(hpd) Die Überschrift ist dem Schlusssatz entlehnt, der den analytischen Teil des neuen Buches von Peter Schulz-Hageleit,
Gründungspräsident der Humanistischen Akademie Berlin, abschließt. Er lautet: „Der Fortschritt des Menschseins und der menschlichen Beziehungen ist ein Jogger, der in Bewegung bleibt, auch wenn er manchmal auf der Stelle tritt und nicht voranzukommen scheint." (S. 195) Der Autor sieht mehrere „Jogger und Joggergruppen unterwegs". (ebd.)
Da der Rezensent selbst solche rennenden Leibesübungen mit sich nicht veranstaltet, hat er einige theoretische Probleme hinsichtlich der tieferen Deutungen des Sinnbildes vom Fortschrittsjogger. Er beschränkt sich deshalb auf die traditionelle Beurteilung des gedruckten Textes, obwohl ihm dabei zumindest einfällt, dass der sitzende Mensch (weil sesshaft) allgemein als fortschrittlicher angesehen wird als der laufende Nomade, was dieser aber durchaus anders zu sehen vermag. Und genau dies ist die Crux mit dem „menschlichen Fortschritt". Denn seit einigen tausend Jahren ist der Mensch – evolutionsbiologisch gesehen – gleich geblieben. Woher soll also ein Fortschritt kommen, dazu noch ein „menschlicher"?
Menschlichkeitsglauben
Gewiss, er hat gelebt und lebt in verschiedenen Kulturen. Die Schwierigkeit mit dem „menschlichen Fortschritt" ergibt sich daraus und aus der Doppelung des Begriffs „Mensch" – einmal als Natur- und einmal als Kulturwesen, wobei letzterer Begriff dann zugleich noch wertend ist: menschlich versus unmenschlich bzw. „tierisch", „viehisch" – wie die Philosophie des 18. Jahrhunderts, mit Kant an der Spitze, einteilte.
An diesen Autor knüpft Schulz-Hageleit gleich eingangs an und adaptiert dessen Grundthese („der Mensch ist ein Tier"), um sie als kulturelle Frage (der Mensch ist anders als das Tier und das Menschsein ein anderes als das Tiersein) an historischen Beispielen zu diskutieren, s. Inhaltsverzeichnis im Anhang.
Da die Antwort des Autors letztlich darauf hinausläuft, Fortschritt als solchen im wachsenden Bewusstsein über das Menschsein zu sehen (das sich in sozialen Einrichtungen niederschlägt und in zwischenmenschlichen Beziehungen sichtbar wird), kommen als Belege v.a. Äußerungen des Bewusstseins infrage. Diese sind aber selbst lediglich kulturelle (oder in religiös geprägten Kulturen religiöse) Annahmen. Die Universalität der Menschenrechte (z.B.) – eine Grundposition des Humanismus – ist eine solche Annahme, eine Behauptung, letztlich ein Bekenntnis zu bestimmten Einsichten – oder, wenn man so will, ein Glaube. Letzteren Begriff vermeidet Schulz-Hageleit, aber er diskutiert den Sachverhalt, den dieser spiegelt, dennoch.
Fortschritt als Fortschrift
Der Autor befriedigt mit seinem neuen Buch – abgesehen davon, dass es erfreulich reichlich illustriert ist – zwei Leserbedürfnisse: Er diskutiert Humanität vom weltanschaulichen Humanismus aus (sozusagen aus innerer Berufung des Autors); und er liefert ein praktisches Hilfsbuch für Geschichtsdidaktiker (immerhin sein Hochschullehrerberuf). Fortschritt (manchmal meint man, es sei tatsächlich von der Fortschrift menschlicher Einsichten die Rede) heißt nach Schulz-Hageleit „zivilisatorische Vorwärts-Bewegung" hinsichtlich (zugegebenermaßen recht allgemeiner und zudem strittiger, aber doch klarer und verstehbarer) Bewertungskategorien: interaktive Lebendigkeit, kulturelle Triebsublimierung und engagierte Emanzipationsbeteiligung.
Eine tiefere Begriffsklärung findet nicht statt, aber in der Mitte des Buches werden (der Didaktiker versteht sein Handwerk) Zwischenbilanzen gezogen und am Ende Materialen angefügt (samt einer umfänglichen Bibliographie und einem Index). Schulz-Hageleit steigt geradewegs in ausgewählte Geschichtsthemen ein, die dann diskursiv weiter verfolgt werden (z.B. Dreyfuss-Skandal und Zolas Haltung plus Gründung der Liga für Menschrechte; besonders das Sklaverei-Thema).
Menschen als „der Mensch"
Auf der Suche nach dem menschlichen Fortschritt findet und beurteilt der Autor historische Geschehnisse mit humanitär-exemplarischem Charakter – und dies in deren Ambivalenz. Es werden diese geschichtlichen Ereignisse – und dies ist ein Grundzug im Schrifttum von Schulz-Hageleit – einer kulturellen Vision zugeordnet, eben dem menschlichen Fortschritt, wie ihn der Autor sieht und befördern möchte.
Er stellt diese Vorgänge weniger, wie ein ethnologisch bzw. sozialwissenschaftlich arbeitender Kulturhistoriker es tun würde, in die Geschichte hinein und beurteilt sie von dort heraus nach dem Motto: Was zu denken war den Zeitgenossen überhaupt möglich?
Er sucht den „Erkenntnisfortschritt" – unter heutigem Blickwinkel. Er will erklären: „Wie beurteilten die Menschen früher das, was wir heute für Fortschritt halten?" (S.52) Dabei möchte er nichts beschönigen, sondern die „Zukunftsräume relativieren". Er gibt Lernhilfen, Zeitbedingtheit zu verstehen. Aber ist die kapitalistische Wende im 18./19. Jahrhundert nicht viel grundsätzlicher gewesen, gerade hinsichtlich der Erfindung des menschlichen Fortschritts (Bsp.: Condorcets Kulturbild hin zu irdischer Verankerung im Diesseits, vgl. S.201ff)?
„Fortschritt" ist sehr neues Denken und der kulturelle und auch säkularisierende Bruch durch das Industriezeitalter wohl grundsätzlicher gewesen, als das vorliegende Buch vermittelt. So fruchtbar die Schulz-Hageleit'sche Suche nach dem humanistischen Menschenbild von heute und seinem geschichtlichen Werden ist, so fließend und zugleich grundsätzlich sind doch die Grenzen hinsichtlich dessen zu sehen, was das Menschsein jeweils ausmachte, nicht nur hinsichtlich der alltäglichen wie übergreifenden Wertvorstellungen, sondern: Es musste überhaupt erst entdeckt werden. Das Davor war eine andere und insofern unmenschliche Zeit, weil – wie Foucault es in „Die Ordnung der Dinge" ausdrückt – „Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht." Und der nun entdeckte Mensch war kulturell und naturvergessen – ein Mann.
„Gottes-Thema"
Der von Schulz-Hageleit gebündelte Stoff ist gut lesbar (ein Anti-Jaspers, wenn man so will). Ihn prägt das „dialogische Verstehenwollen", das „der ethisch-emotionalen Kritik zur Seite gestellt" (S.53) wird. Argumentativ angefügt wird ein ganzes Kapitel „Bausteine einer Konzeptionierung", das dem Menschlichen im menschlichen Fortschritt Beispiele, auch aus der Kunst, beigibt.
In diesem Zusammenhang kommt der Autor explizit auf das „Gottes-Thema" zu sprechen. Seine Antwort ist typisch für den modernen Humanismus, der nicht mehr das Alpha und Omega seiner Weltanschauung in der atheistischen Religionskritik sieht, sondern nach Bündnispartnern in der Menschlichkeit auch in den Trägern von Religionen Ausschau hält:
„Ob unser Bedürfnis nach 'Sinn' durch Gott befriedigt wird (Gebet, Gemeinsamkeit der Glaubenspflege, gottähnliche Philosophie-Begriffe usw.) oder Gott einer humanistischen, aufs Irdische begrenzten Sinngebung Platz machen muss, das ist biographisch und geschichtsanalytisch interessant, für den menschlichen Fortschritt aber unerheblich. Auf das praktische Koalieren und Kooperieren für Menschenwürde und ihre verschiedenen Komponenten - darauf kommt es an. (S.74)
Freiheitsmissbrauch und Joggerinnen
Die Lektüre des Buches von Schulz-Hageleit wird auch deshalb hier empfohlen – und damit komme ich auf das Eingangsthema zurück – weil der Text in einen Streit hinein erscheint, der sich oberflächlich betrachtet als Widerpart zwischen idealistischem und evolutionärem Humanismus darstellt, aber doch wohl ein Diskurs im modernen Humanismus ist.
Neuere Befunde der Hirn- und Evolutionsforschung scheinen zu belegen, dass das Gute im Menschen als Naturwesen angelegt ist, das soziale Zustände befördern oder nicht. Wenn dem so ist, dann ist die Grundannahme dessen, was der Mensch ist, der da fortschreitet, wie sie in einem Humanismus tradiert wird, der sich zu sehr auf den Philosophen Immanuel Kant und weniger auf den Ethnologen Georg Forster gründet, einfach falsch, nämlich dass es darauf ankomme, das Tierische (was wir mit Wildenten und Primaten als Naturwesen gemein haben, etwa oder gerade in den Trieben, der Sexualität) zu unterdrücken, zu zähmen, zu sublimieren usw.
Abgesehen davon, was als „das Tierische" auch immer angenommen wird, es ist sowieso meist kulturell definiert. Es käme – so ein anderer Ansatz als der von Schulz-Hageleit – vielleicht darauf an, bestimmtes „Tierisches" sich entfalten zu lassen in bewusster Ablehnung von Kants These „Denn er [der Mensch, HG] missbraucht gewiß seine Freiheit ...". Woher stammt diese Gewissheit? Sind das nicht Reste der „Erbsünde"? Diese hat bekanntlich ein Weib begangen – glücklicherweise gibt es inzwischen auch Joggerinnen.
Horst Groschopp
Peter Schulz-Hageleit: Menschlicher Fortschritt – gibt es den überhaupt? Geschichte – Ethos – Bildung. Herbolzheim: Centaurus Verlag 2008, 228 S., 24 Abb., ISBN 3-8255-0692-6, 19,90 € (Geschichte und Psychologie, 14).