Wissenschaftliche Bildung

Was bedeutet es im 21. Jahrhundert, wissenschaftlich gebildet zu sein?

Diese Frage beantwortet der Gewinner des Zweiten Jährlichen Seed Wettbewerbs für Wissenschaftliches Schreiben, Thomas W. Martin:

Vor zwanzig Jahren, als ein frischer Studienanfänger, wusste ich genau, was es bedeutet, wissenschaftlich gebildet zu sein. Ich hielt sogar einen objektiven Maßstab dafür in meiner Hand, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von E.D. Hirsch. Sein Buch „Kulturelle Bildung: Was Jeder Amerikaner Wissen Muss" war ein Bestseller unter den Taschenbüchern und listete bequem tausende Namen, Begriffe und Zitate auf, die jeder gebildete Mensch - so sagte er uns - kennen sollte. Nachdem ich die gesamte Liste an einem Nachmittag durchgearbeitet hatte, stellte ich eingebildet fest, ich könne nun einfach jeden wissenschaftlichen Begriff definieren. Vages Gerede über literarische Beispiele wie „Aeschylus" lösten bei mir kein Unbehagen aus, aber die Unfähigkeit „aerobe Respiration" im biochemischen Sinne (nicht im oberflächlichen, damals populären Jane-Fonda-Sinne) zu beschreiben, hätte bei mir die schwere Verlegenheit eines Strebers ausgelöst.

Heute lehre ich Wissenschaft und deren Geschichte beim Honors College und ich bin mir natürlich sehr viel weniger im Klaren darüber, wie man wissenschaftliche Bildung misst. Die Studenten, die unserem Programm beitreten, verfügen nicht nur über die erwarteten guten SAT-Leistungen, sondern auch über perfekte oder beinahe perfekte Leistungen in einer Auswahl von „Advanced Placement"-Examen, vor allem in den grundlegenden Wissenschaften. Eine bemerkenswerte Anzahl dieser Studenten glaubt auch an die wörtliche Wahrheit bestimmter antiker Berichte über die Erdgeschichte, die, um es frei heraus zu sagen, unmittelbar Bergen gut gesicherter Daten der Geologie, Klimatologie und Biologie widersprechen. Ohne die laufenden Kulturkriege rund um dieses Thema wiederkäuen zu wollen (und gewiss ohne meine eigenen Studenten auszuschimpfen), erscheint mir das ein brauchbarer Angriffspunkt zu sein, um das Problem der „wissenschaftlichen Bildung" anzupacken.

Wir hören immer wieder das alte Lied, dass unsere Nation einfach den Anspruch der wissenschaftlichen Fächer erhöhen müsste, dass sie unseren Kindern mehr Fächer lehren sollte und/oder ihnen mehr praktische Laborarbeit aufbürden müsste, um so die Produktion eines Bürgertums zu sichern, das in der Lage ist, eine zunehmend komplexe Welt zu verstehen. Sie wären dann darauf vorbereitet, die schwierigen Entscheidungen des 21. Jahrhunderts zu treffen etc.. Wie dem auch sei, das technische Verständnis meiner Studenten übertrifft bereits alles, was sich selbst der größte Optimist realistischerweise für Amerika (oder für die Erde) erträumen könnte. Mit anderen Worten: Selbst wenn ein Bürgertum einen beeidruckenden Grad an wissenschaftlicher Bildung erzielt - versteht man diese als reine konzeptuelle Kompetenz - so wäre es doch ebendiesem Bürgertum noch immer möglich, routinemäßig wissenschaftliche Belege ihren eigenen, tiefsitzenden kulturellen Vermutungen unterzuordnen.

Noch wichtiger: Das Phänomen der „Beweisblindheit" beschränkt sich keinesweigs auf unerfahrene Studenten, oder gar nur auf ideologische Teile der gemeinen Bevölkerung. Man kann es in unterschiedlichen Ausmaßen überall vorfinden, einschließlich einiger hervorstechender Beispiele in den Gefilden der professionellen Wissenschaft selbst. Wie kürzlich in Seed angemerkt wurde, schließen sich führende Mitglieder der Disziplinarausschüsse, die sich von unorthodoxen neuen Entdeckungen bedroht fühlen, manchmal zusammen, um diese Informationen zu unterdrücken und ihr Erscheinen in den Fachzeitschriften zu verhindern. Während sich diese Erleuchteten zweifellos gegenseitig davon überzeugen, nur die Integrität ihrer Fächer aufrecht zu erhalten, sind sie in Wahrheit (auf eine grundprinzipiell menschliche Weise) sehr viel mehr an dem Erhalt gelieber Glaubensannahmen interessiert, als in der Ermutigung potenziell störender Entdeckungen.

In den letzten paar Jahrzehnten stieg die Anzahl der Belege seitens der Kognitionswissenschaften, dass die Fähigkeit von Individuen, ihre eigenen Standpunkte zu kritisieren, sehr beschränkt ist. Selbst die talentiertesten und erfahrensten Analytiker unter uns sind empfänglich für Voreingenommenheit und Selbsttäuschung in einem Ausmaß (ironisch genug), das wir prinzipiell nicht erkennen. Der Psychologe Daniel Gilbert drückt es in seinem Buch Stumbling on Happiness [Über das Glück stolpern] folgendermaßen aus: „Jeder von uns ist in einem Ort, einer Zeit und in einer Situation gefangen, und unsere Versuche, unseren Verstand dazu zu gebrauchen, diese Grenzen zu durchbrechen, sind meistens erfolglos." Die Wissenschaft ist nicht aus dem Grund erstaunlich erfolgreich, weil große Gruppen automatisch weiser oder weniger anfällig für Selbsttäuschung sind als Individuen. Die Geschichte lehrt uns, wenn sie uns denn überhaupt etwas lehrt, dass vielmehr das Gegenteil der Fall ist. Die Wissenschaft funktioniert, weil ihr Kernantrieb - nicht ihre Methoden oder Techniken per se - auf dem Wettstreit von Intellektuellen basiert. Die Wissenschaft bietet gelegentlich beeindruckende Antworten, weil sie schlaue Leute dazu nötigt, immerzu die Ideen anderer schlauer Leute zu verbessern.

Das Ziel der Wissenschaft lautet, diejenigen Ideen zu finden, die das lange und harte Sperrfeuer einer Argumentation aushalten, die auf Belegen beruht. Diese Lektion muss von Mitgliedern jeder Generation aufs Neue gelernt werden, ungeachtet ihrer Laufbahn. Die Bewältigung wissenschaftlicher Konzepte und Theorien ist ein notwendiger Startpunkt, aber sie dient nur als Voraussetzung, um an dem unendlichen Dialog teilzunehmen. Studenten müssen von erster Hand lernen, wie man sowohl mit Einfallsreichtum neue Hypothesen aufstellt und sie unvoreingenommen kritisiert. Viele Kommentatoren haben uns zu Recht beschworen, sicherzustellen, dass junge Menschen den „Nervenkitzel" der Entdeckung erleben. Während das unzweifelhaft wünschenswert ist, ist es möglicherweise sogar noch wichtiger, dass sie die Verzweiflung (wenn auch nur auf einer moderaten Skala) erleben, eine geliebte Hypothese durch Fakten demoliert zu sehen.

Mehrere aktuelle Präsidentschaftskandidaten haben darauf bestanden, die wissenschaftliche Darstellung der Erdgeschichte prinzipiell abzulehnen. Im aktuellen kulturellen Klima wird es als Zeichen von Schwäche gedeutet, seine Position zu irgendetwas (Fakten eingeschlossen) zu ändern. Studenten müssen davon überzeugt werden, dass es keineswegs eine Schwäche ist, seine Meinung angesichts von Belegen zu ändern. Seine Meinung zu ändern ist die Essenz intellektuellen Wachstums. Indem man Studenten zu einer Auseinandersetzung zwingt, die auf Belegen beruht, kann diese Art der Interaktion zur Gewohnheit werden. Nachdem sie beständig von ihren Altersgenossen herausgefordert wurden, erkennen die meisten Studenten wahrscheinlich, dass ihr Recht, sich von Fakten zu befreien, eine leere, letztlich gefährliche Form von „Freiheit" ist.

In einem Zeitalter, in dem wir davor erzittern, die Empfindlichkeiten unserer Nachbarn zu beleidigen, müssen Studenten erst recht verstehen, dass es nicht nur möglich, sondern absolut elementar ist, die Ideen anderer Menschen aufrichtig, wenn auch zivilisiert, zu kritisieren. Sie müssen das trotz eindeutiger Fälle tun, in denen sich prominente Wissenschaftler bitteren (und darum konterproduktiven) Kleinkriegen geopfert haben. Wir alle tragen für unsere formellen und informellen, öffentlichen und privaten Diskussionen die Verantwortung, wissenschaftliche Bildung dieser Art - Bildung, die auf einer stetigen Orientierung an Belegen statt auf Voreingenommenheit basiert - zu fördern. Wenn prominente Wissenschaftler daran scheitern, Studenten ein gutes Beispiel zu geben, dann obliegt es dem Rest von uns besonders, sie wieder auf das sprichwörtliche rechte Gleis zu führen, statt ihre Entgleisung noch zu beschleunigen.

Wir tun unseren Kindern keinen Gefallen damit, indem wir es ihnen leicht machen - oder, genauer - indem wir es ihnen leicht machen, dass sie es sich untereinander leicht machen. Die Natur ist sehr viel strenger. Wenn wir Umgebungen erschaffen, in denen sie sicher im Lichte von Beweisen kleine Aha-Erlebnisse haben können, dann wird sie das motivieren, diese Lehre weiterzugeben. Sie werden dann in einem Sinne über eine wissenschaftliche Bildung verfügen, in welchem der wissenschaftliche Diskurs weiterbestehen und erblühen wird. Und letztlich ist es dieser Sinn, der wirklich zählt.

 

Übersetzung: Andreas Müller

Quelle: Thomas W. Martin: Scientific Literacy and the Habit of Discourse. Seed Magazine. 21. September 2007

 

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