Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (III)

Was den hpd anlangt, so würde ich anregen, dass jeden Freitag eine Kolumne erscheint mit dem Thema „Religion und Werte“, und dass dort vor allem die philosophische Fraktion, aber natürlich auch die anderen Mitglieder des Beirats der Giordano Bruno Stiftung, ihre Stimme erheben. Zuerst sollten aber vielleicht die Philosophen gleichsam die ’Eckpfeiler’ abstecken.

hpd: Wie könnte so etwas aussehen? Wären es dann konkrete Themen oder wären es generelle Reflexionen?

Streminger: Das überließe ich ganz den Beiträgern. Aber grundsätzlich würde ich sagen, dass zunächst einmal Begründungsprobleme aufgeworfen werden sollten: Ist es überhaupt möglich, aus den traditionellen Glaubenssystemen Werte abzuleiten? Oder wird da nicht ein Märchen als Fundament genommen?

hpd: Das ist sicher wichtig, aber ich würde mir wünschen, dass man auch die andere Seite, die positive Seite des Humanismus diskutiert und entwickeln würde.

Streminger: Auf jeden Fall...

hpd: Ich habe mich schon häufig gefragt, warum entwickeln wir nicht ‚Bausteine’, nicht fertige Theoriegebäude, Bausteine zu konkreten Fragen, wie gehe ich damit um, zum Beispiel, wie gestalte ich eine Partnerschaft?, und bieten diese ‚Bausteine’ den Menschen an: Probiert es und wenn es gut für euch ist, behaltet und lebt es. Es gibt keinen ausschließlichen Königsweg. Du musst mit deinem Partner deinen und euren gemeinsamen Weg finden, eure Spielregeln formulieren.

Streminger: Aber so etwas gibt es schon und nennt sich praktische Ethik, wo noch viel mehr solcher Themen behandelt werden, und im Beirat der GBS sitzen die hervorragenden Experten auf diesem Gebiet: Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster.

hpd: Aber die Leistungsfähigkeit des Christentums besteht meines Erachtens u. a. darin, dass sie sowohl für die schlecht ausgebildete Bergbäuerin – die kaum zur Schule gehen durfte und als Kind die Kühe hüten musste – etwas anbietet – zum Beispiel das Bild der Mutter Gottes, des Leidens Marias, mit dem sie sich identifiziert, also aufgehoben fühlt, die verstehen mich – bis hin, mit allen Zwischenstufen, zu den abgehobensten philosophischen Diskursen wie im Mittelalter, wo sich Mönche darüber gestritten haben sollen, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz finden würden. Das ganze Spektrum zwischen diesen Polen wird abgedeckt, von ganz einfachen Dingen, mit Bildchen und Devotionalien....

Streminger: ... Moral zu predigen ist nun einmal recht einfach, sie zu begründen aber schon erheblich schwieriger,...

hpd: ...und sie tatsächlich zu leben, dann noch schwieriger...

Streminger: ...Ich fürchte nur, für einfache Gemüter ist das alles zu schwierig. Denen genügt das Versprechen und damit leben sie dann. Ich nehme nicht an, dass alle jetzt schon zu erreichen sind, nein, das wohl nicht.

hpd: Es gab eine Zeit, als 98 % der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden Großkirchen gewesen sind, warum sollen wir ausschließen, das einmal 98 % der Bevölkerung säkular denken, sie tun es doch schon zum überwiegenden Teil. Es ist doch ein auffallender Widerspruch, dass die meisten Menschen in Deutschland sich größtenteils pragmatisch verhalten, abwägen, mit Wahrscheinlichkeiten operieren und dann am Sonntag gehen sie in einen Tempel und beten ein imaginäres Alphamännchen an, das niemand kennt, noch keiner gesehen hat, unsichtbar ist. In Bremen hat mir ein Humanist einmal erläutert, wie er diesen Widerspruch aufgelöst hat. Er sei sehr evangelikal erzogen worden, dann als Jugendlicher ins Grübeln gekommen und habe eines Tages auf dem Marktplatz gesessen und gedacht, was ist, wenn es keinen Gott gibt. Er habe laut gesagt: „Es gibt keinen Gott!“ und – nichts passierte, alles blieb wie es war und er dachte sich, warum schleppe ich eigentlich diesen ganzen Ballast mit mir herum? In diesem Augenblick hatte er sich vom Religiösen gelöst.

Streminger: Wie schön für ihn. Eine schwere Last dürfte von ihm abgefallen sein. Wenn es für Menschen keinen Gott mehr gibt, dann ändert sich objektiv in der Welt zunächst einmal gar nichts, denn alles nimmt seinen gewohnten Lauf, immer noch die gleichen Naturkatastrophen etc. Aber wenn es für Menschen kein Recht mehr gibt, keine Polizei, keinen Staat, dann ändert sich sehr viel. Da sieht man, was wichtig ist und was nicht. Wir würden uns, wenn sich das Rechtssystem aufgelöst hätte, nicht mehr auf die Straße trauen; verglichen damit ist die Aufgabe des Gottesglaubens ziemlich wurscht.

hpd: Das ist ein schönes Schlusswort, das mit der Wurscht. Jetzt gehen wir essen. Herr Streminger, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Streminger: Auch ich möchte Ihnen für das Gespräch danken. Aber erlauben Sie mir, ehe wir Epikureer nach diesem Fest der Besonnenheit uns endlich kulinarischen Genüssen zuwenden, noch einmal den Kern meiner Religionskritik zusammen zu fassen.

Meine Zweifel (und die vieler anderer) gehen davon aus, dass die Beweise der Existenz Gottes misslingen und das Theodizee-Problem unlösbar ist, siehe etwa: Mackie, Das Wunder des Theismus; Hoerster, Die Frage nach Gott. Eben dies bedeutet, dass in begründeter Weise nicht behauptet werden könne, es gäbe trotz der Übel in der Welt einen gütigen und gerechten Gott. Meine Ausführungen sind Folgerungen aus dieser Überlegung. Natürlich ist es logisch möglich, dass Skeptiker irren und ihre Zweifel gegenstandslos sind. Aber solange nicht gezeigt ist, dass ein Beweis der Existenz Gottes gelingt und dass das Theodizee-Problem gelöst ist – und es gibt meines Erachtens keinerlei Hinweise dafür, dass den verschiedenen Theologen dies gelingen könnte – … solange also dies nicht gezeigt ist, solange hege ich die begründete Hoffnung, dass möglichst viele sich von der Vorstellung befreien, es gäbe ein mächtiges Wesen, das seine schützende Hand über uns alle hält. Denn die Lehre von einem gütigen und gerechten Gott ist in Wahrheit so solide wie Pudding, den man an die Wand nageln will, und ihr Inhalt ist die große Illusion der Menschheit, die Unmengen an Energien vergeudet hat (und vergeudet).

Und die humanistische Alternative? Selbst bestimmt und gut begründet dasjenige zu verwirklichen suchen, das am ehesten ein möglichst gutes Leben möglichst aller Lebewesen garantiert. Nicht mehr gilt: Durch den Tod Jesu wurde für alle der Weg zum ewigen Leben frei, sondern: Durch den Tod Gottes wurde der Weg zum Diesseits endlich wieder frei.

Aber wo bleibt denn der Sinn des Lebens?
Die Bekämpfung des Elends auf dieser Erde gibt allen unseren Anstrengungen reichlich Sinn. Dass ein bestimmtes Verhalten diesseitiges Leid mindert, ist ein hervorragender Grund, so zu handeln – und obendrein Lohn genug. Aber auch Humanisten haben Angst vor dem Tod! Wenn man ein erfülltes, sinnvolles Leben führen kann, so bereitet das Leben nach dem Tod so große Sorgen wie das Leben vor der Geburt, nämlich keine.

 

  

Für den hpd sprach Carsten Frerk mit Gerhard Streminger.

Das Interview wurde am 29. und 30. Mai in Bad Radkersburg aufgezeichnet.