Opera incognita: Große Oper auf kleiner Bühne

Mascagnis "Cavalleria Rusticana" als Mafia-Thriller

Der Regisseur Francis Ford Coppola ließ sich nicht zuletzt von Pietro Mascagnis "Cavalleria Rusticana" zu "Der Pate – Teil III" inspirieren – die Opera incognita servierte mit ihrer Neuproduktion (Regie: Andreas Wiedermann) in der Allerheiligen-Hofkirche München eine Hommage an beide Meister der darstellenden Künste und bescherte wieder einmal einen intensiven und kurzweiligen Opernabend.

Das Setting ist in diesem Fall nicht Sizilien, sondern New York City. Schon im Vorspiel überquert das Publikum (mittels Dia-Show) mit Turiddus Sippschaft auf einem Dampfer den großen Teich. Dort wird mit Mama Luzia (gebrechlich und im Rollstuhl) in einer 1-Zimmerwohnung vegetiert. Turiddu ist erst kürzlich aus dem Knast zurückgekehrt, als die Handlung einsetzt. Seiner Verlobten Lola war der Lebensstil wohl zu primitiv oder die Zukunft zu ungewiss: Sie ist in Turridus Abwesenheit die Gattin des Paten Don Alfio geworden. Doch eine heimliche Liebschaft gehört in einen Mafia-Film genauso wie in eine italienische Oper: Lola und Turiddu treffen sich heimlich in der kleinen Wohnung.

Entdeckt wird die Untreue von Turiddus Ex-Geliebter Santuzza. Sie fühlt sich nicht nur entehrt und weggeworfen, ganz offensichtlich ist sie auch schwanger. Da Turiddu den Ernst der Lage zunächst nicht erkennt und Santuzza abweist, verrät sie dem Paten (Alfio, Lolas Ehemann und hier gar Turiddus Cousin) die Affäre der beiden. Alfio bricht in Turiddus Oster-Trink-Gelage und will ihn zur Rede stellen. Turiddu (besoffen) beißt Alfio ins Ohr – die Aufforderung zum Duell ist ausgesprochen. Turiddu bittet seine Mama Luzia, sich um Santuzza zu kümmern, falls es ihn erwischt. Zuletzt bleibt auf der Bühne zurück, was diese Welt der rohen Gewalt hinterlässt: Eine alte Frau, die in ihrem Rollstuhl zusammensinkt.

Die Abweichungen vom Libretto sind stimmig, was nicht nur den leicht geänderten Übertiteln (und teils Textpassagen), sondern vor allem dem intensiven Spiel des Ensembles zu verdanken ist. Es wird schnell klar, dass der Ausbruch aus einer Mafia-Gesellschaft ebenso unmöglich ist wie der Ausbruch aus einer sizilianischen Dorfgemeinschaft. Wer die Regeln missachtet, muss den Preis dafür bezahlen.

Robson Bueno Tavares hat als Pate "Don Alfio" die Fäden in der Hand. Mit baritonal-männlichem Stimmfundament und beeindruckender Bühnenpräsenz gestaltet er einen Mafia-Boss, mit dem man niemals in Konflikt geraten möchte.

Turiddu ist das zu junge, zu unerfahrene und zu stürmisch-liebende aufsteigende Beta-Männchen. Seinem Cousin und Boss ist er nicht gewachsen, kann sich dessen Befehlen nicht widersetzen. Er kann aber mit seiner Frau schlafen, deren Herz ihm schön immer gehörte. Mit glühender Hingabe füllt Rodrigo Trosino diese Tenor-Rolle aus. Stimmlich ein Held zerbricht er doch daran, seinen Stand in der patriarchalen Hierarchie zu über- sowie seine Wirkung auf Frauen zu unterschätzen.

Hinter Lolas Fassade ist schwer zu blicken. Die Heirat mit Alfio war ein kühler und berechnender Schachzug. Die Affäre mit Turiddu ist nicht klug und die Art, wie sie Santuzza offen demütigt ist es noch weniger. Anna-Luise Oppelt markiert eine junge Frau, die die Spielregeln zwar verstanden hat und mit offensichtlich hohem energetischem Aufwand die Contenance wahrt. In den wenigen Takten, die der Komponist dieser handlungstragenden Rolle zugestanden hat, zeigt die Sängerin jedoch Lolas emotionale Seite: Ihr sehnsüchtiges Verlangen nach Turiddu strahlt aus dem farbenfrohen Mezzosopran und macht unmissverständlich klar: Wären diese Gefühle nicht echt – die sonst so akkurate Frau würde sich niemals in solche Gefahr begeben.

Die Santuzza von Carolin Ritter ist stimmgewaltig und authentisch. Die Sopranistin ist dieser anspruchsvollen Partie nicht nur gewachsen, sie verkörpert auch überzeugend eine liebende Frau, die zunächst zu zerbrechen scheint, die Realität des Lebens dann aber schneller erlernt als die anderen Figuren, welche in sich selbst gefangen zurückbleiben. Santuzza hat alles gegeben für ihre Liebe, doch zuletzt erkennt sie den Punkt, an dem sich das Kämpfen nicht mehr lohnt und es Zeit ist, das sinkende Schiff zu verlassen: Ihr Rache-Duett mit Alfio mündet in gewaltvollem Rache-Sex – selten romantisch, dafür aber ein erprobtes Mittel, alte Muster loszuwerden. Santuzza streift sich danach mit Lolas Handtasche und Perlenkette eine neue Haut über und verlässt die Gesellschaft. Im sizilianischen Dorf wäre es der Gang ins Elend – im New York des 20ten Jahrhunderts, das die Inszenierung vorstellt, stehen ihr hoffentlich aussichtsreichere Optionen zur Auswahl.

Mama Luzia tritt bei Wiedermann etwas passiver und hilfloser auf als gewöhnlich: An den Rollstuhl gefesselt, ist sie handlungstechnisch enorm eingeschränkt. Maria Czeiler (im echten Leben jung und agil) gleicht diese Herausforderung mit starker Stimme spielend aus und überzeugt schauspielerisch auf der ganzen Linie. Als gehandicapte und gealterte Frau in schwarzer Tracht mit Schleier bleibt sie dennoch ein wesentlicher Bezugspunkt der Gemeinschaft.

Die hinzugefügte Rolle Rosarina (Zuzanna Ciszewska) übernimmt höchst kompetent große Teile des Damenchors und fügt ein eigenes Lied hinzu. Dieses Lied bricht ein in die Auseinandersetzung zwischen Turridu und Santuzza, bei welcher Turiddu mit seinem abweisenden Verhalten Santuzza erst zum Verrat aufwiegelt und gleichsam die Katastrophe einläutet.

Die Ersetzung des Damenchors durch eine einzige Frauenfigur und die gleichzeitige Besetzung des Herrenchors als 7-köpfige Mafia-Bande unterstreicht den Versuch individueller Frauen, in einer Gesellschaft zu überleben, die aus einer grauen Masse gleichgeschalteter Männer besteht, die tumb Befehle ausführen.

Der immense Orchester-Apparat wird durch eine von Ernst Bartmann (musikalische Leitung und Klavier) klug arrangierte Quartettbesetzung ersetzt. Der Flügel hält die Grundspannung, glüht, schlägt die Glocken und ist harmonischer Pfeiler, der Kontrabass (Alexander Weiskopf) schafft das Fundament, die Klarinette (Gabi Oder) lockt und melancholiert, die Geige (Mirjam Sendtner) ersetzt eloquent den gesamten Streicher-Apparat (leichte Intonations-Unschärfen in der Höhe sind verzeihlich).

Bühnen- und Kostümbild (Anton Empl, Bärbel Gruber, Evi Festl) zitieren die erste Hälfte des 20ten Jahrhunderts. Ort des Geschehens ist ausschließlich die kleine Wohnung in der Turiddu mit seiner Mutter lebt. Hier treffen sich die Liebenden, hier finden Aussprachen und Absprachen statt, hier wird gegessen und getrunken und auch mal Eucharistie gefeiert. Die Herren im Dreiteiler mit Hut, die Damen in bodenlangen Kleidern – einzig Lola zeigt Schultern und Knie.

Mit ausgefeilter Personenregie gestaltet Andreas Wiedermann einen kurzweiligen Opernbesuch, der Lust auf mehr italienische Oper und auf Mafia-Filme macht. Der Schluss-Applaus am 21. Mai (letzte Vorstellung) in der Allerheiligen-Hofkirche feiert diese Produktion als Gesamtkunstwerk ausführlich. Es ist höchst bedauerlich, dass ein solcher Wurf nach nur wenigen Vorstellungen abgespielt ist – Opernhäuser mit langen Repertoire-Zyklen könnten sich hier wirklich ein Beispiel nehmen.

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