Zum 100. Jahrestag des Hauptwerkes von Alfred Wegener

Was bedeutet Plattentektonik für uns?

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Abb.1: Tektonische Verwerfungen in Kleinasien [1]
Tektonische Verwerfungen in Kleinasien [1]

ELTVILLE-ERBACH / RHODOS. (hpd) Unser Heimatplanet Erde ist von einer relativ dünnen festen Kruste überzogen, auf der wir zu überleben versuchen. Manchmal gelingt dies nicht, weil sich die Krustenteile ('Platten') gegenseitig ruckartig verschieben und verheerende Erdbeben auslösen, so wie 1999 in der NW-Türkei, 2004 im Indik vor Sumatra, 2010 auf Haiti, 2011 vor Japan, seit Ende April 2015 in Nepal (wo sich Gesteinspakete fast horizontal übereinander um mehrere Meter gegeneinander verschoben) und aktuell am 13.9.2015 im Golf von Kalifornien [2]. Auch an der Tagesordnung rund um den Pazifik, aber selbst in Europa in Griechenland wie in der Türkei – und bei uns. Eine Spurensuche.

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Zwei Größen gilt es zu veranschaulichen: Zeit und Raum bzw. Dicke.

Zeit

Wie soll ich mir das eigentlich vorstellen, dass die Erde rund 4,5 Milliarden Jahre alt ist?

Das ist in der Tat schwer, da Milliarden, Millionen, ja schon Tausend Jahre schnell unser Vorstellungsvermögen überschreiten. Wer hat schon eine klare Vorstellung davon, dass das Römische Reich vor ca. 2.000 Jahren seinen Höhepunkt hatte?

Ich versuche häufig, das mit einem Vergleich zu veranschaulichen:
Mit einem 2 x 2 m-Zollstock + ½ m. 4,5 Meter oder 4.500 Millimeter (mm). Jeder mm steht für sage und schreibe 1 Million Jahre (was geologisch gesehen kurz ist!); das Erdalter also im übertragenem Sinne: 4,5 m.

Vor mind. 3500 mm begann das Leben; Stromatolithen, von Mikroorganismen (vermutlich von Sauerstoff produzierenden Cyanobakterien [3]) aufgebaut, bezeugen dies. Kontinente wurden in mehreren Zyklen [4] zusammengeschweißt und wieder zerrissen; Ozeane kamen und gingen. Fast 2000 mm beherrschten ein- und simple mehrzellige Lebewesen das Bild, bis vor knapp 550 mm im Kambrium die Vielfalt der Lebensformen förmlich ‘explodierte’ [5]. Vor 65 mm endeten die meisten Dinosaurier (und Himalaya und Alpen begannen, sich aufzutürmen); Säugetiere nutzten die entstandene Dino-Lücke, wonach vor nur ca. 6 mm die Evolution des Menschen aus seinen affenartigen Vorfahren begann. Vor gut 2,5 mm begann das Pleistozän (Eiszeitalter), Homo sapiens machte sich seit ca. 0,1 mm out of Africa auf den Weg um den Globus, die letzte Eiszeit endete vor 0,01 mm. Seitdem befinden wir uns im Holozän (dem 'völlig Neuen'). Detaillierte geologische Zeitskalen gibt es im Internet [6]. Vor gut 0,0016 mm verordnete Kaiser Theodosius dem Römischen Reich den Katholizismus… Und jetzt kommen immer noch Kreationisten mit einer 6.000 Jahre (0,006 mm!) jungen Erde [7]. Ich empfehle dringend, dem besser nicht über den Weg zu trauen. Lesen Sie lieber hier weiter. Ich behaupte zwar nicht, dass hier alles hundertprozentigig richtig ist. Aber alles (ganz naturalistisch / wissenschaftlich ohne Übernatürliches) mit rechten Dingen zugeht.

Und Dicke

"Wie dick ist das eigentlich - 0 bis ca. 100 km feste Erdkruste - relativ zur Größe der Erde?" frage ich manchmal im Bekanntenkreis und mache ein Gedankenexperiment: Verkleinern wir einmal den Durchmesser der Erde (um den Faktor 1.000.000!) von 12.000 km auf 12 m, also etwa auf die Größe eines Einfamilienhauses - das ist einfacher vorstellbar. Dann ist die feste Erdkruste (Lithosphäre) gerade 0 bis ca. 100 mm (d.h. bis ca. 10 cm) dünn! Im Durchschnitt etwa vergleichbar mit der Schale um ein Hühnerei. Darunter wabert die leicht- bis sehr zähflüssige Asthenosphäre aus teils geschmolzenem Gestein als Teil des Erdmantels, dem darunter ein flüssiger Erdkernmantel folgt und darunter, ganz im Zentrum, ein fester Erdkern aus Eisen und Nickel. So weit die heutige, vorläufige Kenntnis der Erdwissenschaft, u.a. gründend auf seismischen Experimenten [8]. Diese Kenntnis ist relativ neu.

Lange lag dies (Zeit/Dicke) unseres Planeten vollkommen im Dunkeln; selbst in der Antike, erst recht im Mittelalter und bis in die Neuzeit/Aufklärung. Gut, eine 'flache' Erde wird (entgegen landläufiger Meinung) schon lange nicht mehr angenommen. Der Grieche Eratosthenes berechnete bereits in der Antike mit erstaunlicher Genauigkeit (und verblüffend einfach) den Umfang der Erdkugel [9].

Wie aber die Erdformen (Berge, Täler usw.) entstanden, war dennoch lange unklar. Von Genesis bis Sintflut (lt. Gilgamesch-Epos, Bibel und Koran, die sich auffällig ähnlich darauf beziehen) war lange alles denkbar. Aufklärer wie Georges-Louis Leclerc de Buffon [10] stießen neue Gedanken an. Charles Lyell, ein britischer Geologe des 19. Jhds. [11], war einer der Ersten der Neuzeit, die sich darüber genauere Gedanken machten, und der von aktuellen Prozessen auf graduelle Umformungen in der Vergangenheit schloss (er war daher ein wichtiger Ideengeber für Charles Darwin). Dennoch waren globale Prozesse unverstanden - wie entstehen Meere, Kontinente, Faltengebirge?

Die auffallende Passung von z.B. S-Amerika und Afrika war schon vor Lyells Zeiten bekannt. Theorien über Kontraktion (der 'Apfel' Erde schrumpft), Expansion (er bläht sich auf [12]) und Landbrücken (die einstürzten) wechselten sich ab (halten z.T. bis heute an), bis der Meteorologe und Astrophysiker Alfred Wegener Anfang des 20. Jhds. kam - und nicht siegte, obwohl er eine Fülle von Belegen dafür sammelte, dass unsere heutigen Kontinente einst zusammenhingen (Bsp. Glossopteris-Farne des Südkontinents Gondwana [13]). Aber er führte dort Gründe für seine postulierte Drift der Kontinente an (die, angetrieben von einer ominösen Polfluchtkraft, aktiv durch den Ozeanboden pflügen würden), was nicht akzeptiert, sondern fast berechtigterweise belächelt wurde (wo sind die Pflugspuren?). Wegener kannte sogar den mittelatlantischen Rücken (von der damals ersten transatlantischen Echolotung [14]) und zitierte Unterströmung i.S.v. Otto Ampferer oder Konvektion i.S.v. Robert Schwinner [13], interpretierte den Rücken aber oft als Reste vom zerfallenen Amerika und Europa/Afrika und verkannte die Thesen von Ampferer und Schwinner (seine Kollegen damals in Österreich) weitgehend als mögliche global wirksame Antriebskraft für Kontinentalverschiebungen. Das 'Pflügen' hält sich bis in die letzte Ausgabe seines Hauptwerkes [13], die Verschiebungsraten überschätzte er anfangs mit mehreren m/Jahr um den Faktor 1000, selbst zuletzt noch um den Faktor 10 bis 100 [13]; und die Natur von Tiefseerinnen verkannte er vollkommen ([13], vgl. Abb. 2). Was hätte aus dem Trio Wegener / Ampferer / Schwinner noch werden können [15]?

Es konnte nicht, denn es kam anders:
Wegener starb 1930 mit 50 Jahren jung auf einer Grönlandexpedition. Aber er legte die Basis für den Mobilismus in der Tektonik, womit der Fixismus der Kontinente schließlich überwunden wurde.

Moderne Plattentektonik ab ca. Mitte des 20. Jahrhunderts

In den 1930er Jahren wurde İhsan Ketin [16] vom Atatürk-Programm aus der Türkei zum Geologie-Studium nach Deutschland entsandt (um dann in der Türkei Schüler zu unterrichten), zunächst zu Hans Stille (in Berlin), der ihm zu national war, dann zu Hans Cloos am geologischen Steinmann-Institut in Bonn, was ihm so gut gefiel [17], dass er als erster gebürtiger Türke in Geologie promovierte, Ende der 1930er in die Türkei zurückkehrte und dort in Istanbul die Türkische Universitäts-Geologie etablierte. - Ich wundere mich, dass sich Ketin in der Zeit offenbar nicht mit Max Pfannenstiel traf, einem Deutschen Geologen im Exil (dort in Ankara eine bewundernswerte 100seitige Publikation schreibend [18]), der sich Ende 1941 mit Curt Kosswig [19], dem ebenfalls aus Deutschland emigrierten Geozoologen und ‘Vater’ der Türkischen Zoologie, in Istanbul traf [18].

Nach dem desaströsen Erzincan-Erdbeben in der Türkei Ende 1939 vermaß Ketin mit Kollegen den Versatz von mehreren Metern und publizierte dies erst 1948 (und ausführlicher 1969) als horizontale Blattverschiebung (auf Deutsch, [20]): Der Großteil der asiatischen Türkei (Anatolien) würde sich gegen den nördlichen Küstenteil rechtshändig ('dextral', vgl. Abb. 1 und 2) nach Westen verschieben. Nicht nur das - er sagte sogar voraus, dass es im Osten Anatoliens eine linkshändige ('sinistrale') Verwerfung geben müsste [21] (die East Anatolian Fault, EAF, vgl. Abb. 1), an der Anatolien nach Westen getrieben wird; wie Recht er hatte! - Pfannenstiel [18] kannte die Erdbebenzone, bezeichnete sie jedoch nicht näher als die 'eines ersten Ranges'.

Dieser frühe (und zunächst vollends verkannte, auch weil auf Deutsch publizierte) Ansatz Ketins, dass sich Erdplatten gegeneinander verschieben, erfuhr seit den 1960er Jahren großen Auftrieb.

Mittelozeanische Rücken wurden (dank Hess, Wilson etc.) als Spreizungszentren erkannt – und die Plattentektonik geboren [22]. Tektonische Platten weisen meist 1–3 Grenztypen auf: Divergierend, konvergierend und/oder transform (vgl. Abb. 2+3). In der durch radioaktiven Zerfall heißen, zähen Asthenosphäre werden Konvektionsströme vermutet, die an mittelozeanischen Rücken (Bsp. Island, Rotes Meer) oder unter Kontinenten (Riftzone Ost-Afrika) aufsteigen, zu ozeanischen basaltischen Lithosphärenplatten erstarren, diese auseinanderziehen (divergente Grenze) und in Tiefseerinnen unter eine jeweils leichtere (z.B. kontinentale) Kruste (S-Amerika) verschlucken = subduzieren (konvergente Grenze); aufschmelzendes Material entlädt sich dabei in Vulkanen. Die subduzierte Platte wird bis in mehrere 100 km Tiefe in die Asthenosphäre gezogen und schließt den Kreis der Konvektion. Daneben gibt es transforme Grenzen, an denen Lithosphärenplatten mehr oder weniger horizontal aneinander vorbeischrammen (San-Andreas- oder North Anatolian Fault, NAF, Abb.1), sich dabei verhaken und in den berüchtigten Erdbeben in geringer Tiefe entladen.

Abb. 2

Abb. 2: Plattentektonik [23]. Die oben links im Detail abgebildete horizontale Blattverschiebung (strike-slip) ist linkshändig ('sinistral') dargestellt; blickt man auf die jeweils gegenüberliegende Seite, bewegt sich das Gegenstück nach links*; es gibt ebenso rechtshändige ('dextrale') strike-slips; das Gegenstück bewegt sich nach rechts. Zu letzterem Typ gehören die San-Andreas- und die Nordanatolische Verwerfung. *Fatalerweise ist das Detailbild genau falsch herum; es bezieht sich auf die am Meeresgrund skizzierte dextrale Transformstörung - wieder ein wiki-Fehler!


Abb. 3

Abb. 3: Tektonische Platten [24]. Vgl. auch detaillierter [25] mit Angabe der Geschwindigkeiten in der Karte ganz am Ende. Indien bewegt sich (ggb. Afrika) mit ca. 30 mm/Jahr nach Norden, Australien (schneller) mit ca. 70 mm (dazwischen, südwestlich von Sumatra, krachte es 2012 gewaltig transform [26]), die Pazifische Platte mit bis zu 100 mm nach Westen; Arabien (ggb. der Ägäis) mit über 50 mm/Jahr nach N und stößt dabei entlang der (sinistralen) EAF an die Türkei, deren Großteil entlang der (dextralen) Nordanatolischen Verwerfungszone (North Anatolian Fault Zone, 'NAFZ') mit ca. 20 mm/Jahr nach Westen verschoben wird (vgl. Abb. 1). Bezogen auf 1 Mio. Jahre (was geologisch sehr kurz ist), kann mm durch km (!) ersetzt werden; d.h. in geologisch längeren Zeiträumen von 10 bis 100 Mio. Jahren wird sich das ozeanische / kontinentale Antlitz unserer Erde komplett gewandelt haben [27].


Die Nordanatolische Verwerfung ist (wie die San-Andreas-Verwerfung, nicht -Graben, in Kalifornien) dextral-transform; Ketin erkannte dies erstmals [20]. Es bedurfte keiner Kontraktion oder Expansion mehr (auch wenn selbst heute noch so etwas propagiert wird, selbst eine “Hohle Erde” oder eine “Hohlwelttheorie”; Quellen erspare ich mir hier, weil zu aberwitzig; sie sind im Internet zu finden). Die Plattentektonik erklärt alles einfacher, wenn auch nicht komplett; aber welche naturwissenschaftliche Theorie ist schon komplett?

Für die Türkei führt dies derzeit u.a. der Geologe Celâl Şengör fort, nach Ketin (1988) der zweite Türkische Träger der renommierten Gustav-Steinmann-Medaille (2010) – und, nebenbei, einer der dezidiertesten Atheisten der Türkei.

Die entsprechenden tektonischen Kräfte und Prozesse habe ich selbst in den letzten Jahren kennengelernt. Aus Abb. 1 ist ersichtlich, dass sich die NAFZ im W in 3 Stränge splittet; den Nördlichen (NS), Mittleren (MS) und Südlichen (SS). Der NAFZ-MS führt in Ost-West-Richtung genau südlich an İznik vorbei (dem antik-griechischen Νίκαια bzw. -römischen Nicaea [28]), vgl. Abb. 4 für Details.

Abb. 4
Abb. 4: İznik. Rote Linie = NAFZ-MS; gestrichelt = NAFZ-SS; grüne Kreise = wind gaps; blauer Kreis = Arapuçtu-Schlucht; blaue Linie = Sakarya (fließt nach N zum Schw. Meer).

Östlich von İznik und dessen See steigt (exakt entlang des NAFZ-MS) ein 0,5 bis 5 km breites Tal über 25 km von knapp 100 auf knapp 400 m Höhe an, um dann abrupt auf 100 m Höhe der Pamukova-Senke zu fallen. Nach Osten und bes. Süden ist das Tal von mehreren Trockentälern (wind gaps) gesäumt. Auf meiner ersten Reise dorthin im Mai 2011 'entdeckte' ich ca. 20 km östlich von İznik den tief eingeschnittenen "Arapuçtu kanyon" (Abb. 5) [29]. Der Einzugsbereich der Schlucht bis zum Gaziler wind gap ist aber viel zu klein, um so große Wassermassen zu sammeln, die zur Erosion der Schlucht nötig waren [30]. Derzeit entsteht selbst nach starken Gewittern in der Bildmitte von Abb. 5 nur ein kärgliches Wasserfällchen.

Also - woher kam das Wasser? Die Lösung ergibt sich, wenn der dextrale NAFZ-MS-Versatz 'zurückgespult' wird: Die Schlucht ist (mitsamt des Blocks südl. des MS) in den letzten 2 Mio. Jahren um mind. 20 km nach Westen verschoben und (stärker als das breite İznik -Tal) angehoben worden. Zuvor diente die Schlucht, tiefer liegend, entsprechend weiter im Osten als natürlicher Auslass des ebenfalls tiefer liegenden İznik-Tals und verband das Marmarameer über den Sakarya mit dem Schwarzen Meer; gelegentlich (je nach lokalen Wasserständen) vermutlich auch in umgekehrter Richtung. So weit meine These, die bisher in lokalen Geologenkreisen gut ankam. Immerhin ist dem Sakarya selbst eine dextrale Ablenkung von über 25 km in der Pamukova-Senke bescheinigt worden [31].

ABB. 5

Abb. 5: Arapuçtu kanyon, eine über 100 m tiefe, perfekt V-förmig eingeschnittene Schlucht 20 km östlich von Iznik, wo sie - heute inaktiv -  keinen Sinn ergibt. Aus halsbrecherischer Position von mir von Süden aufgenommen am 24.7.2012. Das eingesetzte Detailbild vom unteren Schluchtausgang am 28.5.2011 einen Tag nach starkem Gewitterregen.


Und droht dort plattentektonisches Ungemach? Aber ja. Die NAFZ setzt sich vom Van-See im Osten (wo es wie in 2011 häufig Erdbeben gibt [32]) über mehr als 1500 km nach Westen fort. 2014 gab es in der Ägäis westlich der Halbinsel Gelibolu schwere Beben [33], 1999 bei Gölcük/İzmit (das antike Nikomedia) [34]; vgl. Abb. 6! İstanbul liegt genau dazwischen… Und ein schweres Beben wird dort in den nächsten wenigen -zig Jahren mit weit über 50 % Wahrscheinlichkeit erwartet [35] (ähnlich wie zwischen San Francisco und Los Angeles). Kann sein, dass es das Marmarameer dort an dem NAFZ-NS mit seiner möglichen Schmierwirkung glimpflicher ausgehen lässt. Die Hauptbeben ereignen sich jedoch am NS; MS und SS scheinen 'nur zu kriechen'. Das ist ablesbar an der Straße zwischen Gaziler und MS (Position s. Abb. 4), deren Risse alljährlich repariert werden.

Abb. 6
Abb. 6: Die Gleisbetten der Bahnlinie zwischen İzmit und Sapanca kreuzen die NAFZ und wurden 1999 um mehrere m dextral versetzt [35]. Die neue Hochgeschwindigkeitstrasse wurde dort in den letzten Jahren nur ca. 100 m parallel zur alten Trasse angelegt und nur marginal mit einer in den Boden eingelassenen, 1 m dünnen Stahlbetonmauer "bewehrt", wie es den persönlichen Anschein für mich hatte.

Und der Oberrheingraben? Nun, der Begriff 'Graben' bedeutet, dass es eine Dehnungsstruktur ist (wie der Ostafrikanische Graben). Die Erdkruste hob und dehnte sich hier vor bzw. seit ca. 40 Millionen Jahren (40 mm in dem erwähnten Vergleich), der Mittelteil, der Oberrheingraben, senkte sich relativ zu den Grabenschultern (Vogesen/Pfälzerwald im W, Schwarzwald/Odenwald im O) um bis zu 4.000 m und verschob sich sinistral. Ein Großteil der Senke wurde durch Sedimente von Rhein und Neckar etc. zur Oberrheinischen Tiefebene aufgefüllt, abgetragen von den Grabenschultern und westlich und östlich angrenzenden Gebieten, wodurch imposante Schichtstufenlandschaften beiderseits der Schultern herauspräpariert wurden, z.B. die Schwäbische Alb. Vor 19–16 ‘mm’ schoss der Kaiserstuhl-Vulkan hoch, vor bereits knapp 50 'mm' brach ein Teil bei Darmstadt mit Vulkanismus ein (bzw. mit einer Dampfexplosion heraus) und hat die Grube Messel [36] geschaffen, in deren einstmals sauerstoffarmem Maarsee-Wasser diverse pflanzliche und tierische Spezies (z.B. Urpferdchen oder Darwinius masillae "Ida", eher eine ausgestorbene Seitenlinie als eine vermeintliche Urvorfahrin der Menschenaffen [37]) mit den Sedimenten konserviert wurden.

Der Verwerfungsprozess ist nicht ganz abgeschlossen und zeigt sich in gelegentlichen schwachen bis mittleren Erdbeben in der Region [38]. Insgesamt hat uns diese Grabenstruktur mit seiner Tiefebene einen der fruchtbarsten, intensiv ackerbaulich genutzten Böden beschert. Wir können von Glück sagen, dass der größte Teil des Prozesses lange zurückliegt.

Ganz anders in den tektonisch aktivsten Gebieten der Erde vom Nahen bis Fernen Osten; von der erwähnten Türkei über Haiti, Sumatra, Nepal, Tonga/Fiji bis Japan und rund um den Pazifik. In den meisten Fällen sind es kontinentale Transformstörungen (strike-slips) und (wie in Sumatra bis Japan) Subduktionszonen, die die verheerendsten Erdbeben zeitigen. Die jüngsten der letzten Jahre sind noch in guter bzw. schlechter Erinnerung. Das GeoForschungsZentrum Potsdam aktualisiert täglich weltweit auftretende Erdbeben [39].

Und wo ist das nun, 0–100 km Erdkruste?

Die dicksten Krustenteile sind unter hohen Gebirgen zu finden: Himalaya, Anden, Rocky Mountains u.a. Die dünnsten (0 km) natürlich dort, wo keine feste Kruste vorhanden ist, sondern geschmolzene Lava, sei es temporär, wie z.B. in Island, oder ständig, wie in einigen wenigen Lavaseen. Die Lava erstarrt oberflächlich schnell zu festem Gestein, das durch seine höhere Dichte alsbald wieder abtaucht (was sinnfällig mit der Plattentektonik verglichen wurde [40].

In 50–100 Mio Jahren (gerade 50–100 mm im Vergleich!) werden die Kontinente ganz andere Konstellationen eingenommen haben als heute; von neuen Eiszeiten in weniger als 1 Mio. Jahren (oder < 1 mm) einmal abgesehen; oder von menschengemachten Klimaänderungen mal ganz abgesehen. Mittelmeer und Schwarzes Meer? Größtenteils verschwunden. Afrika? Zerbrochen. Australien? Womöglich am Äquator. Indien? Steckt vor dem Himalaja fest, der zur Hälfte abgetragen ist. Die Amerikas, Asien und Europa werden nicht wiederzuerkennen sein. Im Internet sind einige Animationen dazu zu finden [27].

Aber (um bei Zeit und Dicke zu bleiben) egal, wie dauerhaft oder dick die Kruste:
Wir leben wie auf einer brüchigen Eierschale. Deren äußerste feste Haut, plus der Hydro- und Atmosphäre, bilden unser Habitat, die Biosphäre. Sie unterliegt einer stetigen natürlich (und inzwischen auch menschlich [41]) bedingten Veränderung - eine der Haupttriebkräfte der Evolution.

Anmerkungen, Quellen und weiterführende Literatur

[1] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f8/Anatolian_Plate.png

[2] http://geofon.gfz-potsdam.de/eqinfo/event.php?id=gfz2015rynp Ein mittelschweres Beben (an der südlichen Verlängerung der San-Andreas-Verwerfung) mit einer Momenten-Magnitude Mw = 6,6 (nein, nicht auf der ‘nach oben offenen Richterskala’; vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Momenten-Magnituden-Skala)

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Stromatolith_Sauerstoff-Bildung

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Wilson-Zyklus

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Kambrische_Explosion

[6] Für das gesamte Erdalter: https://engineering.purdue.edu/GTS2012_Wallchart.pdf. (oder auch http://www.stratigraphy.org/Chart2015–01.jpg; ein Übersichtsposter inkl. biologische Evolution http://www.hhmi.org/poster-earth-evolution);
für die letzten 2,7 Mio. Jahre: http://quaternary.stratigraphy.org/charts/ (alle Englisch).
Weiterbildungshungrige Menschen achten dort auf die δ18O-Werte der Marine Isotope Stages (MIS, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sauerstoff-Isotopenstufe); die Erarbeitung der 103 MIS der letzten 2,7 Mio. Jahre ist eine Meisterleistung für sich! Mit diesem Hinweis erübrigt sich die weitere Erörterung hier - es würde diesen Artikel auch völlig sprengen…

[7] http://www.welt.de/Die-Erde-ist-ziemlich-genau-6000-Jahre-alt.html

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Innerer_Aufbau_der_Erde

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Eratosthenes#Bestimmung_des_Erdumfangs

[10] http://hpd.de/node/2675 

[11] http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Lyell

[12] Ich erinnere mich sehr gut an eine TV-Sendung (in meiner Jugendzeit in den 1960er Jahren), in der der ‘Fernseh-Professor’ Heinz Haber die Erdexpansion mit einem Ballon, den er aufblies, veranschaulichte; z.B. dokumentiert in: https://www.youtube.com/Erdexpansion.

[13] Das Hauptwerk: Wegener, A. Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Nachdruck der ersten (1915) und vierten (1929) Auflage; Hrsg. AWI (Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung) Bremerhaven; Gebr. Borntraeger Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2005. - Der Umfang des Werks wuchs von knapp 100 auf über 200 Seiten von der 1. zur 4. Auflage. Die 1. Auflage ist mit handschriftlichen Anmerkungen Wegeners ergänzt und dadurch auf über 200 Seiten gewachsen. Der Wert dieses Nachdrucks ist aufgrund seiner Einmaligkeit kaum zu unterschätzen; auch weil er klarmacht, woran Wegener zeitlebens festhielt:
‘Polfluchtkraft’ und dadurch aktives ‘Pflügen’ der Kontinente durch ihre zähplastische Sima- (= Erdmantel-) Unterlage; womit er aber offenbar grundlegend falsch lag. Zwar grundlegend, aber in populären Darstellungen wird Wegener oft als Begründer der Plattentektonik genannt (vgl. z.B. http://www.br.de/meilensteine-wegener-plattentektonik100.html); auf das Für und Wider dazu weist teilweise z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Wegener hin.

[14] Wegener, A. (1927) Der Boden des Atlantischen Ozeans. Gerlands Beitr. z. Geophys. 17 (Heft 3), 311–321

[15] Die Wissenschaftshistorie zerpflücken mustergültig z.B.:
Flügel, H.W. (1980) Wegener - Ampferer - Schwinner. Ein Beitrag zur Geschichte der Geologie in Österreich. Mitt. österr. geol. Ges. 73, 237–254
Glaubrecht, M. (2012) Wegeners neues Weltbild. Die Entstehung der Kontinentaldrift-Theorie - Teil II. Naturwiss. Rundsch. 65 (Heft 7), 341–352

[16] https://de.wikipedia.org/wiki/%C4%B0hsan_Ketin
Kleine Anmerkung zum Türkischen:
c: stimmhaftes dsch (wie in Dschungel)
ç: stimmloses tsch (wie in Tschechien)
e: hell und kurz, fast wie ä
ğ: “ yumuşak ge”, weicher, stimmloser Laut (etwa wie ein Dehnungs-h)
i: helles, langes i (wie in Spiegel)
ı: dunkles, kurzes i (wie in in)
s scharfes s (wie ß)
ş: stimmloses sch (wie in schön)
z: stimmhaftes s (wie in Sonne)
Also İhsan Ketin: Iehßan Kätien

[17] Persönliche Mitteilung von Celâl Şengör.

[18] Pfannenstiel, M., (1944) Die diluvialen Entwicklungsstadien und die Urgeschichte von Dardanellen, Marmarameer und Bosporus. Geol. Rundsch. 34, 342–434. - Diese heute fast vergessene Arbeit ist aus zweierlei Gründen bemerkenswert. Einerseits beschreibt der Autor mit außerordentlicher Akkuratesse eine frühere Wasserverbindung (‘Sakarya-Bosporus’) zwischen Schwarzem und Marmarameer (über den Sakarya-Fluss, Sapanca-See und Golf von İzmit) östlich vom heutigen Bosporus (der vermutlich erst nach dem Pleistozän entstand) im NW der Türkei. Andererseits machte er diese Herleitung praktisch nur anhand von Studien der Literatur, auf die er an der Landwirtschaftl. Hochschule in Ankara (deren Bibliothek er als studierter Geologe und Bibliothekar 1938–41 aufbaute) Zugriff hatte; Feldforschung vor Ort am Schwarzen Meer war ihm als ‘halbjüdischem’ Exilanten (wie auch sowieso allen anderen Forschern) während des Krieges verwehrt (wen das wirklich näher interessiert, kann den pdf-Artikel für knapp € 35 kaufen: http://link.springer.com/Pfannenstiel1944).

[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Curt_Kosswig

[20] Ketin, İ. (1948) Über die tektonisch-mechanischen Folgerungen aus den grossen anatolischen Erdbeben des letzten Dezenniums. Geol. Rundsch. 36, 77–83. - Und nochmals:
Ketin, İ. (1969) Über die nordanatolische Horizontalverschiebung. Min. Res. Explor. Inst. (MTA) Bull. 72, 1–28. - Ein Vergleich mit der ähnlichen San-Andreas-Verwerfung folgte:
Ketin, İ. (1976) San Andreas ve Kuzey Anadolu fayları arasında bir karşılaştırma (A comparison between the San Andreas and the North Anatolian faults): Geol. Soc. Türk. Bull. 19, 149–154.

[21] Şengör, C. (1997) Memorial to İ. Ketin (ftp://rock.geosociety.org/pub/Memorials/v28/ketin.pdf)

[22] Exzellenter Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Plattentektonik

[23] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b0/Plattengrenzen.png

[24] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f0/Tectonic_plates_de.png

[25] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_tektonischen_Platten

[26] http://gfzpublic.gfz-potsdam.de/GFZeitung_2012_04_3.pdf

[27] Eine stark vereinfachte Animation: https://www.youtube.com/watch?v=_0tejKld8Yk (weitere Beispiele mit der Suche nach plattentektonik zukunft).

[28] Ja, dort, wo Kaiser Konstantin im Jahre 325 die Homousie Jesu diktierte: https://de.wikipedia.org/wiki/Wesensgleichheit

[29] Die Schlucht war natürlich bekannt, aber bisher nicht wirklich in ihrer Entstehung erklärt. Ansässige Einwohner sagten mir: Arabuçtu, was keine sinnvollen Hits im Internet ergab; es stellte sich als Fehlbuchstabierung heraus. Eine ‘auf-gut-Glück’-Suche nach Arapuçtu ergab “Bergpaß Arapuçtu” in einer Veröffentlichung des Epigraphen Sencer Şahin, der in Deutschland studierte und inzwischen an der Universität Antalya emeritiert ist, dort aber noch aktiv ist. Er erklärte mir telefonisch den Namens-Hintergrund. Der Bergpass entlang der Schlucht war schon zu Zeiten Roms bekannt, und während der Araber-Einfälle im 11. Jhd. in der Gegend soll ein Kombattant versucht haben, auf seinem Pferd die Schlucht zu überspringen. Es sei unklar, ob er das geschafft hatte, aber die Geschichte (Arapuçtu = ein Araber, der flog) hat sich in der Bevölkerung memoriert…
Şahin, S. (1986) Studien über die Probleme der historischen Geographie des nordwestlichen Kleinasiens II. Epigraphica Anatolica, Heft 7, 153–169
Sein ausführlicheres Buch ist im Museum in İznik einsehbar.

[30] Das müssen Wassermassen von mehreren m Tiefe gewesen sein, vergleichbar mit den Huka Falls in Neuseeland: https://www.google.de/Bilder Huka Falls.

[31] Şengör, C. et al. (2004) The North Anatolian Fault: A New Look. Annu. Rev. Earth Planet. Sci. 33, 1–75

[32] https://de.wikipedia.org/wiki/Erdbeben2011Van

[33] http://www.zeit.de/news/Seebeben2014Ägäis 

[34] https://de.wikipedia.org/wiki/Erdbeben1999Gölcük

[35] Barka, A. et al. (2002) The Surface Rupture and Slip Distribution of the 17 August 1999 İzmit Earthquake (M 7.4), North Anatolian Fault; Bull Seismol Soc Am (BSSA), 92 (1), 43–60

[36] http://www.grube-messel.de 

[37] https://de.wikipedia.org/wiki/Darwinius 

[38] http://www.oberrheingraben.de/Erdbeben.htm

[39] http://geofon.gfz-potsdam.de/eqinfo/seismon/globmon.php

[40] https://de.wikipedia.org/wiki/Lavasee

[41] Menschlich (anthropogen) soll nicht heißen, wir lebten jetzt im "Anthropozän", welches das Holozän abgelöst hätte, wie es populärwissenschaftliche Artikel reihenweise behaupten (z.B. http://www.zeit.de/zeit-wissen/anthropozaen). Es ist richtig, dass das Thema in Diskussion ist, aber von der dafür zuständigen ICS (International Commission on Stratigraphy) derzeit keinesfalls entschieden ist. Anderslautende Behauptungen sind ebensolche und etwas vorschnell.

Hinweis der Redaktion: Die Links in den Quellenangaben wurden noch einmal korrigiert.