"Falls Sie befürchten, religionskritische Zeichnungen könnten Sie dazu verleiten, in die Luft zu gehen oder, schlimmer noch, andere in die Luft zu sprengen, beenden Sie das Video unverzüglich!", lautet die Triggerwarnung zu dem "Free Charlie!"-Film, der heute zum 10. Jahrestag des Anschlags auf Charlie Hebdo auf dem YouTube-Kanal der Giordano-Bruno-Stiftung veröffentlicht wurde. Es ist ein entschiedener Aufruf, sich von Fundamentalisten nicht einschüchtern zu lassen.
Das Attentat auf die Charlie Hebdo-Redaktion löste 2015 weltweit Bestürzung aus. Allein in Paris gingen 1,5 Millionen Menschen auf die Straße. An den Solidaritätskundgebungen beteiligten sich damals auch deutsche Politikerinnen und Politiker – doch es blieb bei der Symbolpolitik: Gesetzesänderungen wurden hierzulande nicht vorgenommen, obgleich es offenkundig war, dass die überlebenden Mitglieder der Charlie Hebdo-Redaktion nach deutschem Recht hätten verurteilt werden können. Schließlich animierten ihre religionskritischen Zeichnungen Fundamentalisten dazu, Terrorakte zu begehen, was nach Paragraf 166 des Strafgesetzbuches mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren geahndet werden kann.
Um eine derartige "Täter-Opfer-Umkehr" künftig auszuschließen, ging vor einem Jahr die "Free Charlie!"-Kampagne an den Start, die sich zum Ziel gesetzt hat, den alten "Gotteslästerungsparagrafen" 166 aus dem Strafgesetzbuch zu verbannen. Der heute veröffentlichte 35-minütige Film liefert starke Argumente dafür, an dieser Gesetzesreform trotz des Bruchs der Ampelkoalition festzuhalten. Er führt einerseits die "befreiende Kraft der Satire" vor Augen, die eine wichtige Rolle im europäischen Aufklärungsprozess gespielt hat, andererseits beleuchtet er die "fatalen Wirkungen der religiösen Zensur", die seit jeher – und inzwischen wieder verstärkt – die Grundprinzipien einer offenen, produktiven Streitkultur untergräbt. "Der Freiheitsgrad einer Gesellschaft lässt sich am besten daran ermessen, wie groß der Spielraum ist, den sie ihren Satirikerinnen und Satirikern einräumt", heißt es dazu im Video.
Sollte man Rücksicht auf religiöse Gefühle nehmen?
Das Filmdrehbuch greift auf einen ausführlichen Aufsatz zurück, den der Philosoph und Vorsitzende der Giordano-Bruno-Stiftung Michael Schmidt-Salomon für den heute ebenfalls erschienenen Karikatur-Band "Free Charlie! Satire kann man nicht töten" verfasst hat. Einige Zeichnungen aus dem Band hat Regisseurin Ricarda Hinz in den "Free Charlie!"-Film eingebaut – was ihrer Videodokumentation trotz des ernsten Themas einen subversiven Witz verleiht, was religiöse "Humorallergiker" jedoch durchaus auch auf die Palme bringen könnte, wenn sie der Empfehlung der eingangs zitierten Triggerwarnung nicht Folge leisten.
"Sollte man Rücksicht auf die offenbar doch sehr leicht verletzbaren religiösen Gefühle der Strenggläubigen nehmen?", fragt Autor Michael Schmidt-Salomon und gibt darauf eine klare Antwort. "Nein, denn dies würde die Werte der Offenen Gesellschaft massiv gefährden und das Krankheitsbild der fehlenden Kritik- und Humortoleranz bei religiösen Fundamentalisten nur noch verschlimmern!" Schmidt-Salomon zufolge sollten wir damit aufhören, "eine rückgratlose Appeasement-Politik gegenüber Extremisten an den Tag zu legen". Stattdessen gelte es, "die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung offensiv zu verteidigen", wofür unter anderem die Abschaffung des alten "Gotteslästerungsparagrafen" 166 zwingend erforderlich wäre.
Die unrühmliche Geschichte des Paragrafen 166
Großes Gewicht legt der "Free Charlie!"-Film auf die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des "Gotteslästerungsparagrafen", der im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, der Nazidiktatur und auch in der Bundesrepublik Deutschland stets die gleiche Funktion hatte. Es ging nämlich immer darum, den "umstürzlerischen, zersetzenden Geist" einzudämmen – wie es der deutsch-jüdische Schriftsteller Kurt Tucholsky einst formulierte, der bereits in den 1920er Jahren für die Abschaffung des "mittelalterlichen Diktaturparagrafen" eintrat.
"An der grundlegenden Funktion des Paragrafen hat auch die Große Strafrechtsreform wenig geändert", erklärt die stellvertretende Vorsitzende des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) Jessica Hamed, die als Moderatorin durch den "Free Charlie!"-Film führt. "Seit 1969 erscheint Paragraf 166 StGB zwar in einem moderneren, weltanschaulich neutral wirkenden Gewand – praktisch jedoch blieb zunächst alles beim Alten. Denn mithilfe des Paragrafen wurden weiterhin nur Satiriker und Religionskritiker verfolgt, während christliche Fanatiker, die in harschen Worten gegen 'die Ungläubigen' wetterten, niemals belangt wurden."
Im Zuge des Säkularisierungsschubes, der im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts einsetzte, gewöhnten sich deutsche Christinnen und Christen so sehr an Religionskritik und -satire, dass sie nicht mehr auf die Barrikaden gingen, wenn ihr Glaube karikiert wurde. Anfang der 2000er Jahre sah es daher so aus, als würde der "Gotteslästerungsparagraf" juristisch in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Doch dies änderte sich 2006 schlagartig mit dem sogenannten "Karikaturenstreit", der von dänischen Muslimbrüdern nach der Veröffentlichung einiger Mohammed-Karikaturen angezettelt wurde und mehr als 100 Menschen das Leben kostete: "Die zaghaften Reaktionen westlicher Politiker*innen auf diese Gewalteskalation wurden von nationalen wie internationalen Islamisten aufmerksam verfolgt", heißt es dazu im "Free Charlie!"-Film. "Sie erkannten, dass Paragraf 166 ein perfektes Einfallstor ist, um ihre freiheitsfeindlichen Überzeugungen in die deutsche Gesellschaft hineinzutragen."
Deutsche Staatsanwälte als Handlanger von Islamisten
Wie dies konkret aussieht, verdeutlicht die Videodokumentation anhand von aktuellen Fällen aus der Hansestadt Hamburg: 2022 demonstrierten liberale Muslime und Ex-Muslime vor dem (inzwischen verbotenen) Islamischen Zentrum Hamburg (IZH) gegen die Menschenrechtsverletzungen im Iran, wobei sie ihre Empörung über die Verbrechen dieser theokratischen Diktatur auch dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie einen Koran zerrissen. Kurz darauf intervenierte das iranische Mullahregime auf mehreren Ebenen und drohte damit, dass es zu Gewalttaten wie beim "Karikaturenstreit" kommen könnte, falls die Demonstranten nicht juristisch zur Rechenschaft gezogen würden.
Wie reagierten nun die deutschen Behörden und das zuständige Gericht auf diese islamistischen Einschüchterungsversuche? Bedauerlicherweise positionierten sie sich nicht an der Seite der irankritischen Menschenrechtsaktivist*innen, sondern stellten ihnen auf der Basis von Paragraf 166 StGB Strafbefehle in Höhe von 60 bis 90 Tagessätzen zu. Im Film wird dies folgendermaßen kommentiert: "Die Hamburger Fälle belegen in drastischer Weise die Problematik des 'Gotteslästerungsparagrafen', denn es ist offensichtlich: Paragraf 166 StGB verdammt deutsche Staatsanwaltschaften dazu, als Handlanger von Islamisten zu agieren!"
In diesem Zusammenhang geht der "Free Charlie!"-Film auch darauf ein, dass theokratische Staaten wie die "Islamische Republik Iran" auf internationalem Parkett dazu übergegangen sind, die UN-Forderung nach der Abschaffung aller Blasphemiegesetze mit dem Hinweis auszukontern, dass das säkulare Deutschland die "Beschimpfung religiöser Bekenntnisse" ebenfalls mit mehrjähriger Haftstrafe bedrohe: "Allein diese Instrumentalisierung der deutschen Gesetzgebung sollte ausreichen, um Paragraf 166 StGB aus der deutschen Rechtsordnung zu verbannen. Immerhin kritisieren deutsche Regierungen schon seit vielen Jahren die Blasphemiegesetze in islamischen Ländern. Diese Kritik hätte deutlich mehr Gewicht, würde Deutschland durch Abschaffung des eigenen 'Gotteslästerungsparagrafen' mit gutem Beispiel vorangehen."
Paragraf 166 schützt Antisemiten
Hart ins Gericht geht der "Free Charlie!"-Film auch "mit dem im politischen Berlin verbreiteten Vorurteil, Paragraf 166 StGB könne eine weitere Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland verhindern". Diese Auffassung beruhe nämlich auf einer "zweifachen Fehleinschätzung": "Sie verkennt erstens die grundlegenden juristischen Zusammenhänge – Antisemitismus wird bekanntlich über Paragraf 130 StGB (Volksverhetzung) geahndet, nicht über Paragraf 166 StGB! – sowie zweitens die zentrale Ausrichtung des 'Gotteslästerungsparagrafen', der seit jeher mit antijüdischen Ressentiments aufgeladen ist."
Bereits "Kirchenvater" Ambrosius habe geglaubt, dass Ketzer und Juden "nichts anderes als Brüder im Geiste" seien – eine Denkhaltung, die, wie Michael Schmidt-Salomon erläutert, "über das Mittelalter, das Deutsche Kaiserreich und die Nazizeit bis in die Gegenwart hinein erhalten geblieben ist". Auch dafür seien die Anschläge des 7. Januar 2015 symptomatisch, die sich eben nicht nur gegen Charlie Hebdo richteten, sondern auch gegen den jüdischen Supermarkt "Hyper Cacher": "Dass am 7. Januar 2015 nicht nur religiöse Juden, sondern auch Karikaturisten ermordet wurden, ist alles andere als Zufall, damit tritt vielmehr ein Kernelement der faschistischen – hier: der islamofaschistischen – Ideologie zum Vorschein. Denn schon für die Nationalsozialisten galt die satirische Behandlung 'des Höchsten' als 'typisch jüdisch', als markanter Ausweis der angeblich 'kulturzersetzenden Wirkung' des 'jüdischen Weltgeistes'."
"Tatsächlich gab und gibt es unter den bekannten Karikaturisten und Satirikern der Welt überproportional viele Menschen jüdischer Abstammung", heißt es dazu im Film. "Einer von ihnen war der Zeichner Georges Wolinski, der am 7. Januar 2015 in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo ermordet wurde. Sein Beispiel allein zeigt schon, wie absurd die im politischen Raum verbreitete Vorstellung ist, Paragraf 166 StGB könne antisemitische Angriffe verhindern. Säkulare Juden wie er wurden niemals mithilfe eines 'Gotteslästerungsparagrafen' geschützt, sondern verfolgt. Fakt ist: Paragraf 166 StGB schützt Antisemiten, er schützt nicht vor Antisemitismus!"
"Free Charlie! Der Film zum 10. Jahrestag des Anschlags auf Charlie Hebdo".
Kamera, Schnitt & Regie: Ricarda Hinz, Moderation: Jessica Hamed, Musik: Julian Held
Nichtkommerzielles Bildungsvideo. Aufführung und Verbreitung ausdrücklich erwünscht!
Veröffentlicht auf dem YouTube-Kanal der gbs am 7.1.2025
Das Buch zum Film erscheint ebenfalls am 7.1.2025 im Alibri Verlag.
4 Kommentare
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Kommentare
A.S. am Permanenter Link
In einer Regierung mit CDU/CSU-Beteiligung wird der §166StGB bestimmt nicht gestrichen.
Wir sollen parallel zu einer anderen Maßnahme greifen: Aufklärung darüber, dass und Religion indoktriniert wir durch "religiöse Erziehung".
Ich weis aus meiner Gesprächserfahrung mit Gläubigen, dass sie nach der Frge: Warum ist der eine Mensch katholisch, der andere evangelich, wiederum andere hinduistisch, muslimisch, etc. sehr schnell einsehen, dass "Glaube" das Ergebnis religiöser Erziehung ist, also von Indoktrination im Kindeslter.
SG aus E am Permanenter Link
gbs/hpd: "[die] geschichtliche Entwicklung des 'Gotteslästerungsparagrafen', der [...] stets die gleiche Funktion hatte [...]"
Mir will scheinen, die Funktion des § 166 StGB ändert sich derzeit. Schützte der Paragraph einst die Religion der Herrschenden (und damit deren Herrschaft), so entwickelt er sich heute zu einem Paragraphen, der die Religion(en) unbeliebter Minderheiten schützt – und damit deren Menschenwürde.
In einer Gesellschaft, in der über die Hälfte der Bevölkerung eine bestimmte Religion und deren Anhänger als Bedrohung sieht, in der Diskriminierung Alltag ist und in der schon einige Anhänger dieser Religion aus rassistischen Gründen ihr Leben verloren (1) – in solch einer Gesellschaft ist zu überlegen, wie der gesellschaftliche Friede geschützt werden kann. Welche Strafrechtsparagraphen dazu dienlich sein können – und in welcher Form – darüber kann, darf und soll gerne diskutiert werden.
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(1) Der 'hpd' wird den fünften Jahrestag des 19. Februar 2020 sicherlich würdigen, nehme ich an.
malte am Permanenter Link
Ich stimme zu, dass der Paragraph heute tendenziell die Religion einer Minderheit schützt.
Und was Minderheiten betrifft: Es gibt auch Minderheiten INNERHALB von Minderheiten. Und diesen (in diesem Fall: Ex-Muslime, Atheisten) schadet der Gotteslästerungsparagraph.
Stefan Dewald am Permanenter Link
Geheimnisvolle Andeutungen, vage Gruppenbeschreibungen. Tja.
https://de.wikipedia.org/wiki/19._Februar