BERLIN. (hpd) Bereits seit Ende Oktober gibt es im Jüdischen Museum Berlin eine Sonderausstellung, die Besucher über die Tradition der (jüdischen) Beschneidung unterrichten soll. Der hpd hat bereits einmal über diese Ausstellung kritisch berichtet, nun, da die Ausstellung sich ihrem Ende nähert, war unsere Autorin, die Religionswissenschaftlerin Eva Matthes, ebenfalls dort.
Ich sage es ehrlich gleich vorneweg: Ich stehe nicht hinter § 1631d BGB, dem am 12.12.12 verabschiedeten "Beschneidungsgesetz". Ich halte es aus menschenrechtlicher Perspektive für einen Rückschritt unserer Gesellschaft und im juristischen Sinne für verfassungswidrig. Doch soll dies nicht das Thema des Berichts über meinen Besuch der Ausstellung "Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung" im Jüdischen Museum Berlin sein.
Als Religionswissenschaftlerin macht mich die Ausstellung sehr neugierig. Das Jüdische Museum Berlin ist schließlich nicht irgendwer. Ich reise mit großen Erwartungen nach Berlin. Um mir bei einem Gang durch die Ausstellungsräume selbst ein Bild zu machen von diesem - in den Medien fast durchweg gefeierten - Zugang zum Thema Knabenbeschneidung. Um an einer Führung durch geschultes Personal einer so renommierten Institution teilzunehmen. Und schließlich, um den ebenso von der Presse hochgelobten Ausstellungskatalog zu erwerben und im Nachgang ausführlich zu studieren.
Ich möchte verstehen, warum nach Inkrafttreten des Beschneidungsgesetzes gerade dessen Befürworter den enormen Aufwand betreiben, weiter zu erklären, zu erläutern und gar zu rechtfertigen. Woher kommt dieser dringende Wunsch, verstanden werden zu wollen? Genügt es nicht, dass eine nicht-therapeutische Vorhautentfernung in diesem Land nun gänzlich dem Willen der Eltern obliegt? Es geht dieser Ausstellung offensichtlich darum, nochmals zu bekräftigen, dass das Ritual der Beschneidung nun nicht nur erlaubt ist, sondern nachhaltig davon zu überzeugen, dass es hierzu auch keine Alternative gibt. Zumindest lässt das Grußwort im Ausstellungskatalog dies vermuten, wenn es dort heißt: "Unser Anliegen ist es, dem Thema der religiös motivierten Knabenbeschneidung in den drei monotheistischen Religionen Tiefe zu geben und am Beispiel von historischen Quellen und Exponaten zu zeigen, welchen essenziellen Stellenwert dieses Ritual sowohl für das Judentum als auch für den Islam bis heute hat."
Die Ausstellung
Mit Spannung betrete ich die Ausstellung. Auf dem Rundgang gibt es einiges zu entdecken. Gleich das erste Exponat, die Ganzkörperplastik eines Australiers, zeigt, dass Bestrebungen, über den monotheistischen Tellerrand hinauszusehen, bei der Konzeption der Ausstellung durchaus eine Rolle gespielt haben. So steht auf der Tafel am Fuß des männlichen Körpers: "Die Beschneidung der Vorhaut gehört bei australischen Aborigines zu einem mehrstufigen Initiationsritual." Vergebens suche ich nach der Erläuterung, was diese rituellen Stufen im Einzelnen ausmachen.
Tatsächlich ist mir bekannt, dass in jener Kultur dem heranwachsenden Mann zunächst die Vorhaut entfernt wird und – sobald die Wunde abgeheilt ist – die Harnröhre von oben bis unten aufgeschlitzt wird. Diese Information wird dem Ausstellungsbesucher unterschlagen. Schade – gerade an dieser Stelle wäre Raum gewesen für einen kulturübergreifenden Dialog. Interessant ist jedoch eine große Tafel an exponierter Stelle, die dem Besucher erklärt: "Körperliche Eingriffe gehörten jahrtausendelang zum symbolischen Ausdruck von Religionen und haben sich in einigen Regionen der Welt bis heute erhalten. Es gibt Gesellschaften, die traditionell tätowieren und skarifizieren, also Ziernarben in den Körper ritzen, die piercen und beschneiden oder andere Körpermanipulationen vornehmen." Beim Lesen dieser Zeilen fallen mir zeitgleich u. a. schlagende Studentenverbindungen und die Lotos-Füße im chinesischen Kaiserreich ein. Dementsprechend suche ich in der Nähe dieser Tafel nach Versuchen der Abgrenzung, Differenzierung oder Erläuterung. Vergeblich. Vielleicht wird die Führung Aufschluss darüber geben?
Nach diesem Einstieg geht es weiter mit der Illustrierung des Beschneidungsritus im Judentum. Verschiedene Beschneidungsinstrumente und -gewänder werden in ihrer Funktion und Bedeutung erläutert. Der Besucher erfährt beispielsweise, dass auf der Beschneidungsbank immer ein Platz freizuhalten ist, auf dem der Prophet Elia als Garant der Tradition der Zeremonie beiwohnt. Weiter geht es zur muslimischen Beschneidung. Fotoserien zeigen als Prinzen kostümierte Jungen und aufwändige Beschneidungsfeste. Ausgestellte Kostüme runden das Bild ab.
Ein weiterer Teil der Ausstellung widmet sich der Beschneidung im Christentum. Darauf bin ich ganz besonders gespannt. Leider wurde hier zu viel versprochen: Es handelt sich lediglich um die Deutung der Beschneidung Jesu so wie deren Rezeption in Kunst und Literatur im Christentum. Hier hätten zumindest christliche Gruppierungen erwähnt werden können, die die Vorhautentfernung aus religiösen Gründen praktizieren (meist mit dem Ziel, den Heranwachsenden am Masturbieren zu hindern). Die Ausstellung endet mit einer Art Kino-Raum, in dem auf Monitoren mit Kopfhörern eine Unmenge von Filmmaterial unterschiedlicher Art gezeigt wird. Die Bundestagesdebatte von 2012 ist hier ebenso vertreten wie diverse Spielfilme.
Die Führung
Um 14 Uhr beginnt die Führung. Ich freue mich, dass wir auf die Kompetenz eines Religionswissenschaftlers vertrauen können, der unsere kleine Gruppe von fünf Personen mit großem Sachverstand und viel Hintergrundwissen durch die Ausstellung begleiten wird.
Eingangs wird uns der Titel erläutert – für alle, die es bis dato nicht bemerkt haben: Die sprachliche Wendung "Haut ab!" birgt mehr als eine Interpretationsmöglichkeit. Als nächstes fasst uns der Museumsmitarbeiter zusammen, was im § 1631d BGB steht. Nämlich: Beschneidung ist jetzt aus religiösen Gründen in Deutschland erlaubt. Leider muss ich ihn da korrigieren: Entschuldigung, von Religion steht nichts im Gesetz. Darauf er: Aber es steht drin "aus kulturellen Gründen." Ich: "Nein, da stehen keine Gründe. Eltern können grundsätzlich einwilligen, ohne Angabe von Gründen." Ein anderer aus der Gruppe fügt hinzu: "Das ging auch nicht anders. Sonst wäre es ein Sondergesetz gewesen." Der Religionswissenschaftler bedankt sich für den Hinweis. Wir gehen weiter.
In einem weißen Raum, in dem an der Wand in Hebräisch und Deutsch die Aufforderung zur Beschneidung aus der Tora steht, werden wir das erste Mal gefragt, was wir empfinden, wie es uns mit dem was wir hier sehen und hören geht. Ich bin ernsthaft erstaunt! Eine sehr mutige Frage. Dementsprechend emotionale Antworten kommen auch aus der Gruppe. Z. B. "Finde ich komisch – der acht Tage alte Säugling kann doch das Wort 'Ja' gar nicht artikulieren…" Bei der nächsten Station, angesichts eines ausgestellten "Einmalbestecks", fragt eine Teilnehmerin, ob man das so im Internet bestellen kann, um die Beschneidung zu Hause durchzuführen. Wir werden belehrt, dass es laut Gesetz unter Berücksichtigung medizinischer Standards durchgeführt werden muss. Wieder muss die Gruppe korrigieren: Die Frage der Teilnehmerin sei durchaus berechtigt. Da in den ersten sechs Monaten die Beschneidung nicht zwingend von einem Arzt durchgeführt werden muss, spräche theoretisch nichts dagegen, dass der Beschneider den Eingriff mit einem "Einmalbesteck" zu Hause vornimmt. Nur findet sich in dem Tütchen nichts, das eine angemessene Anästhesie sicherstellen könnte – was man normalerweise als medizinischen Standard bei Operationen selbstverständlich voraussetzt.
Beim Thema Islam ist es dann wieder soweit: Die Gruppe wird gefragt, wie sie das bisher Gesehene empfindet. Als die Reihe an mir ist, nehme ich Bezug auf den ersten Raum, den mit dem australischen Aborigine und dem Hinweis auf die jahrtausende alte Tradition körperlicher Manipulationen in vielen Kulturen. Ich stelle die Frage: "Wie grenzt sich diese Ausstellung in ihren Aussagen beispielsweise von der weiblichen Genitalverstümmelung ab? Ich bekomme eingangs erklärt, wie alt und wie vielfältig Körpermanipulationen in unterschiedlichen Kulturen sind. Wenn für die Knabenbeschneidung hier so vehement um Akzeptanz und Respekt geworben wird, wie distanziert sie sich z. B. von Klitorisbeschneidungen?" Die Antwort des Religionswissenschaftlers: "Die weibliche Genitalverstümmelung ist etwas vollkommen anderes. Das kann man nicht miteinander vergleichen."
Leider ist das keine Antwort auf meine Frage. Vielleicht hätte ich sie anders formulieren und statt "Genitalverstümmlungen" einen x-beliebigen anderen Brauch nennen sollen. Jedenfalls werde ich mich weiter darüber wundern, dass das Jüdische Museum hier nicht allen Missverständnissen prophylaktisch einen Riegel vorgeschoben hat.
Im Raum über das Christentum schließlich stehen wir vor einem Rubensgemälde, auf dem die Beschneidung Jesu dargestellt ist. Künstlerisch beeindruckend ist vor allem was sich innerhalb des Gemäldes über dem Altar mit dem Baby abspielt: "Aus dem himmlischen Licht, umgeben von anbetenden und präsentierenden Engeln, erscheint der göttliche, und eben nicht von Menschenhand gemachte Name Jeschua als Tetragramm in hebräischen Lettern." (zitiert aus dem Ausstellungskatalog). Angesichts dieser feierlichen Darstellung, kann ich es mir nicht verkneifen, verständig zu kommentieren: "Jetzt verstehe ich auch endlich, warum es für das Christentum so notwendig war, dass Gott einen Sohn und keine Tochter hatte: Was hätte Rubens denn sonst darstellen sollen? Das ginge ja überhaupt nicht!" Der Museumsführer strahlt mich begeistert an und stimmt mir zu: "Ja, genau so ist es!"
Nachdem also – bedauerlicherweise – weder die Exponate noch die religionswissenschaftliche Führung durch die Ausstellung neue Erkenntnisse hinsichtlich des Themas der Knabenbeschneidung erbracht haben, mache ich mich auf den Heimweg und suche im Nachgang nach Antworten auf meine Fragen im Ausstellungskatalog.
Der Ausstellungskatalog
Von einer Ausstellung, deren Sinn erklärtermaßen darin liegt, um Toleranz und Respekt für eine religiös begründete Körperverletzung an Kindern zu werben, ist nichts anderes zu erwarten, als dass die ausgewählten Exponate und deren Präsentation optisch wie inhaltlich darauf ausgerichtet sind, von allem, was unangenehm oder verstörend wirken könnte, abzulenken und folkloristische Elemente in den Vordergrund treten zu lassen. Dass ein Museumsmitarbeiter scheinbar angehalten ist, seine Führung emotional zu gestalten, in dem er immer wieder nach Befindlichkeiten und Gefühlen in der Gruppe fragt, und leider auch nicht weiß, was genau in einem Gesetz steht, dessen Text in unübersehbar großen Lettern eine der Tafeln der Ausstellung ziert, wirkt irritierend, könnte aber ein Zufall sein. Dass ein so umfangreicher Ausstellungskatalog mit so viel Textmaterial so viele Fragezeichen und Ungereimtheiten enthält, erstaunt mich dann aber doch.
Der Katalog beginnt mit einem Grußwort der Programmdirektorin Cilly Kugelmann, die rückblickend auf die Beschneidungsdebatte von 2012 davon spricht, dass Atheisten religiöse Positionen "verbittert bekämpften" und Kinderärzte die Beschneidungspraxis als traumatisierenden Einschnitt "attackierten" – ein rhetorisch äußerst unsachlicher Einstieg in das Thema. Der Artikel von Gerhard Langer stellt dann wichtige Aspekte der Beschneidung in der rabbinischen Tradition vor. Besonders stolpert man über folgenden Satz: "Die Vorstellung von Beschneidung als Akt der Vervollkommnung des Menschen ist nicht neu." Was genau bezweckt der Autor mit dieser Feststellung? Und wem darf er wofür zur Rechtfertigung dienen? Wie viel darf eine Religionsgemeinschaft einem Kind abschneiden und welchen Geschlechts muss es sein und welcher Religionsgemeinschaft müssen seine Eltern angehören, damit der Gesetzgeber sich verantwortlich fühlt, einzugreifen?
"Die Vorstellung von Beschneidung als Akt der Vervollkommnung des Menschen ist nicht neu." Nein, sie ist sogar sehr alt. Sie ist noch älter als das Judentum. Wirbt Gerhard Langer an dieser Stelle um Verständnis und Respekt? Und wenn ja: Wofür?
Es folgt ein Text von Alfred Bodenheimer zur Beschneidungsdebatte aus jüdischer Perspektive. Der Autor beschreibt ausführlich, warum gerade "die Juden" in Deutschland ganz besonders unter der Debatte gelitten haben. Einer Umfrage zufolge seien "die Juden" über diese schockiert und verletzt gewesen, "die Muslime" hätten darin eher eine unerfreuliche Fortsetzung der Sarazin-Debatte gesehen.
Wenn Bodenheimer von "den Juden" und "den Muslimen" in Deutschland spricht, vergisst er diejenigen Söhne jüdischer und muslimischer Eltern, die in Deutschland leben und die das Trauma ihrer Beschneidung tagtäglich belastet. Als die wahren Verlierer der Debatte müssen sie es ertragen, in einem Land zu leben, in dem ihr Schmerz nicht einmal soweit respektiert wird, dass sie einen Anspruch auf Schadensersatz hätten. Sie müssen ertragen, dass das, was man ihnen angetan hat zum "Recht" aller Eltern erklärt wurde. "Die Juden", die schockiert waren, "die Muslime", die die Debatte als unerfreulich empfunden haben, waren letzten Endes diejenigen, die in vollem Umfang bestätigt wurden und seitens der Gesetzgebung alle Forderungen zugestanden bekamen.
Die traumatisierten Söhne jüdischer und muslimischer Eltern müssen in Deutschland damit leben, dass ihre Unversehrtheit ihrem Staat weniger gilt als die Schockiertheit derer, die "Recht" bekommen haben. Noch mit seinem letzten Satz negiert Bodenheimer offenbar die Existenz dieser Männer: "Es braucht jenseits aller Bekenntnisse von Politikern und gesetzgeberischen Korrektive, nur einen Anlass, und sie [die Juden] werden als Minderheit wieder zum Objekt der Ablehnung einer selbsterklärten Konsensgemeinschaft."
In seinem Beitrag über die Knabenbeschneidung und ihre Bedeutung für die muslimische Religionspraxis und Identitätsbildung stellt Ilhan Ilkilic zunächst Unterschiede über den Zeitpunkt der Knabenbeschneidung in unterschiedlichen islamischen Rechtsschulen heraus. Bei der Nennung der schafiitischen Rechtsschule vergisst er dabei tatsächlich, darauf hinzuweisen, dass die Schafiiten nicht nur ihre Söhne an der Penis- sondern auch ihre Töchter an der Klitorisvorhaut beschneiden lassen. Ein – auf der Skala der Verletzungstiefen bei weiblicher Genitalverstümmelung vergleichsweise (!!!) kleiner – Schnitt, der in Deutschland seit gar nicht langer Zeit strikt verboten ist. Schade, dass Ilkilic diese Information hier vorenthält – es wäre interessant geworden, wie er seine Argumentation weiterhin aufrecht erhalten und zugleich das Strafgesetz nicht infrage gestellt hätte.
Dennoch führt er für die Beschneidung von Jungen teilweise dieselben Argumente ins Feld, wie es die Befürworter der Mädchenbeschneidung tun, wenn er schreibt "Ein unbeschnittener Mann könnte Schwierigkeiten haben, einen Ehevertrag abzuschließen, da er von einer muslimischen Frau und ihrer Familie nicht akzeptiert würde." Vielleicht ist ihm dies beim Schreiben sogar aufgefallen, denn wenig später weiß er: "Ebenso kann nicht von einer Organschädigung und der damit verbundenen Organdysfunktion gesprochen werden, wie sie bei der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen vorkommt."
Leider setzt er hier auf die Unwissenheit seiner Leserschaft. Zum einen arbeitet er mit einem schwammig definierten Begriff weiblicher Genitalverstümmlung (denn hier gibt es Varianten mit vergleichsweise wenig oder gar ohne Gewebeverlust), zum anderen bezieht er sich mit der Dysfunktion augenscheinlich nur auf einen Aspekt der Geschlechtsorgane – nämlich den der Fortpflanzung.
Abschließend stellt er fest, dass "nach islamischem Glauben die Beschneidung von Knaben als eine elementare, unverzichtbare und unersetzliche Pflicht zu bewerten ist" – eine durchaus kühne und viele Fragen zurücklassende Behauptung angesichts der Tatsache, dass Beschneidung im Koran nicht erwähnt wird. Nebenbei bemerkt ist dies als implizite Diffamierung aller muslimischer Eltern zu werten, die auf den Eingriff verzichten und sich dennoch als religiöse und gläubige Menschen verstehen. Hier wäre ein bisschen von jener Einfühlsamkeit und dem Verständnis anderen gegenüber zu wünschen gewesen, das von Seiten der Beschneidungsbefürworter unermüdlich eingefordert wird.
In seinem Artikel "Gesundheit, Krankheit und Glaube. Der Streit um die Beschneidung" fasst Sander L. Gilman verschiedene medizinische Argumente für und gegen die Knabenbeschneidung zusammen und stellt dann fest: "Keine medizinische Beschneidungsdiskussion ist je unabhängig von ideologischen Sichtweisen geführt worden." Beim Lesen dieser Aussage stellt sich zunächst Verwunderung ein. Es ging der Ausstellung ja um die Darstellung eben jener ideologischer Sichtweisen. Die Medizin sollte außen vor bleiben. Mit welcher "Ideologie" stehen die Gegner der Beschneidung den religiösen "Ideologen" denn entgegen? Am Ende des Artikels finden wir die Antwort darauf. "[…] die Gegner beklagen eine Verletzung der Menschenrechte […]. Diese ideologischen Haltungen beeinflussen die Wissenschaft in alle Richtungen […]"
Wenn religiösen Ideologien nun die Verteidigung der Menschenrechte als eine konträre Ideologie gegenübersteht, müssen wir uns ernsthaft fragen, ob dies noch im Sinne einer auf Vielfalt und friedliches Miteinander ausgerichteten Gesellschaft ist.
Ich schließe meine Lektüre des Katalogs ab und frage mich, ganz nach dem Beispiel der Museumsführung, die ich heute erlebt habe, was ich nach dem Gesehenen und Erfahrenen jetzt empfinde. Ich bin zwiegespalten. Als Religionswissenschaftlerin ärgere ich mich maßlos und bin zutiefst enttäuscht. Vom Jüdischen Museum Berlin hätte ich mehr erwartet. Ich hatte auf mehr Sachlichkeit gehofft, auf mehr Ehrlichkeit, auf vorsichtigere und durchdachtere Argumentationsketten. Auf mehr Mut, zu dem zu stehen, was man verteidigt und wofür man Respekt einfordert. Mehr als eine oberflächliche, auf Folklore und Kunstobjekte beschränkte Herangehensweise. Schade. Als Menschenrechtlerin aber bin ich froh und erleichtert: Auch nach dieser Ausstellung erscheinen keine neuen oder bisher in der Debatte angeblich vernachlässigten Argumente für die Erlaubnis einer Manipulation der Geschlechtsteile von Kindern. Und das ist ein beruhigender Gedanke.
9 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Danke Frau Matthes für den deutlich geschriebenen Bericht.
Stefan Wagner am Permanenter Link
Vielen Dank, Sie sprechen mir aus der Seele. Ich war ähnlich enttäuscht.
Statt einer Darstellung unterschiedlicher Positionen wurde eine Propagandashow mit den Mitteln eines Museums geboten.
Oskar Degen am Permanenter Link
"[…] die Gegner beklagen eine Verletzung der Menschenrechte […]. Diese ideologischen Haltungen beeinflussen die Wissenschaft in alle Richtungen […]"
in der Tat eine ungeheurliche ! Aussage.
Wenn ich das richtig verstanden habe bleibt als Begründung nur die eine Aussage, die in jedem Managerseminar als "Killerphrase" gebrandmarkt wird: " Wir haben das schon immer so gemacht."
Eine wertvolle Ergänzung dieser Ausstellung wäre doch gewesen, die Komplikationen zu schildern, die bei dem Eingriff auftreten.
Viola Schäfer am Permanenter Link
Zur Info:
http://intaktiv.de/genital-autonomy-2015-in-frankfurt/
www.genitalautonomy.org
Edward von Roy am Permanenter Link
Dank sei dem humanistischen pressedienst (hpd) für das Publizieren dieses Artikels.
Zwischen jüdischen und nichtjüdischen bzw. schariakonformen und nichtmuslimischen Kinderrechten und Kinderkörpern kann der Rechtsstaat nicht unterscheiden und die Schädigung der Sexualität und Sensitivität (Sorrells et al.) sowie der Partnerschaft (Morten Frisch) kann auch Angela Merkel ("Komikernation") nicht mehr lange verschweigen.
Anders als in Berlin umgesetzt, gehört die Beschneidung tatsächlich ins Museum, denn die Beschneidungsmesser (FGM oder MGM) der Aboriginees, Xhosa, Juden oder Muslime gehören nicht ins Kinderzimmer, sondern in die Museumsvitrine, genau wie Sklavenkette oder Hexen-Folterzange.
Zum lebenslangen sensitiven Schaden jeder Jungenbeschneidung sowie zum Thema Islam und FGM möchte ich den Bericht von Dr. Eva Matthes ergänzen.
Sensitiv betrachtet ist von Natur aus nicht die Eichel (Glans penis), sondern das penile Vorhaut (Präputium) das Äquivalent zum weiblichen Zentrum der Lust, zur Klitoris.
Gary Harryman (Basic Human Genital Anatomy) nennt die anatomischen Gegebenheiten und bringt das zutreffende Gleichnis von der Braille-Schrift, die man mit dem Ellbogen eben kaum bis gar nicht lesen könnte:
Physiologically, the clitoris is richly endowed with thousands of these specialized pressure-sensitive nerves and the clitoral foreskin is virtually bereft of them. The ridged band at the tip of the the penile foreskin is richly endowed with thousands of these same specialized pressure-sensitive nerves and the glans is virtually bereft of them.
https://ms-my.facebook.com/shareyoursexknowledge/posts/652188514794501
Innervation der Penisvorhaut, Zitat aus: DokCheck Flexikon:
"Die Vorhaut ist reich an spezialisierten Nervenendigungen und spezialisiertem erogenem Gewebe. Diese spezialisierten Nervenendigungen umfassen (Meissner-Körperchen, Vater-Pacini-Körperchen, Ruffini-Körperchen und Merkel-Zellen), die bereits leichteste Berührungs- und Temperaturreize detektieren können.
Im Gegensatz zur Vorhaut besitzt die Glans penis fast ausschließlich nicht-spezialisierte, freie Nervenendigungen (sogenannte Nozizeptoren), die nur grobe Reize wie etwa starken Druck oder hohe Temperatureize detektieren können, die vom Gehirn als Schmerzen wahrgenommenen werden.
Cold und Taylor, welche die Innervation des Präputiums des Penis ausführlich untersuchten, erklärten:
'Die Glans penis ist vorwiegend durch freie Nervenendigungen innerviert und besitzt hauptsächlich nur protopathische Sensibilität. Protopathische Sensibilität bezieht sich auf gröberen, schlecht lokalisierten Empfindungen (einschließlich Schmerz, einige Temperaturempfindungen und bestimmte Wahrnehmungen von mechanischem Kontakt). In der Glans penis sind nur wenig [spezialisierte Nervenendigungen] vorhanden, und diese finden sich hauptsächlich entlang der Eichelkranzes und des Frenulums. Im Gegensatz dazu hat das gefurchte Band der männlichen Vorhaut an der mukokutanen Grenze eine hohe Konzentration an [spezialisierten Nervenendigungen].'"
http://flexikon.doccheck.com/de/Pr%C3%A4putium
Islam und FGM
Hinsichtlich der im Fiqh der Schafiiten religionsrechtlich verpflichtenden (wadschib) Jungenbeschneidung und Mädchenbeschneidung lässt sich weder theologisch noch hinsichtlich der beispielsweise in Malaysia und Indonesien sowie im nördlichen Irak üblichen religiösen (hier islamischen) FGM-Praxis sagen, dass die Klitoris nicht teilweise oder ganz zu amputieren ist oder dass sie nicht vielen Mädchen amputiert wird. Dazu der bekannte Hadith:
Eines Tages begegnete Mohammed der zum Islam konvertierten muqaṭṭiʿatu l-buẓūr (amputatrice di clitoridi, coupeuse de clitoris, cutter of clitorises), der Frauenbeschneiderin Umm ʿAṭiyya. Die Gottgehorsame befragte den Propheten nach der religiösen Rechtmäßigkeit ihrer täglichen Arbeit und Allahs Sprecher stellte fest:
أشمِّي ولا تنهَكي
ašimmī wa-lā tanhakī
[Cut] slightly and do not overdo it
[Schneide] leicht und übertreibe nicht
Oder Mohammed verkündete den Willen des Himmels so:
اختفضن ولا تنهكن
iḫtafiḍna wa-lā tanhikna
Cut [slightly] without exaggeration
Schneide [leicht] und ohne Übertreibung
https://eifelginster.wordpress.com/2014/09/14/399/
Es ist richtig, dass die Assalaam Foundation (Bandung, West-Java) die zum Mädchenbeschneiden verwendeten Scheren gerade weggelegt hat und vorläufig Nadeln verwendet, sprich eine FGM vom Typ IV (ritual nick; pinprick) praktiziert. Das allerdings kann sich jederzeit wieder ändern und die Scheren wurden nicht weggeworfen.
Der indonesische Ulama Rat MUI hat sich, bei geschickter Heranziehung einer schafiitischen islamjuristischen Minderheitsmeinung (On the issue of female circumcision, we do not consider it compulsory), zu nichts anderem verpflichtet, als gegen das Verbot des Verbots der Mädchenbeschneidung (FGM) zu kämpfen (we forbid any action to ban it) und dem Mädchen beim Beschneiden nicht zu schaden. Schriftgläubige werden freilich betonen müssen, dass weder Allah noch sein dem menschlichen Verstehen enthobenes Gesetz (Scharia) Schaden stiften.
"On the issue of female circumcision, we do not consider it compulsory, but we forbid any action to ban it," MUI Chairman Ma'ruf Amin told
http://www.npwj.org/it/content/05-Mar-2013-NPWJ-News-Digest-FGM-womens-rights.html
Am 10.12.2014 vernahm, bei der Übergabe der Unterschriften einer schlampig gemachten und unredlich beworbenen Petition (Weibliche Genitalverstümmelung in Indonesien – Schutz statt Verharmlosung), selbst Terre des Femmes aus dem Mund von Lefianna H. Ferdinandus (in Vertretung des indonesischen Botschafters Fauzi Bowo), dass der bevölkerungsreichste muslimisch geprägte Staat der Welt bestimmte Formen der FGM nicht als Verstümmelung zu definieren bereit ist.
Uns allerdings wie leider auch Eva Matthes ("dass die Schafiiten nicht nur ihre Söhne an der Penis, sondern auch ihre Töchter an der Klitorisvorhaut beschneiden lassen") zu suggerieren, dass die khitan al-inath (sunat perempuan, FGM nach Koran und Sunna) stets lediglich eine FGM Typ Ia (Amputation der Klitorisvorhaut) beinhalte ist nicht zutreffend, denn gerade auch die FGM Typ Ib wird durch die o. g. Hadithen auch heute von etlichen heutigen Scheichen begründet, schafiitisch sowieso und zusätzlich, ebenfalls als schariarechtliche Wohlverhaltenspflicht (wadschib, compulsory), durch jede zweite geistliche Autorität der Hanbaliten.
Ausführlicher zum Thema HGM (d. i. FGM und MGM) in meinem Vortrag vom 14.03.2014:
Europa 25 Jahre nach dem First International Symposium on Circumcision. Genital Intactness statt Beschneidung auf Kinderwunsch
https://eifelginster.wordpress.com/2014/02/15/373/
Punktgenau zur Eröffnung des 70. Deutschen Juristentages stritt Gutachterin Tatjana Hörnle, die sich von der Zeitung Berliner Kurier missverstanden fühlt, ihren Versuch einer deutschen Legalisierung der sogenannten milden Sunna ab ("Richtigstellung"). Ebenso wie Humanmediziner Karl-Peter Ringel und Volljuristin Kathrin Meyer arbeitet jedoch auch die Berliner Juraprofessorin an einer Straffreiheit der in Deutschland über § 226a StGB verbotenen, der schafiitischen Rechtsschule des Islam und einigen hanbalitischen Gelehrten jedoch als religiös verpflichtend (farḍ, wāǧib) geltenden FGM Typ Ia und Typ IV. Die Mädchenbeschneidung wird von den übrigen Hanbaliten und allen Malikiten als ehrenwert (makruma) eingestuft und von den Hanafiten immerhin als Sunna, und zwar als sogenannte betonte (emphasized) Sunna, sunna muʾakkada.
Zum Vorstoß der strafrechtlichen Gutachterin auf dem 70. Deutschen Juristentag (Hannover 2014) Tatjana Hörnle für eine Straffreistellung bestimmter Formen der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) schrieben meine Kollegin und ich am 16.09.2014 einen offenen Brief, Juristin Hörnle reagierte wie zu erwarten nicht:
Entgegnung auf die Richtigstellung der Tatjana Hörnle
"erst wenn die beiden Verstümmelungsformen Typ Ia und Typ IV nicht mehr als Verstümmelung gelten (dürfen), kann der Gutachterin niemand vorwerfen, die FGM in Teilen erlauben zu wollen ...
Die Zirkumzision (MGM) ist übrigens auch eine Mutilation, eine Verstümmelung und die Berliner Professorin will die Jungenbeschneidung ja gerade nicht verbieten. Jedem Jungen aber werden bei einer Beschneidung, was Hörnles Gutachten gezielt verschweigt, 10.000 bis 20.000 Nervenendigungen und Tastkörperchen amputiert die ihr Äquivalent beim Mädchen nicht in der Klitorisvorhaut haben, sondern in der Klitoris, weshalb die MGM nicht mit FGM Typ Ia gleichzusetzen ist, sondern mit Typ Ib. ...
Sehr geehrte Frau Dr. Hörnle, bitte geben Sie offen zu, die schafiitische “milde Sunna”, WHO-Klassifikation FGM Typ IV (ritual nick, pinpricking) oder jedoch den Gewebe amputierenden mithin eindeutig verstümmelnden Typ von “milde Sunna” FGM Typ Ia (die Klitorisvorhaut rituell abschneiden) aus ihrem Verstümmelungsbegriff entfernt zu haben, ins Kindeswohl integrieren zu wollen und Typ Ia und IV in Deutschland straffrei stellen zu wollen.
Wir sagen Nein zu Ihrem Ansinnen und fordern die Beibehaltung des Verbots ALLER vier Typen der FGM (I, II, III, IV), wie es seit 2013 mit § 226a StGB eindeutig gewährleistet ist."
Edward von Roy, Diplom-Sozialpädagoge (FH)
Gabi Schmidt, Sozialpädagogin
https://schariagegner.wordpress.com/2014/09/17/kommentar-zu-tatjana-hoernles-richtigstellung-zum-artikel-im-berliner-kurier/
Heute stellt Dr. Eva Matthes ("Haut ab!" enttäuscht) wichtige Fragen und schreibt zur Ausstellung des jüdischen Museums durchaus lesenswert.
Dass sich Matthes nicht lediglich gegen den § 1631d BGB stellt ("im juristischen Sinne für verfassungswidrig"), was erfreulich ist, sondern gegen jede Kinderbeschneidung (an Jungen oder Mädchen), Kind ist Mensch unter achtzehn Jahren, stellen wird, insbesondere auch den Lehrinhalt des bekennenden und versetzungsrelevanten Islamischen Religionsuntericht (IRU) betreffend, können wir Aufklärungshumanisten und Menschenrechtsuniversalisten erwarten.
Jungenbeschneidung ist Scharia, mindestans schafiitisch ist dabei das männliche oder weibliche unbeschnittene Genital religiös illegal (ḥarām). Nach Scharia wie Halacha ist das Präputium ist kein Teil des religiös vollständigen Körpers eines Erwachsenen. Der auf der Wörtlichkeit von Koran und Sunna bestehende IRU wird lehren müssen, dass es ein im islamischen Sinne gelingendes Leben als erwachsener muslimischer Unbeschnittener nicht gibt und hätte allein aus diesem Grunde in Bildungspolitik und Schulalltag nicht integriert werden dürfen. Wer als Muslim seinen Sohn und mindestens als Schafiit seine Tochter nicht beschneidet, hat im Jenseits mit Strafe statt mit Lohn zu rechnen:
"(5) Koran und Sunna des Propheten Mohammed bilden die Grundlagen des Koordinationsrats. Dieser Grundsatz darf auch durch Änderungen dieser Geschäftsordnung nicht aufgegeben oder verändert werden."
http://islam.de/files/misc/krm_go.pdf
http://religion-recht.de/2010/08/geschaftsordnung-des-koordinationsrates-der-muslime-in-deutschland/
Immerhin scheint auch die irgendwie religionskundige Matthes (hpd: "unsere Autorin, die Religionswissenschaftlerin Eva Matthes") zu spüren, dass, solange der grundgesetzwidrige § 1631d BGB nicht abgeschafft ist, auch Deutschland und ganz Europa die Legalisierung der weiblichen Sunnabeschneidung droht.
Die Gefahr besteht. Die von Multikulturfreunden bejubelte, elterlicherseits aus Sierra Leone stammende US-Amerikanerin Fuambai Sia Ahmadu beispielsweise kämpft seit 20 Jahren für die Erlaubnis der FGM Typ II, das sind Labienamputationen und Klitorisamputationen sowieso, für die sich in berüchtigter Genitalautonomie (genital autonomy) das acht oder neun Jahre alte Mädchen entscheiden können soll. Menschen unter 18 brauchen keine genitale Autonomie, sondern genitale Intaktheit.
Der FGM und MGM (anatomisch eher unkorrekt) vergleichende und den gegebenen Begründungszusammenhang Islam FGM leugnende ("FGM has no basis in any religion") ranghöchste Familienrichter für England und Wales Sir James Munby (2015) macht offenbar ebenfalls den Weg frei für eine genital verstümmelnde Gleichberechtigung.
Wir werden unseren Bundestagsabgeordneten genau auf die Finger sehen müssen, damit Deutschland weder den § 1631d BGB, so schlagen es wie gehört Ringel/Meyer (2013) vor, noch den § 226a StGB, das fordert Tatjana Hörnle (2014), geschlechtsneutral formuliert.
Edward von Roy
Defragmentierung am Permanenter Link
Vielen Dank von meiner Seite für Ihre Mühe und die informativen Ergänzungen und erhellenden Anmerkungen zu dem bereits guten Artikel.
Guy Sinden am Permanenter Link
"Keine medizinische Beschneidungsdiskussion ist je unabhängig von ideologischen Sichtweisen geführt worden."
Na klar, Menschensrechtsanliegen entspringen einer "Ideologie".
Das ist ein ganz unlauterer Relativismus und zieht implizit Menschensrechtsanliegen auf die religiöse Ebene herunter.
Ulf Dunkel am Permanenter Link
Die "Ideologie" der Intaktivisten ist: Gleiche Rechte für alle, keine Sonderrechte, Genitale Selbstbestimmung natürlich auch für Kinder.
Beschneidungsbefürworter wollen die Beschneidung schützen.
Intaktheitsbefürworter wollen die Kinder schützen.
Wessen "Ideologie" nun mit den Menschenrechten kollidiert, ist m.E. offensichtlich.
Andrzej Kujawiak am Permanenter Link
Spannender Bericht, aber wer schreibt so pointiert und pfiffig?