Mutter Natur ist nicht unser Freund

Sam Harris entzaubert die Natur.

Wie viele Menschen habe ich einstmals auf die Weisheit

der Natur vertraut. Ich stellte mir vor, es gäbe wirkliche Grenzen zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, zwischen einer Art und einer anderen, und dachte, dass wir mit dem Anbruch der Gentechnologie auf unsere eigene Gefahr am Leben herumbasteln würden. Inzwischen halte ich diese romantische Sicht der Natur für eine alberne und gefährliche Mythologie.

Etwa alle 100 Millionen Jahre kracht ein Asteroid oder Komet von der Größe eines Berges auf die Erde und tötet beinahe alles, was lebt. Falls wir jemals einen Beweis für die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber dem Wohlbefinden komplexer Organismen wie uns benötigten, hier ist er. Die Geschichte des Lebens auf diesem Planeten war eine Geschichte erbarmungsloser Zerstörung und blinder, taumelnder Erneuerung.

Der Fossilienbefund zeigt auf, dass individuelle Arten im Durchschnitt zwischen einer Million und zehn Millionen Jahren überleben. Das Artenkonzept ist allerdings irreführend und bewegt uns zur Annahme, dass wir als Homo Sapiens an einer ganz bestimmten Position in der natürlichen Ordnung das Licht der Welt erblickten. Der Begriff „Art“ meint jedoch lediglich eine Population von Organismen, die sich untereinander fortpflanzen und fruchtbare Nachkommen erzeugen kann; er ist aber nicht imstande, die Grenzen zwischen Arten (oft als „Zwischenform“ oder „Übergangsform“ bezeichnet) treffend zu erfassen. Es gab zum Beispiel kein erstes Mitglied der menschlichen Art und es gibt auch heute keine kanonischen Mitglieder. Das Leben ist beständig im Fluss. Unsere nichtmenschlichen Ahnen pflanzten sich Generation für Generation fort und Schritt für Schritt entstand daraus das Wesen, das wir nun als Homo Sapiens bezeichnen – wir selbst. Nichts an unserer Ahnenreihe oder an unserer modernen Biologie kann bestimmen, wie unsere Evolution in Zukunft verlaufen wird. Kein Merkmal der natürlichen Ordnung verlangt von unseren Nachkommen, dass sie uns in irgendeiner bestimmten Weise ähneln. Sie werden uns sehr wahrscheinlich nicht ähneln. Wir werden uns fast mit Sicherheit in den folgenden Generationen verändern, wahrscheinlich auf eine Weise, dass keine Ähnlichkeit mehr bestehen wird.

Wird das eine gute Sache sein? Die Frage setzt voraus, dass wir eine echte Alternative haben. Was jedoch ist die Alternative, wenn wir unser biologisches Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen? Sollten wir die Sache lieber der Weisheit der Natur überlassen? Ich glaubte das einmal. Wir wissen aber, dass die Natur kein Interesse an Individuen oder Arten hat. Diejenigen, die überleben, tun dies trotz ihrer Gleichgültigkeit. Der Prozess der natürlichen Selektion hat zwar unser Genom in seiner gegenwärtigen Erscheinung geformt, er hat das menschliche Glück jedoch nicht erhöht; noch hat er uns irgendeinen Vorteil gebracht, der über die Fähigkeit hinausgeht, die nächste Generation bis zum fruchtbaren Alter aufzuziehen. Vielleicht wurde jenseits eines Lebensalters von 40 Jahren (die durchschnittliche Lebenserwartung bis zum 20. Jahrhundert) überhaupt nichts von der Evolution selektiert. Und von wenigen Ausnahmen (etwa das Gen für Laktosetoleranz1) abgesehen, haben wir uns seit dem Pleistozän wahrscheinlich nicht weiter an unsere Umwelt angepasst.

 

Seitdem haben sich unsere Umwelt und unsere Bedürfnisse – ich erwähne unsere Wünsche lieber erst gar nicht – allerdings radikal verändert. Wir sind in vielerlei Hinsicht schlecht gerüstet für die Aufgabe, eine globale Zivilisation zu errichten. Das ist keine Überraschung. Aus der Sicht der Evolution muss ein Großteil der menschlichen Kultur, sowie ihre kognitive und emotionale Grundlage, epiphänomenal2 sein. Die Natur kann nichts von dem „sehen“, was wir tun oder hoffen zu tun, und hat nichts getan, um uns auf die vielen Herausforderungen vorzubereiten, denen wir uns nun stellen müssen.

 

Diese Bedenken können nicht einfach mit Sprichwörtern wie „Was nicht kaputt ist, muss man auch nicht reparieren“ beiseitegeschoben werden. Unsere aktuelle Funktionsweise kann man aus unzähligen Perspektiven als „kaputt“ bezeichnen. Was mich betrifft, so kommt es mir vor, als würde alles, was ich anpacke, einen Punkt im Spektrum des Unvermögens darstellen. Ich war zum Beispiel schon immer gut in Mathe, aber das ist so, als wäre ich ein großer Mathematiker, dessen Kopf von einem Bullen durchbohrt wurde; meine musikalischen Fähigkeiten ähneln denen von Mozart oder von Bach, allerdings nach einem beinahe tödlichen Skiunfall; würde Tiger Woods von einer Operation erwachen und herausfinden, dass er nun meinen Golfschwung besitzt (oder von ihm bessessen ist), dann könnten Sie damit rechnen, dass eine einschlagende Klage wegen medizinischer Pfuscherei anstünde.

 

Wenn man sich die Menscheit als Ganzes ansieht, dann weist nichts an der natürlichen Selektion auf unser optimales Design hin. Wir sind wahrscheinlich nicht einmal für die Altsteinzeit optimiert, ganz zu schweigen vom Leben im 21. Jahrhundert. Wir eignen uns jedoch gerade die Werkzeuge an, mit denen wir unsere eigene Optimierung versuchen können. Viele Menschen glauben, dieses Projekt wäre mit Risiken belastet. Aber ist es riskanter, als gar nichts zu tun? Es könnte aktuelle Bedrohungen für unsere Zivilisation geben, die wir mit unserem momentanen Grad an Intelligenz nicht einmal wahrnehmen können, geschweige denn lösen. Könnte irgendeine rationale Strategie gefährlicher sein, als den Launen der Natur zu folgen? Das heißt natürlich nicht, dass unsere sich bessernde Fähigkeit, am menschlichen Genom herumzubasteln, keine möglichen Gefahren von Faustischer Hybris bergen könnte. Unsere Ängste in diesem Bereich müssen jedoch von einem nüchternen Verständnis dessen, wie wir dorthin gelangt sind, gemäßigt werden. Mutter Natur gibt nicht auf uns acht, noch hat sie jemals auf uns acht gegeben.

1Es sorgt dafür, dass zum Beispiel Europäer und Amerikaner Milch vertragen können. Viele Asiaten haben dieses Gen nicht, weshalb es etwa in Japan kaum Milchprodukte gibt. (Anm. des Übers.)

2Alle Zustände eines Systems, die keine entscheidende Wirkung auf das System haben, nennt man epiphänomenal. Man nehme als Beispiel elektrische Geräte: Zwar erhitzt sich ein Fernseher, dies ist jedoch ein (epiphänomenales) Nebenprodukt seiner Funktionsweise, das sie nicht weiter beeinflusst, während die Erzeugung von Hitze die Hauptfunktion einer elektr. Heizung ist, also hier kein Epiphänomen darstellt. (Anm. des Übers.)

 

Übersetzung: Andreas Müller

Quelle: Edge.org, The Annual Edge Question 2008: Worüber haben Sie Ihre Meinung geändert? Warum?

 

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