Selten wurde ein politisches System durch eine einzige Tat mehr in seiner Hohlheit entlarvt und der Lächerlichkeit preisgegeben als das
Wilhelminische Kaiserreich an jenem 16. Oktober 1906. Da marschierte ein mehrfach vorbestrafter Handwerker, ausgestattet mit einer abgetragenen Hauptmannsuniform und einer Handvoll Soldaten (die er von der Straße weg seinem Befehl unterstellt hatte), in ein preußisches Rathaus, übernahm das Kommando über die Behörde, ließ Bürgermeister und Stadtkämmerer abführen, beschlagnahmte 4.000 Mark aus der Stadtkasse und ging seines Weges. Und alle Soldaten, Polizisten, Beamten führten unterwürfig aus, was der „Hauptmann“ ihnen befahl.
Dass die Welt schallend über den deutschen Untertanengeist lachte, lag wohl nicht zuletzt daran, dass alle den Eindruck hatten, was in Köpenick passiert war, wäre überall im Deutschen Reich ähnlich abgelaufen. Wilhelm Voigt, der „Hauptmann von Köpenick“, selbst schreibt in seinen Memoiren, „dass es den Herren von der Polizei genau ebenso ergangen wäre, wenn es mir gefallen hätte, auf das Berliner Polizeipräsidium zu kommen“. Die Mehrzahl der Deutschen sah das wohl ähnlich und so fiel bei ihnen das Gelächter nicht ganz so ausgelassen aus wie andernorts. Denn Voigt hatte mit seinem Gaunerstück nicht nur den preußischen Militarismus dem Spott preisgegeben, sondern zugleich dem deutschen Bürgertum den Spiegel vorgehalten, in dem dieses sich „in seiner obrigkeitshörigen Erbärmlichkeit sehen konnte“ (Ludwig Lugmeier).
Voigt, der bis dahin bereits gut die Hälfte seines Lebens in Gefängnissen und Zuchthäusern verbracht hatte, musste erneut hinter Gitter, wurde aber im August 1908 begnadigt. Sein Raubzug im Köpenicker Rathaus hatte ihn zwar in die Geschichte eingehen lassen, finanziell hingegen war die Sache schiefgelaufen, denn Voigt hatte damit gerechnet, zwei Millionen Mark vorzufinden und damit seinen Lebensabend zu finanzieren. Jetzt begann er, mit einer neuen Strategie Kapital aus der Köpenickiade zu schlagen. Noch am Abend seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde er bei der Berliner Zeitung „Welt am Montag“ vorstellig, und bereits am nächsten Tag waren Fotografen seine ständige Begleitung. Von nun an vermarktete er sich und seine Geschichte in einer Weise, die sehr modern anmutet. Er trat in Varietés auf, verkaufte signierte Postkarten, ging auf Vortragsreisen, die ihn im Frühjahr 1910 sogar nach New York führten. Seine Memoiren wurden noch im Jahre ihres Erscheinens ins Französische übersetzt.
Dieses, in Grundzügen wahrscheinlich bereits während der Haft verfasste, „Lebensbild“ war Teil seiner Vermarktungsstrategie. Es legte den Grundstein für spätere Legendenbildung und bog die Wahrheit so zurecht, dass Voigt damit beim Publikum hausieren gehen konnte. Sicherlich war Voigt auch Opfer der wilhelminischen Justiz, der jeglicher Resozialisierungsgedanke fremd war, und einer Gesellschaft, in der Vorbestrafte aus der Unterschicht kaum eine Chance hatten, je wieder ein geregeltes Leben zu führen. Doch anders als in der berühmten Verfilmung, die Drehbuchautor Carl Zuckmayer ehrlich „Ein deutsches Märchen“ untertitelte, suchte Voigt im Köpenicker Rathaus nicht nach seinem Pass. Er war der Meinung, dass er endlich auch mal ein Stück vom Kuchen abhaben sollte und das wollte er sich mit seinem genial ausgedachten Coup holen. Es wäre also blauäugig, in Wilhelm Voigt nur den Spielball der Verhältnisse zu sehen. Irgendwann hatte der Sohn eines Schusters einen wesentlichen Mechanismus durchschaut, auf dem das zweite Deutsche Reich beruhte, und versuchte, diesen für sich zu nutzen; als dies schief ging, erwies er sich als äußerst lernfähiges Schlitzohr und zog „Plan B“ aus der Tasche. Diesmal mit Erfolg. Von seinen Einnahmen als „Hauptmann“ sowie diversen Zuwendungen von Gönnern konnte er gut leben, sich sogar ein Haus kaufen, bis die Inflation sein Vermögen auffraß. Ein Regimegegner war Voigt nicht, er hatte seinen eigenen Vorteil im Auge, nicht die Veränderung der herrschenden Zustände. Aber aus seinem Eigennutz hat er ein Stück Geschichte geschrieben, das auch nach 100 Jahren noch dazu einlädt, den Militarismus auszulachen.
Pünktlich zum 100. Jahrestag des Auftrittes des Hauptmanns von Köpenick ist seine Autobiographie in einer liebevoll gemachten Ausgabe neu aufgelegt worden. Das Nachwort hat Ludwig Lugmeier geschrieben, erschienen ist sie – ungelogen – im Verbrecher Verlag.
Wilhelm Voigt: Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde. Ein Lebensbild. Mit einem Nachwort von Ludwig Lugmeier. Herausgegeben von Werner Labisch und Jörg Sundermeier. Berlin: Verbrecher Verlag 2006. 122 Seiten, gebunden, Euro 14,99, ISBN 3-935843-66-6