Interview mit dem Datenschützer Peter Schaar

Verlieren wir die Herrschaft über uns selbst?

Sie haben schon vor längerer Zeit auf die Problematik der Handy-Ortung hingewiesen, bei der ohne Wissen des Nutzers ein lückenloses Bewegungsprofil aufgrund einer Lücke im Gesetzt erstellt werden kann. Wurde das Telekommunikationsgesetzt nun geändert, um dies zu verbieten?

Leider nicht. Das jetzt von der Großen Koalition kürzlich durch den Bundestag gebrachte Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung vergrößert ja erstmal die Datenmenge, die von den Telekommunikationsunternehmen gespeichert werden müssen. Die zugleich beschlossenen Begrenzungen für die Verwendung von Standortdaten betreffen nur diese zusätzlich zu speichernden Daten. Diejenigen Standortdaten, welche die Unternehmen für eigene geschäftliche Zwecke speichern, sind nicht betroffen. Deshalb wird sich praktisch hier nichts zum Guten verändern.
 

In der Süddeutschen Zeitung vom 13. Oktober 2015 wurde in einem Interview Peter Sunde [1] die Frage gestellt, wie das Internet so zentralisiert werden konnte, und sich die Hoffnung vieler Menschen auf mehr Demokratie durch das Internet nicht erfüllt hat. Er antwortete "Die Technik selbst ist dezentral, aber die Nutzung – also das, was wir unter Internet verstehen – ist zentralisiert. Das liegt an der Bequemlichkeit – und dem Vertrauen. Die Menschen vertrauen diesen Unternehmen ja!"
Haben wir es beim Internet auch mit einem Problem der Gutgläubigkeit der NutzerInnen in einer Welt zunehmender Komplexität zu tun?

Der Begriff Gutgläubigkeit passt hier eher nicht. Kaum jemand in Deutschland gibt Google oder Facebook einen Vertrauensvorschuss. Das eigentliche Problem sind die Bequemlichkeit und die Kostenlos-Mentalität, die im Internet vorherrschen. Zum anderen können sich viele Nutzer nicht vorstellen, dass die Daten gegen sie verwendet werden. Aber genau das ist zu erwarten: Bei der Entscheidung über die Besetzung eines Arbeitsplatzes, beim Abschluss einer Versicherung oder - das geschieht bei Scoring bereits heute - bei der Beantragung eines Kredits.

Das digitale Wir

Kommen wir nun auf Ihr neustes Buch "Das digitale Wir" zu sprechen. Auch Sie sind der Überzeugung, dass der Weg in die Informations- und Transparenzgesellschaft unumkehrbar ist. Doch Sie fordern eine gesellschaftliche Kontrolle, damit unsere grundlegenden Werte ihre Gültigkeit behalten.
Wie stellen Sie sich eine solche "gesellschaftliche Kontrolle" vor?

Gesellschaftliche Kontrolle heißt zunächst, dass eine öffentliche Diskussion über die Prinzipien stattfindet, die im Internet gelten. Grundlegende Werte werden ja nicht allein deshalb obsolet, weil sich das technische Umfeld ändert. Die Frage ist auch, wie wir bestimmten negativen Entwicklungen Einhalt gebieten können. Da spielen Gesetze eine Rolle, aber auch bürgerschaftliches Engagement. Schließlich ist viel Überzeugungsarbeit bei den Nutzerinnen und Nutzern wichtig. Diese Ansprüche umzusetzen, ist auch deshalb schwierig, weil das Internet als globales Medium nur begrenzt durch nationale oder regionale Öffentlichkeiten und Regulierungsansätze beeinflusst werden kann. Wir machen ja gerade in Deutschland die Erfahrung, dass US-basierte Unternehmen wie Facebook oder Google vorwiegend den durch sie selbst gesetzten Regeln folgen - etwa beim Umgang mit Hasskommentaren. Während Bilder, auf denen eine nackte weibliche Brust zu sehen ist, sofort gelöscht werden, bleiben Statements stehen, die in Deutschland als Volksverhetzung strafbar sind. Beim Datenschutz gibt es zunehmend Diskussionen und Aktivitäten, die über den nationalen Rahmen hinausgehen. Beim Thema Transparenz sehe ich das noch nicht.
 

In der Augsburger Allgemeine vom 19. Juni 2012 berichtete Verena Berger, dass sie eine "On-and-Off"-Nutzerin ist. "Wenn mir alles zu viel wird – zu viel Stress, zu viel Leben, zu viel Ich – nehme ich mir eine dreiwöchige Auszeit" (ebd.).
Warum nicht ganz ohne? Wäre das nicht eine Alternative?

Einzelne mögen den Weg der Online-Abstinenz gehen und ich trete dafür ein, dass niemand zurückgelassen wird, der - aus welchen Gründen auch immer - nicht online ist. Umfragen ergeben immer wieder, dass bei uns viele Menschen das Internet nicht nutzen, vor allem unter den Älteren. Deshalb wäre es falsch, die Stadtbibliotheken und Bürgerämter zu schließen, nur weil es entsprechende Online-Angebote gibt. Andererseits gehören Internet und Smartphone für viele Menschen heute so selbstverständlich zu ihrem Leben wie die Elektrizität oder fließendes Wasser. Sie sind darauf bei der Arbeit angewiesen und sie organisieren ihren Alltag mit technischen Hilfsmitteln. Für diesen Personenkreis könnten temporäre Auszeiten durchaus sinnvoll sein - es muss sich ja nicht gleich um drei Wochen handeln. Außerdem muss nicht jede E-Mail innerhalb weniger Minuten beantwortet werden und manche elektronische Mitteilung kann man getrost ignorieren.
 

Der Jugendforscher Phillip Ikrath [2] will eine Gegenbewegung zum Internet ausgemacht haben. "Digitale Aussteiger erkennt man vor allem daran, dass sie eine sehr reflektierte und bewusste Nutzung mit den neuen Medien haben. Die erkennen wir daran, dass sie regelmäßig digitale Diäten machen. Es gibt eine ganz kleine Avantgarde die sogar digitalen Selbstmord betreibt, d.h. sich aus den Netzen vollständig verabschiedet", so Philip Ikrath in der Radiosendung SWR3 am 11.09.2014. Diese Gegenbewegung feiere geradezu alles Analoge wie persönliche Freundschaften, Naturerlebnisse, Handwerkerarbeiten und selber Kochen, sagte der Jugendkulturforscher Philipp Ikrath.
Ist Ihnen dieser Trend auch schon aufgefallen und wie stehen Sie dazu?

 

"Digitaler Selbstmord" hört sich ja nicht sehr attraktiv an. Mit "analog ist das neue Bio" könnte ich da schon mehr anfangen.

Richtig ist: Wir dürfen uns nicht im virtuellen Raum verlieren, sondern wir brauchen realen Kontakt zu wirklichen Menschen und echte Naturerlebnisse. Aber am Ende geht es um eine sinnvolle Kombination. Es hat gute Gründe, warum sich in Unternehmen und Verwaltungen die reine Telearbeit nicht durchgesetzt hat, obwohl die Technik immer leistungsfähiger ist. Viel erfolgreicher wohl sind dagegen Mischformen, bei denen die Beschäftigten zeitweise physisch anwesend sind, an Meetings teilnehmen und gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen in die Kantine gehen.
 

"Das Web hat die Macht, die Gesellschaft zu verändern", sagte Domscheit-Berg sicher zu Recht auf dem Digitalkongress DLD (Digital Life Design) und fuhr fort: "Es passiert gerade eine starke kulturelle Veränderung, und wir bekommen alle mit, wie die Grenzen verschoben werden können."
Hier schließt sich meine Frage an: Fördert das Internet als globale Daten- und Informationsquelle das Verständnis für eine zunehmend komplexer werdende Gesellschaft, also kann es die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger zu kundigen und verständigen Wählerinnen und Wählern qualifizieren?

Das Internet hat zumindest das Potential, dabei zu helfen, dass wir uns in einer komplexeren Umwelt besser zurechtfinden. Aber unübersehbar ist auch, dass elektronische Medien für die Verbreitung von Vorurteilen, Hassbotschaften und Lügen missbraucht werden. Damit müssen wir uns - auch als Netzbürger - auseinandersetzen.
 

In Ihrem Buch "Das digitale Wir" schreiben Sie: "Der Einfluss der staatlichen und privatwirtschaftlichen digitalen Machthaber muss begrenzt werden. Die dafür geeigneten Instrumente gibt es prinzipiell, sie müssen jedoch eingesetzt werden: im Recht und in der Technik."
Können Sie diese Aussage etwas konkretisieren, insbesondere im Hinblick auf die von Ihnen angesprochenen Instrumente, sprich Technologien?

Das Netz ist im Prinzip eine wunderbare Plattform, auf der Machtstrukturen transparent gemacht werden und Machtmissbrauch aufgedeckt werden können. Informationen können bereitgestellt, Entwicklungen kommentiert werden. Blogs wie netzpolitik.org, online-Ausgaben von klassischen Medien und auch Whistleblower-Plattformen zeigen, dass es so möglich ist, Diskussionen anzustoßen, die ansonsten nicht den Weg in die klassischen Medien gefunden hätten. Zudem gibt es immer mehr intelligente Angebote, die sich - ohne größere Leistungseinschränkungen - zu ernstzunehmenden Alternativen zu den datengetriebenen Geschäftsmodellen entwickeln. Wirklich erfolgreich werden sie allerdings nur dann sein, wenn die Nutzer bereit sind, für entsprechende Dienste auch etwas zu bezahlen. Last but not least: Durch die Nutzung von Verschlüsselungstechniken und von Anonymisierungsdiensten können wir den Überwachern das Leben schwerer machen.
 

Das Interview führte Herbert Nebel für den hpd.

[1] Peter Sunde, 37, Finne, Gründer der legendären Seite "Pirat Bay", sprach dort über seine "radikalen, kapitalismuskritischen Netz-Utopien". Er ist einer der bekanntesten Netzaktivisten der Welt.

[2] Phillip Ikrath ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts Jugendkulturforschung in Hamburg.