Werte-Strukturen im Wandel

In der Debatte um Armut und „Unterschicht“ sorgt eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit der Kategorisierung eines „abgehängten Prekariats“

für Irritation.

Die Studie selbst ist dabei wissenschaftlich lakonisch:

Gesellschaft im Reformprozess" heißt eine Erhebung der TNS Infratest Sozialforschung Berlin im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, die im Februar/März 2006 rund 3000 wahlberechtigte Deutsche über 18 Jahre zu den gesellschaftlichen Reformen in Deutschland befragte. Aus dieser Erhebung wird eine Studie erarbeitet, die zum Jahresende veröffentlicht werden wird.

Die Befragung zielte darauf ab, herauszufinden, welche Wertepräferenzen in der Bevölke­rung vorliegen und welche Zuordnungen zu „politischen Typen" diese Präferenzen erlauben.

Frank D. Karl, bei er Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitische Information und Auftraggeber der Untersuchung: „Diese ‚politischen Typen’ wurden nach ihren politischen Wertevorstellungen und Einstellungen zusammengestellt, um zu klaren Aussagen über neue „politische Milieus " zu kommen ".

Erste Ergebnisse im Überblick:

Politische Typen

Die Untersuchung kommt zu neun „Politischen Typen" nach ihren politischen Wertevorstellungen und Einstellungen:

Die Leistungsindividualisten (11 % Anteil an der Wahlbevölkerung) sind Gegner staatlicher Eingriffe und wollen eine Gesellschaft, die sich in erster Linie am Leistungsprinzip orientiert. Zwei Drittel sind männlich. Politisch bevorzugen sie das bürgerliche Lager und überdurchschnittlich die FDP.

Die Etablierten Leistungsträger (15%) repräsentieren vor allem das kleinstädtische gehobene (liberal-)konservative Milieu. Sie sind stark leistungsorientiert, elitebewusst und haben eine überdurchchnittliche Bindung an die CDU/CSU.

Die Kritischen Bildungseliten (9%) stellen die politisch am weitesten links stehende, jüngste und zugleich qualifizierteste Gruppe dar. Die Kritischen Bildungseliten haben den höchsten Anteil partei- und gesellschaftspolitisch Aktiver. Über vier Fünftel von ihnen wählen eine der drei linken Parteien, die gegenwärtig im Deutschen Bundestag vertreten sind.

Das Engagierte Bürgertum (10%) ist ein weiteres, wenn auch stärker bürgerliches rot-grünes Kernmilieu. Frauen sowie qualifizierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst sowie sozio-kulturelle Berufe sind stark überdurchschnittlich vertreten. Von allen Typen wird die SPD vom Engagierten Bürgertum am besten bewertet.

Die Zufriedenen Aufsteiger (13%) stehen für eine leistungsorientierte moderne Arbeitnehmermitte. Sie kommen überwiegend aus einfacheren Verhältnissen, nehmen aber nun durch ihren eigenen Aufstieg eine Position in der gesellschaftlichen Mitte ein. Politisch neigen sie überproportional zur CDU/CSU, ein gutes Drittel tendiert aber auch zur SPD.

Die Bedrohte Arbeitnehmermitte (16%) repräsentiert die vor allem (klein-)städtische und stärker industriell geprägte Arbeitnehmerschaft. Hinsichtlich der Parteipräferenz ist eine starke SPD-Orientierung festzustellen, allerdings gibt es auch eine Offenheit für die Union und zunehmend (aus Enttäuschung über die SPD) für die Linkspartei.

Die Selbstgenügsamen Traditionalisten (11%) sind von allen Gruppen am stärksten auf die beiden Volksparteien ausgerichtet. Sie sind stark an Konventionen orientiert und wollen einen regulierenden Staat. Der Politik wird wenig Vertrauen entgegengebracht, auch, weil viele Prozesse nicht mehr verstanden werden.

Die Autoritätsorientierten Geringqualifizierten (7%) sind die am stärksten autoritär-ethnozentristisch eingestellte Gruppe. Aus meist einfachen Verhältnissen kommend, wurde ein „Aufstieg im Kleinen" erreicht. Ihre überdurchschnittliche Zustimmung zur SPD geht einher mit einer fundamentalistischen Ablehnung der Grünen und ihrer politischen Vorstellungen

Das Abgehängte Prekariat (8%) ist geprägt von sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen. Diese Gruppe hat einen hohen Anteil berufsaktiver Altersgruppen, weist den höchsten Anteil an Arbeitslosen auf und ist zugleich ein stark ostdeutsch und männlich dominierter Typ. Mit der Großen Koalition sind sie in hohem Maße unzufrieden. Nichtwähler sind ebenso überproportional vertreten wie Wähler der Linkspartei und rechtsextremer Parteien.

Die „Drei-Drittel-Gesellschaft"

Alles in allem zeigt sich das Bild einer Drei-Drittel-Gesellschaft.

Die Menschen im „oberen" Drittel haben recht gesicherte Chancen und Lebensperspektiven. Allerdings ist dieses Drittel politisch gespalten zwischen eher linksliberalen (Kritische Bildungseliten, Engagiertes Bürgertum) und liberalkonservativen (Leistungsindividualisten, Etablierte Leistungsträger) Gruppen.

In der „Mitte" der Gesellschaft ist die Verunsicherung längst angekommen. Je nachdem wie die eigenen Chancen aussehen und die politischen Orientierungen sind, stehen die Gruppen dem Wandel aufgeschlossen (Zufriedene Aufsteiger) oder skeptischer (Bedrohte Arbeitnehmermitte) gegenüber.

Im „unteren" Bereich (Selbstgenügsame Traditionalisten, Autoritätsorientierte Geringqualifizierte) wächst die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Realitäten und der Politik sowie das Risiko der sozialen und politischen Abkopplung (Abgehängtes Prekariat).

In allen drei Dritteln gilt jedoch, dass bestimmte Grundwerte wie „soziale Gerechtigkeit" besonders wichtig sind. Die (nicht einfache) strategische Herausforderung liegt darin, die solidarischen Gruppen im oberen Teil der Gesellschaft, die verunsicherte Arbeitnehmermitte und die erreichbaren Gruppen im unteren Bereich politisch zu integrieren.

Dominante gesellschaftliche Grundstimmung: Verunsicherung

  • 63 % machen die gesellschaftlichen Veränderungen Angst
  • 46 % empfinden ihr Leben als ständigen Kampf
  • 44 % fühlen sich vom Staat allein gelassen
  • 15 % fühlen sich generell verunsichert
  • 59 % geben an, sich derzeit finanziell einschränken zu müssen
  • 49 % befürchten, ihren Lebensstandard nicht halten zu können
  • 61 % meinen, es gibt keine Mitte mehr, nur noch ein Oben und Unten

Akzeptanz von Politik erodiert

  • Parteibindung nimmt ab (1976: 85 % - 2006: 53 % Parteibindung)
  • 56 % meinen, „egal, welche Partei man wählt, ändern tut sich doch nichts“
  • 68 % sind der Meinung, „Politiker kümmern sich zuwenig um die Sorgen der Bürger“

Wertehaushalt verändert sich

Werte-Trennlinien zwischen den gesellschaftlichen Gruppen lösen sich auf und es entstehen breite Werte-Übereinstimmungen hinsichtlich „Soziale Gerechtigkeit“, „Gleichberechtigung von Mann und Frau“, Verantwortung gegenüber kommenden Generationen“, „Pflichterfüllung“ und „Weltoffenheit und Toleranz“

Es entstehen Wertesynthesen, bei denen zusammenkommt, was früher unvereinbar schien:

  • Verteilungsgerechtigkeit und Leistungsdenken
  • Christliche Überzeugung und kulturelle Toleranz
  • Lebensgenuss und Leistungsgedanke

Die Trennungslinie zwischen religiös und säkular vertieft sich

Die Anteile der Bevölkerung in den alten Bundesländern, die „mein Glaube“ für „sehr wichtig“ halten, vergrößert sich seit 1986 von 22 % auf 27%, wie sich ebenfalls der Anteil derjenigen, die sagen „überhaupt nicht wichtig“ seit 1986 von 14 % auf 16 % erhöht hat.