Nationalsozialismus als deutscher Faschismus

(hpd) Der Historiker Wolfgang Schieder präsentiert in „Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland“ eine Sammlung einzelner früherer Aufsätze, die sich mit unterschiedlichen Aspekten beider diktatorischer Systeme beschäftigen.

Auch wenn damit keine vergleichende Gesamtdarstellung vorliegt, liefern die kenntnisreichen und souveränen Beiträge differenzierte Beurteilungen, erkenntnisfördernde Deutungen und neue Perspektiven.

Obwohl der Nationalsozialismus in der Literatur nicht selten als deutsche Variante des Faschismus bezeichnet wird, mangelt es immer noch an vergleichenden Betrachtungen zu dem italienischen Vorbild. Überhaupt spielt die Mussolini-Bewegung und –Diktatur in der deutschsprachigen Literatur eine mehr als nur untergeordnete Rolle, liegt doch noch nicht einmal eine ausführlichere Gesamtdarstellung zum Thema vor. Als einer der wenigen hiesigen Historiker, der sich mit dem italienischen Faschismus näher beschäftigt hat, gilt Wolfgang Schieder. Er lehrte lange Jahre als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an den Universitäten Köln und Trier. Im Rahmen der damit verbundenen Forschungen entstanden in den 1980er bis 1990er Jahren eine Reihe von Aufsätzen, die nun erneut in kompakter Form in dem Band „Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland“ vorliegen. Sie wollen deutlich machen: „Man kann nicht vom Faschismus sprechen, wenn man nicht über den Nationalsozialismus reden will“ (S. 7).

Die zwanzig Texte gliedern sich in vier Kapitel: Zunächst geht es um den Ursprungsfaschismus in Italien, wobei etwa der Strukturwandel der faschistischen Partei, die Kriegsorientierung und die Urbanisierungspolitik behandelt werden. Danach behandelt Schieder den italienischen Faschismus als Vorbild des Nationalsozialismus, bezogen auf das Mussolini-Regime als Gegenmodell in der Krisenphase der Weimarer Republik, aber auch das Verhältnis des Staatsrechtlers Carl Schmitt zu Italien. Dem folgend steht der Nationalsozialismus als deutscher Faschismus im Zentrum, jeweils mit Ausführungen zum Profil der NSDAP vor 1933 oder dem Verhältnis des deutschen Katholizismus zum Nationalsozialismus. Und schließlich betrachtet der Autor den italienischen und deutschen Faschismus im Vergleich, verbunden mit dem Aufkommen der Bewegungen aus der Krise der Moderne und des unfertigen Nationalstaats, aber auch hinsichtlich einer allgemeinen Faschismus-Typologie und fotografischen Inszenierungen der Diktatoren.

Zusammenfassend heißt es: „Die Wesensverwandtschaft der beiden Regime ergibt sich erstens aus ihrer Entstehungsgeschichte. Deutschland und Italien können gleichermaßen als verspätete Nationen angesehen werden, die ... auch das Problem einer modernen Verfassungsschöpfung und das Problem des Übergangs in das Industriezeitalter zu lösten hatten. ... Zweitens vollzog sich auch der Prozess der Machtergreifung Mussolinis und Hitlers auf ähnliche Weise. Es war die Doppelstrategie von Bürgerkrieg und parlamentarischer Koalitionspolitik, die sowohl Mussolini wie Hitler an die Macht brachte. ... Beide Regime können drittens in ihrem Ursprung als Machtkartelle angesehen werden, in denen Mussolini bzw. Hitler ihre besondere Machtstellung einer Mittlerfunktion zwischen der radikalfaschistischen Bewegung und den kollaborierenden Machteliten verdanken. Beide Regime entwickelten sich aber viertens unterschiedlich fort, nachdem sich Mussolini etwa 1929 und Hitler etwa 1937 endgültig durchgesetzt hatten“ (S. 396).

Trotz derartiger bilanzierender und vergleichender Betrachtungen liefert auch Schieder keine systematische Erörterung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Faschismus und Nationalsozialismus, handelt es sich doch um eine Sammlung von Aufsätzen zum allgemeinen Themenkomplex mit unterschiedlichen Detailstudien. Hinzu kommt, dass es den einzelnen Texten mitunter an einer klaren Fragestellung und Struktur mangelt. Gleichwohl verdient der Band aufgrund seines hohen Informationsgehalts und der inhaltlichen Souveränität des Autors Aufmerksamkeit. Immer wieder können differenzierte Beurteilungen, erkenntnisfördernde Deutungen und neue Perspektiven ausgemacht werden. Dies gilt etwa für die Einschätzung des Kontextes von deutschem Katholizismus und nationalsozialistischer „Machtergreifung“ (vgl. S. 293f.), die Interpretation des Generationenkonflikts im militärischen Widerstand (vgl. S. 312f.) oder die vergleichende Betrachtung der fotographischen Inszenierungen von Hitler und Mussolini (vgl. S. 417-463).

Armin Pfahl-Traughber

Wolfgang Schieder, Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2009 (Wallstein-Verlag), 592 S., 39 €