Angela Saini hat mit dem Buch "The Patriarchs – How Men Came to Rule" einen Versuch vorgelegt, die die prähistorische und historische Entwicklung von Gesellschaften im matriarchalisch/patriarchalischen Spannungsfeld über anthropologische, genetische und archäologische Spuren zu beleuchten. Ob ihr das gelungen ist versucht Hanns Misiak in seiner Rezension des Buches zu ergründen.
Auf einer der ersten Seiten begegnet der/die LeserIn der einzigen Abbildung im Buch: Eine Weltkarte mit ungefähr 150 Regionen auf unserem Planeten, in welchen noch heute matrilineare Gesellschaften existieren.
Im Verlauf der ersten Kapitel des Buches spielt diese Karte eine große Rolle, denn Angela Saini unternimmt den Versuch, die prähistorische und historische Entwicklung von Gesellschaften im matriarchalisch/patriarchalischen Spannungsfeld über anthropologische, genetische und archäologische Spuren zu beleuchten.
Ebenso werden die bekanntesten Theorien über die Gründe patriarchaler Vorherrschaft, sowie möglicher vorangegangener matriarchalischer Gesellschaftsformen aufgeführt und bezüglich ihrer Wissenschaftlichkeit bewertet.
Eine sehr weit verbreitete Annahme ist, dass patriarchale Herrschaft das Natürliche ist und Matriarchate die Ausnahme sind. Beispielsweise trifft man bei Schimpansen weitgehend auf männliche Vorherrschaft. Dieses Argument wird jedoch widerlegt durch Befunde, welche ebenfalls aus dem Tierreich stammen: Dominierende Weibchen finden sich zum Beispiel bei Bonobos, Orcas, Löwen, Elefanten, Tüpfelhyänen, etc.
Die Beobachtung, dass sich selbst innerhalb einer Tierart (z.B. Schimpansen) beide Formen – weibliche sowie männliche Vorherrschaft – finden, bedeutet, dass auch kulturelle Faktoren wahrscheinlich einen Einfluss haben. So ist es auch für die Spezies Mensch belegt, dass zahl-reiche Matriarchate durch Kolonialismus oder gesetzlichen Druck patriarchaler Regierungen in ihr Gegenteil verwandelt wurden.
Trotz dieses andauernden Drucks auf matrilineare Volksgruppen sind sie auch heutzutage noch existent, oder zumindest Reste davon, was für die darin lebenden Frauen ein hohes Maß an Freiheit, Selbstbestimmung und wesentlich höhere Bildung bedeutet. So sind zum Beispiel beim Volk der Nair in der indischen Provinz Kerala 95 Prozent der weiblichen Bevölkerung des Lesens und Schreibens mächtig; weit mehr als in Indiens Durchschnitt.
Sainis Buch betont auch, dass weibliche Führung in entscheidenden Situationen nicht nur für Frauen Vorteile bietet, sondern auch für Männer: Es werden Beispiele von Völkern angeführt (z. B. die Khasi/Indien), bei denen die Männer sich ausdrücklich für Frauen als Entscheidungsträger in politischen Fragen aussprechen, wie zum Beispiel Friedensverhandlungen oder die gerechte Zuteilung von Ressourcen. Ein anderes berühmtes Beispiel für die hohe Effektivität weiblicher Entscheidungsträgerinnen ist das Zustandekommen einer Union der als Irokesen bezeichneten fünf Völker Seneca, Mohawk, Oneida, Onondaga und Cayuga. Dieser 1590 erreichte Zusammenschluss brachte Frieden über die bis dahin vehement verfeindeten Gruppen. Dieses Gesellschaftssystem kannte auch das Prinzip der Gewaltenteilung: Die Häuptlinge waren Männer, aber sie wurden in der Regel von Frauen gewählt und konnten auch von Frauen abgesetzt werden. Des weiteren waren Frauen sexuell selbstbestimmt und konnten sich scheiden lassen. Letzteres war in den meisten westlichen, vermeintlich aufgeklärten Gesellschaften bis vor kurzer Zeit nicht möglich.
Keine eindeutigen Antworten
Die Fragen, ob vor langer Zeit weibliche Vorherrschaft der Normalfall war und warum Patriarchate dann die Oberhand gewannen, treffen auf das Problem nicht vorhandener schriftlicher Überlieferungen, äußerst magerer archäologischer Funde beziehungsweise geringer Gewissheit diese richtig zu deuten.
Dies ist auch Sainis große Herausforderung: Das Buch kann keine letztendlichen eindeutigen Antworten geben. Die Autorin beschreibt alle bedeutenden Hypothesen und Theorien und legt dabei eine wissenschaftliche oder zumindest auf Plausibilität gebaute Sichtweise an den Tag. Dies wird auch durch das reichhaltige Quellenverzeichnis untermauert.
Trotz des erwähnten Mangels an soliden Belegen für ehemalige weibliche Vorherrschaft und an Gründen für deren Niedergang, sticht ein Erklärungskonzept hervor: Männliche Kontrolle der Ressource Frau beziehungsweise der Fähigkeit, Nachkommen auszutragen; unter anderem aufgestellt vom Ethnologen Lewis Henry Morgan, der selbst bei Natives in Nordamerika lebte und deren Lebensweise erforschte.
Bemühungen, männliche Dominanz zu festigen, benutzen sehr oft die Religion als Rechtfertigung – Beispiele: Gemäß des Korans hat die Frau dem Mann zu gehorchen. Und Kardinal Ratzinger schrieb in einem Brief an die katholischen Bischöfe, dass nach Einfluss strebende Frauen Familien und Menschen schädigten.
Das Buch bietet auch einen Ausflug ins alte Zentralasien, wo Frauen bis zur Befreiung durch den Kommunismus teilweise extrem unterdrückt wurden. Ebenso wird der Kommunismus selbst bezüglich seiner Erfolge und Misserfolge bei der Gleichberechtigung beleuchtet. Der Situation der Frauen im heutigen Iran wird ebenfalls ein langer Textabschnitt gewidmet.
Als Warnung davor, die bisherigen Errungenschaften der weiblichen Selbstbestimmung wieder zu verlieren, werden aktuelle Tendenzen der Rückkehr von Frauen in traditionelle Rollen (z.B. Tradwives) geschildert.
Trotz der großen Schwierigkeit, die im Buchtitel enthaltene Fragestellung – "The Patriarchs – How men came to rule" – ultimativ zu klären, ist Angela Sainis Werk eine wichtige, wissenschaftlich angesetzte Zusammenfassung und Bewertung bisheriger Theorien.
Das Buch ist also in der Methode wissenschaftlich, will aber auch ein hoffnungsvolles Statement einschließlich Botschaft geben: Die weitgehende Vorherrschaft patriarchaler Systeme ist nicht naturgegeben; es gibt keine genetische Rechtfertigung dafür, männliche Vorherrschaft unbedingt zu zementieren. Diese Erkenntnis des wohl nicht zufällig pink-violetten Buchs hilft, weitere Bemühungen im Streben nach Gleichberechtigung von Frauen zu stärken und zu motivieren.
Angela Saini, The Patriarchs – How Men Came to Rule, Beacon Press, Boston 2023, 305 Seiten