Wir sollten Belege ernst nehmen

Wissenschaftliches Denken ist auch für die Politik wichtig, sagt Alan Sokal.

 

Entscheidungen, welche die Öffentliche Ordnung betreffen, sollten Belege als Grundlage haben. Warum müssen Steuerzahler dann für Konfessionsschulen und alternative Therapien aufkommen?

Es sollte offensichtlich sein, dass politische Entscheidungen auf Grundlage der Realität und auf Basis von Belegen getroffen werden, allerdings sind die Schlussfolgerungen, wenn wir eine Weltanschauung ernst nehmen, die auf Belegen basiert, sehr viel radikaler, als es die meisten Menschen einsehen.

Hier ist ein Beispiel: Die britische Regierung führt nun Kompetenzstandards für Homöopathie, Aromatherapie, Reflexzonenmassage und andere „alternative“ Therapien ein, um die Öffentlichkeit vor unzureichend ausgebildeten praktischen Ärzten zu bewahren. Das klingt gut, aber nur beim ersten Hinhören. Denn was genau soll das heißen, in einem pseudomedizinischen Fachgebiet „kompetent“ zu sein, bei dem noch nie eine Wirkung jenseits des Placebo-Effekts nachgewiesen wurde? Vielleicht wird die NHS (National Health Service) bei ihrem nächsten Streich Aderlass und Trepanation einführen, formgerecht abgesegnet aufgrund rigoroser Kompetenzstandards für praktische Ärzte.

Davon abgesehen, dass Homöopathie aus wissenschaftlicher Sicht völlig unplausibel ist – die „Heilmittel“ sind so stark verdünnt, dass sie kein einziges Molekül des angeblich „aktiven Inhaltsstoffes“ mehr enthalten – fördert die NHS auf ihrer Website aktiv die Homöopathie und bietet homöopathische „Behandlungen“ auf Kosten der Steuerzahler an. Und in England gibt es fünf Homöopathie-Krankenhäuser, von denen vier von NHS-Geldern finanziert werden.

Niemand, nicht einmal der Gesundheitsminister, weiß, wie viel die NHS jährlich für unbelegte (oder widerlegte) ergänzende oder alternative Therapien ausgibt, weil die NHS sich nicht mit Buchhaltung belastet – aber Schätzungen reichen von 50 Millionen Pfund bis hin zu 450 Millionen Pfund. Gut, das ist nur ein geringer Teil des NHS-Haushalts von 92 Milliarden Pfund, aber es ist noch immer Geld, mit dem man tausenden von Krebspatienten nachweisbar effektive Therapien finanzieren könnte, die ihnen nun aus Kostengründen verweigern werden.

Hier wäre noch ein Beispiel: Die Regierung unter Premierminister Tony Blair stellte Glaubens-basierten Schulen gewissenhaft staatliche Subentionen zur Verfügung. Natürlich wird „Glaube“ hier als ökumenisch-klingender Euphemismus für „Religion“ gebraucht, aber das Wort ist noch immer enthüllend. Denn was ist „Glaube“ anderes als die Pseudo-Rechtfertigung, die Menschen von sich geben, denen hinreichende Belege fehlen?

Nachdem darüber berichtet wurde, dass eine aus öffentlichen Mitteln finanzierte christliche Schule Kreationismus unterrichtet hatte, fragte man Blair im Parlament, ob er „glücklich darüber war, den Unterricht der Lehre des Kreationismus zusammen mit Darwins Evolutionstheorie in staatlichen Schulen zu erlauben“. Blair (stets der vollkommene Politiker) wich einer direkten Antwort aus, verteidigte jedoch die betreffende Schule und sagte „letztendlich wird ein variantenreicheres Schulsystem bessere Ergebnisse für unsere Kinder hervorbringen.“ Sollen wir im Namen der „Vielfalt“ auch Schulen bezuschussen, die lehren, dass der Mond aus grünem Käse gemacht ist?

Natürlich können sich muslimische, Hindu, Sikh und jüdische Briten zurecht darüber beschweren, dass der Staat zu lange die Schulen der britischen Staatskirche und der römisch-katholischen Kirche finanziert hat. Das richtige Heilmittel besteht aber nicht darin, die Schirmherrschaft vom Christentum auf andere Formen von Aberglauben auszuweiten; sondern es besteht darin, eine vollkommene Trennung von Kirche und Staat durchzusetzen und allgemeiner darauf zu bestehen, dass steuerfinanzierte Einrichtungen keine Dogmen propagieren, die nicht durch Belege gestützt sind.

Außerdem ist es auf jämmerliche Weise fehlgeleitet, Kinder muslimischer Eltern und Kinder christlicher Eltern für ihre getrennte Indoktrination aufzuteilen. Warum sollte man stattdessen nicht Schüler beider Hintergründe in einer gymnasialen Geschichtsstunde die historischen Belege für die Zusammensetzung des Neuen Testaments und für den Koran untersuchen lassen?

Im Endeffekt heißt das, dass wir alle – Konservative und Liberale, Gläubige und Atheisten – in der selben realen Welt leben, ob wir das mögen oder nicht. Die Öffentliche Ordnung muss auf Basis der besten erhältlichen Belege aufrecht erhalten werden. In einer freien Gesellschaft hat jede Person das Recht, an jeden Unsinn zu glauben, an den sie glauben will, aber der Rest von uns sollte nur auf die Meinungen hören, die auf Belegen beruhen.

Übersetzung (dieses Auszugs): Andreas Müller
Quelle: Sokal, Alan: Taking evidence seriously. Guardian. 28. Februar 2008

Bild: Bittere Pillen von Morguefile

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