„Der freiheitliche, säkularisierte Staat...“

FRIEDBERG. (hpd) „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Zur Bedeutung und zum religionslastigen Missbrauch dieses geflügelten Wortes. 

Von Gerhard Czermak

1967 prägte der katholische Juraprofessor und spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde bei der Erörterung von Fragen der Integration von Staat und Gesellschaft sein schon geflügeltes Wort: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Er schloss seine Abhandlung mit dem Gedanken, auch der säkularisierte weltliche Staat müsse wohl „letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben“, die „der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt“.

Totschlagskeule gegen Nichtreligiöse?

Damit ist die damalige Position Böckenfördes aber nur stark verkürzt und missverständlich umrissen, und vermutlich gerade deswegen wurde und wird der eingangs zitierte Satz von kirchlichen und weltlichen öffentlichen Sonntagsrednern so gern wiederholt. Ohne weiteres erkennbar ist meist die Absicht, der Religion allgemein und speziell den christlichen Kirchen eine ganz besondere Bedeutung in der Frage der Integrierung der Gesellschaft beizumessen. Daraus folgt dann wie selbstverständlich eine Legitimation des Staats, die Kirchen einschließlich der finanziellen Folgen bevorzugt zu fördern. Das geschehe im pluralistischen Staat bei Gleichberechtigung der religiösen und weltanschaulichen Vereinigungen natürlich lediglich aus der rein säkularen Sorge um das Wohl der Allgemeinheit. Wegen des großen Dienstes, den speziell die Kirchen, wie es heißt, dem Gemeinwesen insgesamt leisten, erscheint daher die öffentliche Hand geradezu verpflichtet – bei gleichzeitig selbstverständlicher Wahrung der Neutralität – sie dankbar mit besonderem Wohlwollen zu behandeln. Denn die behauptete Größe dieses Dienstes muss ja honoriert werden. Damit ist der Satz Böckenfördes zur Totschlagskeule gegen Kirchenkritiker mutiert.

Ein besonders grobschlächtiger Ausdruck solchen Denkens ist z.B. die Erklärung des seinerzeitigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger auf einem Neujahrstreff der CDU am 15.1.2006 in Weinheim zum Thema Einbürgerung, Muslime seien ihm lieber als Scientologen oder Atheisten. Deutlich ist auch die Tatsache, dass das Grundsatzprogramm der CDU von 2007 den Begriff Kirche an 9 Stellen verwendet und gar 25 mal das spezifisch Christliche (was immer das sei), während die Wertevermittlung durch andere Religionen nur untergeordnet erwähnt wird und die Nichtreligiösen in keinem Zusammenhang genannt werden, obwohl sich seit langem etwas über 50% der gesamtdeutschen Bevölkerung (unabhängig von einer ggf. formalen Religionszugehörigkeit und gesichert durch etliche seriöse repräsentative Umfragen) als nichtreligiös bezeichnen.

Mit dem Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ hat das alles überhaupt nichts zu tun, obwohl sogar Nichtgläubige manchmal unter dem Einfluss konservativer Propagandisten das falsche Verständnis übernehmen (Beispiel / Unter II.1).

Das Böckenförde-Zitat im Textzusammenhang

Für sich genommen ist der Satz ganz banal: Natürlich kann auf Dauer kein Staat funktionieren, wenn er von der großen Mehrheit seiner Bürger in seinen Grundstrukturen abgelehnt wird, unabhängig vom Inhalt seiner Gesetze. Die eingangs zitierten Passagen heben zwar, zusammen gelesen, die vorzugsweise christlichen religiösen Überzeugungen hervor, die freilich 1967 ungleich größere Bedeutung hatten als heute. Im Gesamtzusammenhang des Böckenförde-Dilemmas (auch Böckenförde-Diktum, Böckenförde-Paradoxon) verweist B. aber ohne Differenzierung auf alle in der Gesellschaft vorhandenen bindenden Kräfte. Böckenförde plädiert staatspolitisch keineswegs für eine einseitige Vorzugsbehandlung der christlichen Religion (was angesichts seiner katholischen Gläubigkeit vielleicht nahegelegen hätte). Das wird deutlich, wenn man die an den o.g. vielzitierten Zentralsatz anschließende Passage berücksichtigt: Die fehlende Garantie einer gesellschaftlichen Basis des Staats, so Böckenförde, „ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er ...nur bestehen, wenn sich die Freiheit...von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert...Es führt kein Weg über die Schwelle von 1789 [Französ. Revolution, Cz] zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören.“ Diese Position hat Böckenförde in seinem Münchener Vortrag „Der säkularisierte Staat“ von 2006 bestätigt, worauf noch einzugehen ist.

Die damalige historische Situation

Der Aufsatz von 1967 entstand in einer besonderen Situation. Dazu Böckenförde im Vorwort seiner Veröffentlichung von 2007 (s.u.): „Das wurde seinerzeit in eine Situation hineingeschrieben, in der die Vorstellung, der Staat müsse ein christlicher Staat sein und die Religion zu seiner festen Grundlage haben, noch breiten Widerhall fand...und viele Christen sich dem religiös-neutralen, sich rein weltlich verstehenden und agierenden Staat gegenüber distanziert, wenn nicht ablehnend verhielten.“ Noch zwei Jahre zuvor war ja die 1965 schließlich revolutionär erfolgte Anerkennung der allgemeinen Religionsfreiheit durch die katholische Kirche auf dem 2. Vatikanischen Konzil noch sehr umstritten. Deswegen habe er am Schluss seiner Abhandlung an die Christen appelliert, den säkularisierten Staat nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches zu erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, deren Verwirklichung auch ihre Aufgabe sei. In seinem Vortrag von 2006 erklärte B. klar, geistliche und religiöse Zwecke lägen außerhalb der staatlichen Befugnisse, was übrigens unter Verfassungsrechtlern selbstverständlich ist und sich auch klar aus dem Grundgesetz ergibt (Näheres dazu). Eine Abkehr von der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staats, auch „etwa auf dem Weg mehrheitsgetragener politischer Willensbildung“, sei – so Böckenförde – unzulässig. Zivilreligion als verbindliche „Erhaltungsideologie für den Bestand des Gemeinwesens“ lehnt B. als freiheitswidrig zu recht ab. Wichtig ist auch der Satz, der säkularisierte Staat dürfe „keiner religiösen Überzeugung... die Chance einräumen, unter Inanspruchnahme der Religionsfreiheit und Ausnutzung demokratischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen und schließlich abzubauen.“

Der bleibende positive Gehalt des Böckenförde-Diktums

Schon Ursula Neumann etwa hat (in: Kirche und Recht 1999 Nr. 980, S. 205 f.) auf die Fehlinterpretation der Aussage von B. aufmerksam gemacht. Böckenförde rekurriere nicht auf abstrakte Werte wie Religion und Nation, sondern wende sich an die Bürger, die den Staat um der Freiheit willen tragen müssen. Er habe 1967 an die Christen appelliert, ihren Widerstand gegen den Staat aufzugeben. B. hat die Richtigkeit dieser Ansicht im unmittelbaren Anschluss an Neumann (a.a.O. S. 206 f.) bestätigt und ergänzt, sein Satz habe im Kontext nicht normativen, sondern diagnostisch-analytischen Charakter. Religionsfreiheit gebe es nur bei Ablösung des Staats von der Religion und Freiheit sowohl von wie Freiheit für Religion. Noch klarer wird B. in seinem Aufsatz „Religion im säkularen Staat“ (1996). Dort weist er darauf hin, im pluralistischen Staat gehöre Religion „zu jenen Instanzen, die ethisch-sittliche Grundauffassungen und Grundhaltungen vermitteln“, also neben anderen. Freilich ist mit B.‘s ziemlich allgemein gehaltenen Ausführungen wenig gewonnen für die entscheidende Frage, welche übergreifenden Ideen denn in der Lage sind, die verschiedenen Religionen und anderen gesellschaftlichen „Instanzen“ und die Gesamtheit der Staatsbürger so zu zusammenzubinden, dass der Staat insgesamt von ihnen getragen wird. Jedenfalls aber liefert Böckenförde keinerlei Grund für die eingangs geschilderten Aspekte einseitiger Kirchenförderung.

Kritik an Böckenförde

1967 hat B. die Religion als staatstragendes gesellschaftliches Moment gesehen, wenn auch ohne die geschilderten falschen Schlussfolgerungen. Das war aber schon damals religionssoziologisch keineswegs begründet. Von Homogenität in Gesellschaft und Staat, von der er anscheinend ausging, konnte keine Rede sein. Und heute sind die vielfältigen religiösen Glaubensvorstellungen zur Sache von Minderheiten geworden (siehe hierzu etwa das umfangreiche Datenmaterial). Mit den unterschiedlichen Religionen kann man zwar jeweils Teile der Gesellschaft für sich integrieren, aber keine gesamtgesellschaftliche Integration herbeiführen. Kulturelle Vielfalt und weltanschaulicher Dissens sind Tatsache, und sogar innerreligiös, auch innerkatholisch, gibt es schwere Differenzen. Die z.T. heftigen, ja kulturkampfartigen Auseinandersetzungen besonders in bioethischen Fragen unterstreichen das. Bezogen auf die katholische Kirche kann man mit dem evangelischen Theologen Kress von „Neo-Integralismus“ sprechen, wenn man bedenkt, wie das römische Lehramt weltweit auf katholische Parlamentarier in Fragen der Bioethik, Familie und Partnerschaft bis zur Androhung der Exkommunikation Einfluss zu nehmen versucht. Ein Beispiel: In Spanien hat Kardinal Trujillo im Jahr 2005 katholische städtische Angestellte aufgefordert, homosexuelle Paare auch dann gesetzwidrig nicht zu trauen, wenn sie dadurch ihre Stelle verlieren (FAZ vom 4.5.2005). Generell sind die in den letzten Jahren verschärften gewissensbindenden autoritativen Vorgaben des katholischen Lehramts nicht geeignet, solchen Glauben als „freiheitsfördernde Ressource des säkularen Staates“ zu deuten (so Kress, S.°300). Böckenförde berücksichtigt zumindest nicht ausdrücklich, dass unsere Gesellschaft weitaus mehr durch außerreligiöse Aspekte geprägt wird (Bildung und Wissenschaft, Rechtssystem, Sport usw.) als durch religiöse.

Resultat und Ausblick

Der hier diskutierte Satz Böckenfördes war seinerzeit wegweisend, wurde aber meist bewusst fehlgedeutet, um damit B.‘s Autorität zu instrumentalisieren zugunsten einseitiger und somit ungerechtfertigter Privilegien für die Kirchen (kirchliche Dominanz im Sozialwesen, Gehaltszahlungen an Geistliche und sogar Bischöfe mit allgemeinen öffentlichen Geldern, Zahl und Umfang der Theologischen Fakultäten, Einseitigkeiten im Rundfunkwesen, staatlich finanzierte Militärseelsorge, massive finanzielle Förderung usw. usf.; eingehend G. Czermak, 2009, Art. Privilegien der Kirchen). Dazu kann sich redlicherweise niemand auf das geflügelte Wort B.‘s berufen, und solches Vorgehen sollte nach Möglichkeit deutlich zurückgewiesen werden.

Die Aussagen Böckenfördes haben aber aus heutiger Sicht klare Defizite: Zum einen gewichten sie die Bedeutung der Religion auch in ihrer aktualisierten Variante viel zu stark und setzen sich nicht mit dem Argument auseinander, dass man u.a. in Deutschland mit Religion offensichtlich keine gesamtgesellschaftliche Integration erreichen kann. Zum anderen hat B. keinen konkreten Lösungsversuch für das beschriebene Dilemma angeboten, obwohl er vom nichtchristlichen Charakter des Staats ausgeht.

Hierzu daher folgende Hinweise: Eine gesamtgesellschaftliche Integration kann im pluralistischen Staat nur eine nichtreligiöse Basis haben, die aber allen religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen und unterschiedlichen moralischen (ethischen) Überzeugungen bei formaler Gleichberechtigung Rechnung tragen muss. Wenn der Staat „Heimstatt“ aller Bürger sein will (so das Bundesverfassungsgericht), muss er daher folgende Grundregel beachten: Rechtliche Vorschriften und staatliche Verhaltensweisen sind nur auf der Grundlage solcher Argumente zulässig, die keine besonderen religiösen oder philosophischen Lehren voraussetzen. Das bedeutet, dass sowohl Freiheitsbeschränkungen wie Fördermaßnahmen nur zur Sicherung solcher Rechtsgüter erfolgen dürfen, deren Vorrang im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit neutral begründet werden kann. Das staatliche Handeln muss m.a.W. gegenüber jedermann gerechtfertigt werden können. Dieses begründungsneutrale Konzept ergibt sich genau genommen aus dem Grundgesetz. Es kennt keine spezielle Staatsideologie, sondern nur zentrale Grundregeln wie Anerkennung individueller Grundrechte, Gewaltverbot, Sicherung des inneren Friedens usw. Eine gründliche staatsbürgerliche Erziehung zu diesen staatlich-gesellschaftlichen Grundwerten (Basiskonsens) steht über den Religionen und areligiösen Auffassungen. Sie hätte, konsequent beachtet, wesentlich mehr Aussicht, wirkungsvoll zur Integration möglichst aller Bürger beizutragen, als das durch Religion und allgemeine Kulturförderung erfolgen kann. Freilich ergeben sich bei Anerkennung dieses Gedankens schwierige Detailfragen, die im Rahmen dieser Erörterung nicht behandelt werden können.

Zu einer staatlich-gesellschaftlichen Integration auf der Basis des soeben kurz skizzierten „Neutralitätsliberalismus“ des Grundgesetzes stehen freilich so fundamentalistische Vorstellungen wie die von Papst Benedikt XVI. in krassem Widerspruch. Alan Posener, Kommentator der „Welt“, hat das in seinem kürzlich erschienenen gründlichen Buch „Benedikts Kreuzzug – Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft“ eindringlich dargelegt. (Rezension1  sowie Interview und Rezension2) Auch für den katholisch-gläubigen Juristen Böckenförde muss dieser Papst eine wirkliche Katastrophe sein, wie für alle westlichen Demokratien.

Gerhard Czermak

 

Literatur:
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007, 75 S. (über: Carl Friedrich von Siemens Stiftung; enthält das Referat von 2006 und die Abhandlung von 1967);

ders.: Religion im säkularen Staat, Universitas 1996, 990-998;

Czermak, Gerhard: Moral, Religion und Recht, Artikel in ders., Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht, 2009, 250-254 (ausf. zur Integrationsproblematik);

Kress, Hartmut: Religion, Staat und Toleranz angesichts des heutigen Pluralismus. Kritische Anmerkungen zum Böckenförde-Diktum, in: Ethica 2008, 291-314;

Neumann, Ursula: Sind Christen doch die besseren Menschen? Das Märchen von der Bedeutung christlicher Wertevermittlung. (Erstveröff.: Materialien und Informationen zur Zeit, 4/1998, S. 4-18; überarbeitet unter geändertem Titel in: Aufklärung und Kritik 1/1999, 99-119.

Hinweis: Der Autor ist Verfasser von: Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht. Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft. Alibri, 2009. 400 Seiten in übersichtlichem Kleindruck, gebunden, Euro 39.-, ISBN 978-3-86569-026-2

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.