Kirchentagsrede des Bundespräsidenten stößt auf Kritik

"Nicht der Präsident aller Deutschen"

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier betrachtet die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft offenbar als Bedrohung.

Ein Bundespräsident sollte alle Bürgerinnen und Bürger repräsentieren, doch Frank-Walter Steinmeier sprach bei der Eröffnung des Ökumenischen Kirchentags als "engagierter Christ", der sich parteiisch auf die Seite der Kirchen stellt und die zunehmende Religionsabstinenz in der Bevölkerung als Gefahr begreift. "Dies lässt Zweifel an Steinmeiers Eignung für das höchste Staatsamt aufkommen", meint der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon.

Steinmeier ging in seiner Eröffnungsrede zum Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt auf die "schwierige Zeit" ein, in der sich die beiden großen Kirchen befänden. Dabei stellte er die "bange Frage", ob es "je wieder ein Zurück zur Normalität gibt". Wörtlich fuhr er fort: "Ob die Pandemie nicht auch hier als Brandbeschleuniger wirkt, dem Prozess der Säkularisierung zusätzlichen Schub verleiht, die Kirchen aus der Mitte der Gesellschaft drängt."

Offenkundig schätzt der Bundespräsident die Zunahme des religionsfreien Bevölkerungsanteils als bedrohlich ein, denn der Begriff "Brandbeschleuniger" wird fast ausschließlich für gefährliche Entwicklungen wie das Erstarken von Rechtspopulismus, Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit verwendet. Der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) Michael Schmidt-Salomon erklärt dazu: "Wer im Zusammenhang mit der Säkularisierung von einem 'Brandbeschleuniger' spricht, gibt zu erkennen, dass er diesen 'Brand' löschen will. Ein 'Zurück zur Normalität' bedeutet für den Bundespräsidenten offenbar eine Wiederherstellung der christlichen Vormachtstellung in Politik und Gesellschaft. So etwas kann Frank-Walter Steinmeier natürlich als Privatperson denken, er darf es als Bundespräsident aber nicht öffentlich äußern. Denn als höchster Repräsentant des Staates sollte er sich weltanschaulich neutral verhalten. Die Verfassung verbietet es ihm, einseitig Partei für eine Religion zu ergreifen – auch nicht für das Christentum!"

Christen und Kirchen werden benötigt – andere nicht?

Nicht weniger als sieben Mal behauptete der Bundespräsident in seiner Rede: "Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen!" Darüber hinaus sprach er das Publikum als "Schwestern und Brüder" an. "Frank-Walter Steinmeier hat sich in dieser Rede nicht als 'Präsident aller Deutschen' gezeigt", sagt Schmidt-Salomon. "Immerhin sind 39 Prozent der Bevölkerung konfessionslos. Die vielen Millionen religionsfreien Menschen sind auch nicht bloß zu tolerieren, wie es die Rede des Bundespräsidenten nahelegt, sondern als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger zu respektieren. Toleranz, sprich: die Erduldung einer Last, wäre eindeutig zu wenig – zumal offene Gesellschaften auf religionsfreie Menschen in besonderem Maße angewiesen sind. Denn es ist kein Zufall, dass die Menschenrechte im weitgehend säkularisierten Westeuropa stärker geachtet werden als beispielsweise in kirchlich geprägten Ländern wie Polen, in denen 'engagierte Christinnen und Christen' das Sagen haben. Auch für Deutschland lässt sich hier ein klarer Zusammenhang aufzeigen: Je größer der Einfluss der Kirchen war, desto weniger wurden individuelle Freiheitsrechte (etwa von Frauen oder Homosexuellen) respektiert. Säkularisierung bedeutete summa summarum sozialen Fortschritt, Sakralisierung hingegen sozialen Rückschritt. Dass Steinmeier ausgerechnet in der Säkularisierung eine Gefahr erkennt, wirft kein gutes Licht auf sein Geschichtsbewusstsein."

Der Bundespräsident als "christlicher Lebensschützer"

Als wäre all dies nicht genug, meinte der Bundespräsident in seiner Kirchentagsrede: "Wir brauchen die Kirchen, wir brauchen engagierte Christinnen und Christen, die daran erinnern, dass das menschliche Leben unverfügbar ist". Auch diese Formulierung sei aus dem Munde eines Bundespräsidenten schwerlich hinnehmbar, erklärt Schmidt-Salomon: "Die Lehre von der 'Unverfügbarkeit des Lebens' entstammt der christlichen Ideologie und wird von Gegnern der Sterbehilfe und des Schwangerschaftsabbruchs genutzt, um individuelle Selbstbestimmungsrechte anzugreifen. Will sich der Bundespräsident mit diesen reaktionären Kräften gemeinmachen? Dankenswerterweise hat das Bundesverfassungsgericht 2020 in einem aufsehenerregenden Urteil noch einmal bekräftigt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Das eigene Leben unterliegt also sehr wohl der Verfügungsgewalt des Menschen. So will es das deutsche Grundgesetz – und dies ist auch die Richtschnur, die der Bundespräsident in seinen Reden betonen sollte! Keineswegs sollte er eine Religionsgemeinschaft dazu ermuntern, das Gegenteil von dem zu verlangen, was unsere Verfassung einfordert!"

Religionskritische Figurenparade zum Kirchentag

Anders als der Bundespräsident hat die Giordano-Bruno-Stiftung den 3. Ökumenischen Kirchentag zum Anlass genommen, in der gebotenen Schärfe auf die immer wieder verdrängten Probleme der christlichen Kirchen hinzuweisen. Konkret ging es dabei um die noch immer nicht vollzogene Trennung vom Staat, den Missbrauchsskandal und den religiös begründeten Antisemitismus, der insbesondere die evangelische Kirche mit fatalen geschichtlichen Auswirkungen geprägt hat. Um diese Themen zu veranschaulichen, baute das Team des "11. Gebots" (David Farago, Maximilian Steinhaus, Roy Thormann, Werner Koch, Ingo Eitelbach, Holger Tallowitz) gleich drei Figuren in der Frankfurter Altstadt auf.

Der "größte notorische Kirchentagsbesucher" durfte in diesem Figurenkabinett selbstverständlich nicht fehlen: Wie in den Jahren zuvor verkündete "Moses" auch in Frankfurt das 11. Gebot: "Du sollst Deinen Kirchentag selbst bezahlen!" (was allerdings kaum verhindern wird, dass der diesjährige Kirchentag zu über 50 Prozent von der öffentlichen Hand finanziert wird!). Zu "Moses" gesellten sich auf dem Frankfurter "Römer" zwei weitere Großskulpturen: der schlafende "Hängemattenbischof", mit dem die gbs gegen die schleppende Aufarbeitung der Missbrauchsfälle protestiert (die Figur hatte schon im März international für Schlagzeilen gesorgt) sowie der "nackte Luther", mit dem die Stiftung über den militanten Judenhass des "Reformators" aufklärt. Erwartungsgemäß gingen gegen den "nackten Luther" wieder einmal Anzeigen ein (die folgenlos blieben), insgesamt aber sei die Publikumsresonanz in Frankfurt ausgesprochen positiv gewesen, hieß es vonseiten der Aktivisten des 11. Gebots.

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