Warum jedoch sollte man andere unangenehme Ideen anders behandeln?

Es gibt ein weiteres Argument dagegen, Ideen als gefährlich zu behandeln. Viele unserer moralischen und politischen Maßnahmen sind dazu erschaffen, das zu umgehen, was uns als die schlimmsten Elemente der menschlichen Natur bekannt ist. Die Gewaltenteilung einer Demokratie wurde zum Beispiel in ausdrücklicher Anerkennung des Fakts erfunden, dass menschliche Führer immer dazu neigen werden, sich Macht widerrechtlich anzueignen. Ebenso entstammt unsere Sensibilität gegenüber dem Rassismus unserem Bewusstsein, dass Gruppen von Menschen, die sich selbst überlassen sind, dazu neigen, andere Gruppen zu diskriminieren und zu unterdrücken, oft in schrecklicher Weise. Die Geschichte lehrt uns auch, dass der Wunsch, Dogmen aufzuzwängen und Häretiker auszuschalten, eine wiederkehrende menschliche Schwäche ist, eine Schwäche, die stets zu wiederkehrenden Wellen grausamer Unterdrückung und Gewalt führte. Die Anerkennung des Umstands, dass in jedem von uns ein bisschen Torquemada steckt, sollte uns gegenüber jedem Versuch, einen Konsens zu erzwingen oder jene zu dämonisieren, die ihn herausfordern, argwöhnisch machen.

"Sonnenlicht ist das beste Desinfektionsmittel", folgen wir Justice Louis Brandeis berühmten Streitspruch für Gedanken- und Meinungsfreiheit. Sollte eine Idee wirklich falsch sein, können wir das nur herausfinden, wenn wir sie offen untersuchen. Auf diese Weise sind wir in einer besseren Lage, andere davon zu überzeugen, dass die Idee falsch ist, als wenn wir sie im Privaten festigen lassen, schließlich wirkt unsere Vermeidung des Themas wie eine stillschweigende Anerkennung dessen, dass die Idee wahr sein könnte. Und sollte eine Idee wahr sein, dann bringen wir besser unsere moralischen Empfindlichkeiten mit ihr in Einklang, da aus der Heiligung eines Wahns nichts Gutes entspringen kann. Das könnte sogar leichter sein, als es die Ideenphobiker befürchten. Die moralische Ordnung ist nicht zusammengebrochen, als man aufzeigte, dass sich die Erde nicht im Mittelpunkt des Sonnensystems befindet, und sie wird weitere Berichtigungen unseres Verständnisses überleben, wie die Welt funktioniert.

 

Ist es gefährlich, gefährliche Ideen zu enthüllen?

In der besten talmudischen Tradition, ein Argument so kräftig wie möglich zu verteidigen und dann die Seiten zu wechseln, lassen Sie uns nun die Gegenseite vertreten, dass man bestimmte Wege der intellektuellen Untersuchung entmutigen sollte. Zwei der Mitwirkenden an diesem Sammelband (Gopnik und Hillis) bieten als ihre "gefährliche Idee" das genaue Gegenteil von Gilberts Idee an: Sie sagen, dass es eine gefährliche Idee für Denker ist, ihre gefährlichen Ideen zu äußern. Wie gut schlägt sich ein solches Argument?

Zunächst könnte man die Menschen daran erinnern, dass wir alle für die vorhersehbaren Konsequenzen unserer Handlungen verantwortlich sind, was auch die Konsequenzen unserer öffentlichen Äußerungen mit einschließt. Die Freiheit der Forschung mag ein bedeutendes Gut sein, folgen wir diesem Argument, aber es ist kein absolutes Gut, eines, das alle anderen übertrifft. Wir wissen, dass die Welt voll ist von bösartigen und herzlosen Menschen, die jeden Vorwand nutzen werden, ihren blinden religiösen Eifer und ihre Zerstörungswut zu rechtfertigen. Wir müssen von ihnen erwarten, dass sie die Eröffnung eines Themas für sich einnehmen werden, das ihnen als Rechtfertigung ihrer Agenda dient, weil es scheinbar mit ihren Glaubenssätzen sympathisiert.

Es ist nicht nur möglich, dass die Eröffnung einer wissenschaftliche Debatte ihren giftigen Ideen Legitimität hinzufügt, sondern es könnte sein, dass die bloße Tat, eine Idee zum Allgemeinwissen zu machen, schon ihre Auswirkungen beeinflusst. Individuen können zum Beispiel private Meinungen über Unterschiede zwischen Geschlechtern und zwischen ethnischen Gruppen haben, behalten sie aber für sich, weil sie als schändlich betrachtet werden. Sobald eine solche Meinung jedoch öffentlich geäußert wird, könnten sie sich dazu ermutigt fühlen, ihren Vorurteilen entsprechend zu handeln -- nicht nur, weil sie öffentlich bekundet wurden, sondern weil sie davon ausgehen müssen, dass jeder auf diese Information reagieren wird. Zum Beispiel könnten manche Menschen Mitglieder einer ethnischen Gruppe diskriminieren, obwohl sie ihnen gegenüber keine herablassende Meinung haben, weil sie erwarten, dass ihre Kunden oder Kollegen solche Meinungen vertreten und es ihnen teuer zu stehen kommen könnte, diese herauszufordern. Dann gibt es natürlich noch die Auswirkungen solcher Debatten auf das Selbstbewusstsein der Mitglieder der stigmatisierten Gruppen selbst.

Natürlich können Akademiker vor diesen Missbräuchen warnen, aber ihre Qualifikationen und ihre Pingeligkeit, von denen sie leben, können die einfacheren Formulierungen vielleicht nicht einholen, die schneller ihr Ziel erreichen. Sogar, wenn sie es könnten, wären ihre Qualifikationen womöglich an die Massen verschwendet. Wir sollten nicht darauf zählen, dass gewöhnliche Menschen sich ihres klaren Verstandes bemühen -- manche würden sagen ihrer Fähigkeit zur Haarspalterei --, die nötig wären, eine gefährliche Idee zu akzeptieren, nicht aber ihre schrecklichen Konsequenzen. Unser Leitprinzip sollte im intellektuellen Leben wie in der Medizin das Selbe sein: "Vor allem: Richte keinen Schaden an".

Wir sollten besonders misstrauisch sein, wenn die Gefahr einer gefährlichen Idee jemand anderen betrifft als denjenigen, der die Idee äußert. Wissenschaftler, Gelehrte und Autoren sind Mitglieder einer privilegierten Elite. Sie könnten ein Interesse daran haben, Ideen zu verkünden, die ihre Privilegien rechtfertigen, welche die Opfer der Gesellschaft verdammen oder verharmlosen, oder die Aufmerksamkeit auf ihre eigene Klugheit und Bilderstürmerei richten. Selbst wenn man wenig Sympathie für das zynische marxistische Argument empfindet, dass Ideen immer vorgebracht werden, um den Interessen der herrschenden Klasse zu dienen, sollte der gewöhnliche Skeptizismus eines störrischen Intellektuellen unsere Aufmerksamkeit auf "gefährliche" Hypothesen richten, die ihren Hypothetikern kein Haar krümmen.

(Die Denkweise, die uns zur unvoreingenommenen Rezension, offenen Debatte und zu Stellungnahmen über mögliche Interessenskonflikte führt.)

Verlangen jedoch die Erfordernisse der Vernunft nicht von uns, stets die vollständige Wahrheit zu suchen? Nicht unbedingt. Vernünftig Handelnde entscheiden sich oft für die Ignoranz. Sie könnten sich entscheiden, nicht in eine Position zu geraten, in der sie Drohungen erhalten können oder einem empfindlichen Geheimnis ausgesetzt sind. Sie könnten sich für die Vermeidung belastender Fragen entscheiden, bei denen eine Antwort Schaden anrichtet, eine andere unehrlich ist und eine Unmöglichkeit zu antworten für den Fragenden Grund zur Annahme des Schlimmsten wäre (daher der Schutz des fünften Verfassungszusatzes, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen). Wissenschaftler überprüfen Medikamente mit Hilfe von Doppelblindtests, bei denen sie sich davor bewahren zu erfahren, wer das Medikament und wer das Placebo bekommen hat, und sie bearbeiten Manuskripte aus den selben Gründen anonym. Die meisten Menschen entscheiden sich dagegen, das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes in Erfahrung zu bringen, oder ob sie ein Gen für die Huntington-Krankheit tragen, oder ob ihr namentlicher Vater genetisch mit ihnen verwandt ist. Vielleicht würde eine ähnliche Logik dazu aufrufen, gesellschaftlich schädliche Informationen vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

 

Die Intoleranz von unpopulären Ideen

Jeder Wissenschaftler lebt bereits mit Einschränkungen seiner Forschungsfreiheit. Sie pflichten zum Beispiel den Entscheidungen von Ausschüssen bei, welche den Schutz von Versuchspersonen betreffen, sowie auch den Regelungen rund um die Vertraulichkeit persönlicher Informationen. 1975 einigten sich Biologen auf ein Stillhalteabkommen um die Erforschung rekombinativer DNS, bis Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden können, um die Freilassung gefährlicher Mikroorganismen zu verhindern. Die Vorstellung, dass Intellektuelle eine Blankovollmacht für ihre Forschung hätten, ist ein Mythos.

Obwohl ich eher der Ansicht bin, dass wichtige Ideen ausgesprochen werden sollten, als dass man sie manchmal unterdrücken muss, denke ich, dass es sich um eine notwendige Debatte handelt. Ob es uns gefällt oder nicht: Die Wissenschaft neigt dazu, revolutionäre Ideen aufzubringen, und das Internet hat die Gewohnheit, ihnen die Deckung zu nehmen.

Tragischerweise gibt es wenige Anzeichen, dass die Debatten dort stattfinden werden, wo wir es am ehesten erwarten würden: In Universitäten. Obwohl Akademiker das besondere Privileg genießen, genug Zeit und Energie in die Ermutigung freier Forschung und die Einschätzung unpopulärer Ideen investieren zu können, sind sie viel zu oft die Ersten, die versuchen, diese zu unterdrücken. Das berüchtigste Beispiel der letzten Zeit ist der Ausbruch von Wut und Fehlinformiertheit, der entstand, nachdem Harvard-Präsident Lawrence Summers eine Messanalyse der zahlreichen Ursachen für die Unterrepräsentation von Frauen in den wissenschaftlichen und mathematischen Fakultäten anfertigte und ansatzweise die Möglichkeit berührte, dass Diskriminierung und verdeckte Barrieren nicht die einzigen Ursachen waren.

Die Intoleranz von Akademikern gegenüber unpopulären Ideen ist jedoch eine alte Geschichte. Bücher wie Morton Hunts "The New Know-Nothings"In ["Die neuen Nichtswisser"] und Harvey Silverglates "The Shadow University" ["Die Schatten-Universität"] haben deprimierender Weise gezeigt, dass man nicht auf Universitäten zählen sollte, wenn es darum geht, die Rechte ihrer eigenen Häretiker zu verteidigen, und dass oft die Gerichte oder die Presse eingeschalten werden müssen, um sie zu einer toleranten Politik zu bewegen. Auf Regierungsebene ist die Intoleranz sogar noch erschreckender, weil die dort erwogenen Ideen nicht nur dem intellektuellen Vergnügen dienen, sondern unmittelbare und dramatische Folgen haben. Chris Mooney gesellt sich mit The Repulican War on Science ["Der Krieg der Republikaner gegen die Wissenschaft"] zu Hunt, indem er aufzeigt, wie korrupte und demogogische Gesetzgeber zunehmend Forschungsergebnisse verschleiern, die für ihre Interessen unbequem sind.

 

Übersetzung: Andreas Müller

Original: Steven Pinker: "In Defense of Dangerous Ideas". Sun-Times Chicago, Erstdruck: Edge. 15. Juli 2007

"In Defense of Dangerous Ideas" ist das Vorwort zum Buch What Is Your Dangerous Idea?

 

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