Kommentar

Falscher Fetisch Atheismus

Als atheistischer Humanist, der sich immer bemüht hat, Atheismus und Humanismus nicht gleichzusetzen, könnte ich mich freuen über so viel Elfenbeinturm. Doch der Untertitel erhebt den Anspruch, auch etwas über “Herausforderungen … für Gesellschaft” mitzuteilen. Es steht zu vermuten, dass mit Gesellschaft “unsere” (gemeinsame) gemeint ist, in der Gläubige wie Ungläubige unaufgeregt ihr Leben und ihren Glauben oder Nichtglauben miteinander leben.

Doch es wird nicht nur der anmaßende Eindruck erweckt, unsereins, das Atheistenvolk, lebe in einer anderen Gesellschaft oder störe zumindest die christlich verstandene Eintracht. Es werden von jeder seriösen Sozial- und Kulturforschung, inklusive Religionswissenschaft, mehrfach widerlegte Vorurteile transportiert: “Ein kulturelles und ethisches ’Vakuum’ ist hier [in Ostdeutschland, HG] entstanden … Der Atheismus, der hier zu einem weit verbreiteten Ressentiment gegen Religion, Christentum und Kirchen geworden ist, braucht in der Gesellschaft keine Begründungen. Er versteht sich einfach von selbst.” (S. 25 f.)

Der Befund ist zunächst allgemein richtig, doch die Belege für “Vakuum” bzw. “Ressentiment” (Nachwirkungen verspüren, Abneigung fühlen, sich grollend erinnern, lebhaft empfinden, Vorurteile pflegen) bleiben aus. Die x-te Entlarvung von drei Dogmen des Materialismus (vgl. S. 54 ff.) oder die x-te Dawkins-Exegese kann nicht viel beitragen zur Antwort auf die Frage “Besser leben ohne Gott?”.

Wenn man dann schon den Streit mit atheistischen Kontrahenten sucht, findet und – wie zu erwarten war – theologisch “gewinnt”, dann kann man, wie Klinnert es tut, beruhigt feststellen – soziologischen und vor allem aber medialen Tatsachen zum Trotz –, dass der “Alltagsatheismus” (der, wie gesagt, gar nicht untersucht wird, nicht viel ist darüber bekannt) “die christlichen Kirchen vermutlich eine Art Platzhalterfunktion für die verbliebene Hoffnung [wahrnehmen], dass das menschliche Leben über seine materielle Faktizität hinaus” (S. 50 f.) ein Versprechen enthält, das es selbst nicht einzulösen vermag.

Das Leben kann ein Versprechen nicht einhalten, toll. So ist es im Leben. Was wäre ein “höheres” Leben? Selbst wenn die Kirchen tatsächlich die kulturelle Funktion (noch) hätten, uns dieses Jenseits-Versprechen schmackhaft zu machen, was bieten sie hier an für moderne Menschen, die ihre Wertvorstellungen aus vielen Quellen ziehen? Gerade der missionarische Misserfolg in Ostdeutschland im letzten Vierteljahrhundert, trotz hoher Investitionen und ganzer Jahreshaupttitel in der staatlich geförderten politischen Bildung etwa in Sachsen, zeigt doch das Problematische dieser kirchlichen Selbstperspektive. In meinem Heimatland Sachsen gibt es 2014 die höchsten Kirchenaustrittszahlen seit der “Wende”. Die Atheisten und schon gar die “neuen”, sind daran schuld? Sie kommen hierzulande nämlich fast nicht zu Wort.

Mutschler folgert: “Philosophisch und wissenschaftlich kommen wir nur an die Schwelle des Tempels. Wer hinein will, muss auch sie noch hinter sich lassen.” (S. 59) Ja, das ist es! Lassen wir Philosophie und Wissenschaft hinter uns! Es grüßt der Taliban. Was soll ich mit dem im Tempel?

 


Reinhard Hempelmann (Hrsg.): Atheistische Weltdeutungen. Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft. Berlin: Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 2014, 80 S. (EZW-Texte 232).