Unverständlicher Lehrmeister

Der Buddhismus betone zwar die Individualität jedes Menschen, der in sich selbst nach dem eigenen Weg zu persönlichem Glück suchen müsse. Gleichzeitig richte er sein Augenmerk jedoch auch auf die Einbettung in die Gemeinschaft, ohne die kein Mensch existieren könne.

Alle Religionen enthielten diese Ausrichtung auf einen Weg zum Glück, fährt der 74-jährige Lama fort. Allerdings beschritten sie dabei unterschiedliche Wege. Doch solle man sich hierbei auch immer auf die eigenen Traditionen und kulturellen Wurzeln besinnen.

Neben dem Dank für die Doktorwürde drückt Gyatso seine Freude darüber aus, dass nicht nur an der Philipps-Universität in Marburg die tibetische Sprache und Kultur erforscht und vermittelt wird. Budhistische Zentren seien zwar "schön und gut für diejenigen, die den Buddhismus kennen lernen oder praktizieren wollen", doch bevorzuge er die Universitäten als Institutionen einer systematischen wissenschaftlichen Herangehensweise an den tibetischen Buddhismus.

Mögen diese Worte vielleicht auch nur dem Dank an die Philipps-Universität geschuldet sein, so dürften viele Buddhisten sie sicherlich nicht gerade gerne hören, denke ich. Aber vielleicht sind sie ja wirklich nur Ausdruck der Höflichkeit des Dalai Lama und seiner erklärten Strategie, sich immer auf das jeweilige Publikum einzustellen.

Nach kaum zehn Minuten beendet der Dalai Lama seine Dankesrede. Dann fordert er das Publikum auf, ihm doch Fragen zu stellen.

Ein Gast möchte wissen, was jeder Einzelne für den Frieden tun könne. Die Antwort des Gefragten bleibt recht unklar. Ich verstehe in etwa, dass man seine Bedürfnisse und den eigenen Egoismus einschränken solle.

Roland Stürmer fragt nach dem Verhältnis des Geehrten zu Homosexualität und nach einer sektiererischen Abspaltung innerhalb des Buddhismus. Stürmer gehört als ehrenamtliches Mitglied der Grünen dem Magistrat der Universitätsstadt Marburg an.

Der Dalai Lama antwortet, dass jeder auch sexuell so leben solle, wie es ihm Spaß mache. Doch wer sich einer Religion zuordne, der müsse ihre Positionen auch zu diesem Thema achten. Viele Religionen verstünden Homosexualität als eine Art von "Miss-Sexualität". Er selbst betrachte das zwar anders, doch der Buddhismus sehe es genau so.

Damit beantwortet der Dalai Lama zugleich eine weitere Frage Stürmers, der auch nach dem Verhältnis des Geehrten zur Demokratie gefragt hatte: Im Buddhismus entscheide ein Gremium von Mönchen, erklärt der Dalai Lama. Kein Einzelner genieße uneingeschränkte Macht. Das gelte auch für ihn selbst.

Die Äußerungen des Lamas zu der Sekte sind noch schwerer nachvollziehbar als seine sonstigen Aussagen. Er habe sich von dieser Richtung, die ihn einst ausgebildet und erzogen habe, im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der westlichen Welt abgewandt, erklärt der Dalai Lama.

Inzwischen ist es schon Mittag. Irgendjemand gibt dem Redner ein Zeichen, dass er zum Schluss kommen solle.

"Lunchtime!", ruft der Tibeter erfreut. Man merkt ihm an, dass ihm angesichts der Essensdüfte im Raum schon der Speichel im Munde zusammenläuft.

Doch vor dem Mittagessen erhält der Dalai Lama noch die Urkunde. Der Präsident und die Dekanin überreichen ihm das Dokument gemeinsam.

Von dieser Übergabe können die Gäste im Saal jedoch kaum etwas mitbekommen. Dicht gedrängt umringen Kameraleute und Fotografen die Szenerie. Die Besucher stehen auf, um überhaupt einen Blick von dem Vorgang zu erhaschen.

Dem Pianisten Albert Kaul, dem Marburger Oberbürgermeister Egon Vaupel, dem Universitätspräsidenten, der Dekanin und den beiden Laudatoren überreicht der Religionsführer je einen weißen Gebetsschal. Dann schreitet er durch den Gang zum Rittersaal.

Auf dem Weg durch die Reihen schüttelt er die Hände der Umsitzenden. Auch meine Nachbarin erhascht im Vorübergehen seine kalte Hand. "Von irgendwelchen Energien habe ich nichts gespürt", berichtet sie etwas enttäuscht. Kurz darauf schließt sich hinter dem Dalai Lama die Tür zum Rittersaal.

Der Empfang findet anschließend im Foyer statt. Es gibt Sekt und Kaltgetränke, Laugenbrötchen und gefüllte Blätterteigtaschen. Ein Magistratsmitglied beklagt sich bei mir, dass die Fotografen ihm den Blick auf den Dalai Lama beim Eintrag ins Goldene Buch verstellt hätten. Kaum einer der Anwesenden hat alles verstanden, was der Dalai Lama gesagt hat.

Wir machen uns auf den Heimweg. Mit dem Lift fahren wir hinab zur Garderobe und holen dort die Handtasche meiner Begleiterin ab. Im Innenhof des Schlosses warten die Fotografen auf den Dalai Lama. Er sitzt noch im Rittersaal beim Mittagessen.

Drei Fernsehteams und acht oder neun Fotografen haben die gesamte Veranstaltung dokumentiert. Die Zahl der Journalistinnen und Journalisten von Zeitungen und Hörfunk dürfte noch wesentlich größer gewesen sein.

Es ist 13.20 Uhr, als wir den Schlosshof verlassen. Draußen steht eine dicke Limousine. Auf dem Vorhof des Schlosses warten 15 Polizei-Motorräder auf den Dalai Lama. Hinter Absperrgittern harren gut 100 Menschen aus, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Gegen 13.40 Uhr verlässt eine Kolonne von vier zivilen Autos, zwei Polizeiwagen und den 15 Motorrädern das Schloss. Im Vorüberfahren winkt der Dalai Lama den Schaulustigen hinter den Gittern freundlich zu. Kurz wendet er sich auch zu uns herüber, bevor sein Wagen davonbraust.

Kurz vor 14 Uhr hält unser Taxi auf dem Vorhof des Schlosses an. Die Zufahrt ist wieder freigegeben. Wir steigen ein und fahren heim.