Familiengeschichte, Dialog und Neubeginn
Seither sind wir auch über die Geschichte der "Mädchen von Zimmer 28" verbunden. Unsere Interessen sind kongenial. Was für mich das Bündnis mit den Überlebenden von Zimmer 28 ist, ist für Gottfried Wagner der breit gefächerte Dialog mit der jüdischen Seite. 1992 gehörte er zu den Mitbegründern der "Post-Holocaust-Dialog-Gruppe der Kinder der Opfer und Täter". Daraus ging 2006 das Buch hervor: "Unsere Stunde Null. Deutsche und Juden nach 1945: Familiengeschichte, Holocaust und Neubeginn. Historische Memoiren", ein Gemeinschaftswerk mit Abraham Peck, Sohn von Holocaust-Überlebenden.
Gottfried Wagner (geb. 1947) ist Musikhistoriker und multimedialer Regisseur mit Schwerpunkt deutsch-jüdischer Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Antisemitismus und Musik, Kurt Weill, "Entartete Musik", Kultur in Theresienstadt). Er setzte sich intensiv mit der Geschichte des Dritten Reiches und dessen Folgen auseinander, vor allem auch in Verbindung mit dem Antisemitismus seines Urgroßvaters Richard Wagner. In seiner fesselnden Autobiografie "Wer nicht mit dem Wolf heult" (1997) schildert er seine Kindheit auf dem Grünen Hügel in Bayreuth, sein Ringen um all die Fragen, auf die er keine Antworten erhielt und sein Entsetzen angesichts der Abgründe, in die er blickte.
Gottfrieds Wunsch und Bestreben, zu erfahren, was da Furchtbares aus der Mitte Deutschlands heraus geschah und welche Rolle dabei seine eigene Familie spielte, sein Drang, die Schleier des Verschweigens und Verdrängens zu heben, machte aus ihm einen kritischen und kenntnisreichen, engagierten und schöpferischen und einen überaus couragierten Zeitgenossen.
Als die Ausstellung "Die Mädchen von Zimmer 28, L 410, Theresienstadt" 2004 im Rahmen des Wettbewerbes "Verfemte Musik" in Schwerin eröffnet wurde, stand auch eine Veranstaltung mit Gottfried Wagner und Michael Chaplin auf dem Programm. Gottfried sprach zum Thema: "Von Wagners Lohengrin zu Chaplins Der Große Diktator". Es war einer seiner unzähligen Arbeiten und Vorträge zum Werk und Leben seines Urgroßvaters.
Kurt Weill, Exil und eine Gegenwelt
Zu keiner Zeit jedoch war Richard Wagner sein einziges Thema. 1977 hatte Gottfried an der musikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien über Kurt Weill promoviert und war damit der erste, der dessen Leben und Werk erforschte. Zweieinhalb Jahre lang leitete er die Kurt Weill Foundation in New York. Unzählige Vorträge zu Kurt Weill und weiteren Themen führten ihn in alle Welt.
Es verwundert mich nicht, dass die intensive Auseinandersetzung mit Kurt Weill und mit dem deutschen Exil, die damit verbundenen persönlichen Begegnungen und Gespräche – auch mit Überlebenden des Holocaust – für Gottfried Wagner geradezu schicksalhaft wurde. Er traf auf eine "Gegenwelt" – auf Menschen und Werke, die jene Kultur verkörperten, die von den Nazis verbrannt und verfemt wurden, und damit auf Menschen und Werke, deren Auffassungen von Kunst und Humanität er aus tiefstem Herzen teilen konnte.
"Du sollst keine anderen Götter haben neben mir."
2013 erschien sein Buch "Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Richard Wagner – ein Minenfeld". Paul Lawrence Rose, Professor für Europäische Geschichte an der Pennsylvania State University analysierte die Studie gründlich und kam zu dem bemerkenswerten Fazit:
Gottfried Wagner combines extraordinary honesty, critical insight and analysis, the most up to date scholarship, and the unique knowledge of a family-insider about the deceits and self-deceptions entrenched in the modern rebirth of "New Bayreuth" to show how no amount of clever and imaginative "public-relations" manipulation will ever achieve a true "redemption" of the Bayreuth Festival until the Festival and the House of Wagner relinquish the drive for power that has been a moving spirit of the Festival ever since Richard Wagner himself first conceived of this idolatrous monument to himself.
Vom Tabu zum mainstream
Heute leben nur noch wenige der Akteure, Mitwisser und Zeugen der verhängnisvollen NS-Zeit unter uns. Die öffentliche Aufarbeitung der eigenen oder familiären NS-Vergangenheit ist geradezu mainstream, politisch korrekt und medientauglich geworden. Achtzig Jahre nach Entstehung der besagten Filmaufnahmen, die Hitler im Siegfried Wagner Haus und im Wahnfried-Park mit Winifred Wagner und den Geschwistern Wolfgangs zeigen, 53 Jahre nach der Entdeckung des Filmmaterials durch Gottfried Wagner im Herbst 1963, und 19 Jahre nach den Enthüllungen in seiner Autobiographie, bedarf es für die beiden offiziellen Wagnerschen "Familienstämme" gewiss keinerlei Mut, über die familiäre NS-Verstrickung zu sprechen, geschweige denn die verschollenen Hitler-Filme zutage zu fördern. Im Jahre 2016, pünktlich zur Festspielzeit auf dem Grünen Hügel – der Ablauf des Urheberrechts ermöglichte gerade die Herausgabe der kommentierten Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" – kommt der "Fund" offenbar zur rechten Stunde, und kommt daher wie eine Sensation. Eine Sensation, frage ich mich – für wen?
Und ich frage mich auch: Wo bleibt die Herausgabe sämtlicher Briefe des Wagner-Clans mit Hitler seit 1923 bis 1945, die Gottfried Wagner seit Jahrzehnten mit aller Deutlichkeit fordert? – nachzulesen im Nachwort zur 5. Auflage seiner Autobiographie aus dem Jahre 2010.
Was zu sagen wichtig ist
Okay. Das alles ist weites Feld und nicht mein Terrain, und die Frage ist für mich nicht einmal so wichtig. Wichtig ist mir, mit diesen Reflexionen einen Ausgleich in Sachen journalistischer, historischer und menschlicher Fairness zu schaffen. Wichtig ist mir, folgendes festzustellen:
Wie kaum ein anderer setzte sich Gottfried Wagner mit der historischen Last, die ihm in die Wiege gelegt war, auseinander. Er, ein Vertreter jener Nachkriegsgeneration, die allen Grund hatten, gegen ihre Väter zu revoltierten, sah es als seine moralische Pflicht und Verantwortung an, hinzuschauen und aufzudecken, nachzufragen und nachzuforschen und seine Entdeckungen und Erfahrungen, seine Ideen und Überzeugungen in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Konsequent, leidenschaftlich und temperamentvoll widmete er sich dieser aufklärerischen Arbeit. Er machte sich dadurch viele Feinde. Aber auch wunderbare Freunde. Freunde, die sein erfrischend offenes Naturell, seine Herzlichkeit, seinen Humor, und nicht zuletzt seinen außerordentlichen Mut schätzen.
Neu Heimat: Italien
Seit 1983 lebt Gottfried Wagner in Italien, zusammen mit seiner italienischen Ehefrau Teresina und Sohn Eugenio. Er ist mit sich und seinem Leben im Einklang und glücklich darüber, dass er den Hafen fand, den er ersehnte. "Ohne Teresina und Eugenio wäre ich nicht der geworden, der ich heute bin. Sie geben mir all das, was ich so lange vermisste – Liebe, Vertrauen und einen Halt. Auch die Unterstützung für meine Arbeit."
Gottfried Wagner Privatarchiv
Aus dieser Arbeit ist inzwischen ein Lebenswerk geworden und aus dem Lebenswerk ist ein umfangreiches Privatarchiv entstanden. Gottfried Wagners Privatsammlung vereint eine Vielfalt von historischen, persönlichen und literarischen Dokumenten, besonders auch der Nachlass seiner Mutter Ellen Drexel und Dokumente seiner Tante Friedelind. Viele dieser Dokumente sind in ihrer Aussagekraft authentischer und für die Geschichtsschreibung gewiss bedeutender als jene, von denen gerade die Medien eine Mär erzählen.
Manche Menschen sind ihrer Zeit voraus oder, man könnte auch sagen: Sie sind inkompatibel mit der Zeit, in der sie leben. Weil sie ihrem eigenen Ethos, ihren eigenen Überzeugungen verpflichtet sind und ihre historische Verantwortung erkannt haben und ernst nehmen. Weil sie nicht zu Kompromissen bereit sind, sich fernhalten wollen von dem Feld der Machtspiele und Intrigen. Solche Menschen haben es nie leicht gehabt. Sie haben es auch heute nicht leicht. Aber sie sind so wichtig wie eine gesunde Luft zum Atmen.
8 Kommentare
Kommentare
Gretel Rieber am Permanenter Link
Kompliment für den Artikel von Frau Brenner. Ich kenne Gottfried Wagner seit Jahren und bewundere seine Haltung.
Ich kann die Diagnose von Hannelore Brenner bestätigen : auch wenn Leute, die es aus eigener Anschauung, eigenen Studien besser wissen als die Journalisten, die über ein bestimmtes Thema berichten, bleiben diese Journalisten felsenfest bei ihrer vorgefassten Meinung. Ein Phänomen, das ich wieder und wieder bei der Berichterstattung - mit wenigen Ausnahmen - über Israel beklagen muss. Gretel Rieber, Köln, freie Journalistin
Hannelore Brenner am Permanenter Link
Danke für das gute feedback!
Hannelore Brenner
little Louis am Permanenter Link
Über die Wagner - Hitler - Problematik wude inden 90gern in der Tat auch hierzulande berichtet. Gerade auch über den Tel Aviv -Eklat.
Allerdings halte ich den "lutherischen Antisemitismus" und auch die damit zusammenhängende "Verstrickung" von J.S. Bach (den ich schätze) für eher noch beachtenswerter. Auch und nicht zuletzt wegen der diesbezüglichen Tabuisierung (- sversuche).
Aliana Brodmann... am Permanenter Link
Gottfried Wagner sollte der Stolz des heutigen Deutschlands sein. Das Ausmass der oeffentlichen und privaten Kaempfe gegen ihn wirft ein fragwuerdiges Licht auf die gegenwaertigen Begebenheiten.
Margit Jandrisovits am Permanenter Link
Eine Wohltat, ein großartiger Artikel von Hannelore Brenner, der nicht nur Gottfried Wagner persönlich sondern der ausgewogenen Recherche als Grundlage für seriöse Berichterstattung geschuldet ist.
Weiters hätte ein Gespräch mit Gottfried Wagner, dessen jahrzehntelange Forschungsarbeit über die historische Last seiner Familie international bekannt und bedeutend ist, diesen Artikel vom 28. Juli in der ZEIT wohl in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen müssen. Wenn Frau Lemke-Matwey schreibt, sie begann in den 70er Jahren aufgrund eines Hinweises von Hans-Jürgen Syberberg in der "halben Wagner Republik zu recherchieren, jedoch ohne Erfolg",so staunt die kritische Leserin nicht über den erwähnten Fund sondern darüber, dass Gottfried Wagner, von dem Herr Syberberg das betreffende Filmmaterial zur Einsichtnahme erhielt, nicht für ihren Artikel vom 28. Juli d.J. kontaktiert wurde.
Es befremdet umso mehr, dass, was schon damals naheliegend gewesen wäre, 2016, nach Erscheinen von Gottfried Wagners Autobiographie und der Veröffentlichung seines Buches über Richard Wagner 2013 ebenfalls verabsäumt wurde.
Wieder wurde er übergangen, seine Arbeit, sein Wissen ignoriert. Das Filmmaterial, das der fast siebzig Jahre alte Gottfried Wagner im Alter von 16 Jahren entdeckte, worüber er in seiner Autobiographie unmissverständlich schrieb, sollte als spektakuläre Entdeckung und "die Nachkommen Wolfgang und Wieland Wagners" als "auf Toleranz erpicht" (DIE ZEIT) präsentiert werden.
Die direkten Nachkommen Wolfgang Wagners sind Eva, Katharina und der unbequeme Bruder Gottfried. Er ist in dieser Formulierung mit all ihrer inhaltlichen Relevanz nicht inkludiert. Warum nicht?
Was ist der Grund für dieses öffentliche Totschweigen einer zentralen Person in diesem Familienverband?
Wieviel Aufwand kostet es, sich darüber hinwegzusetzen, dies auszublenden?
Fragen über Fragen und was bleibt, ist der Dank an Hannelore Brenner für ihr Ausleuchten eines 'toten Winkels der deutschen Medien' und das irritierte Kopfschütteln einer Nichtjournalistin über die Art der Berichterstattung in einem derart renommierten Printmedium wie der ZEIT.
Hannelore Brenner am Permanenter Link
Freue mich sehr über Ihren Kommentar! Danke!
Margit Jandrisovits am Permanenter Link
Bedauerlicherweise ist mir in meinem Kommentar beim Zitieren des Textes von Frau Lemke-Matwey (DIE ZEIT) ein Fehler unterlaufen, den ich hiermit richtigstellen möchte.
Annegret Ehmann am Permanenter Link
Hannelore Brenner tausendmal Dank für diese brillante Gegendarstellung des Artikel in der ZEIT vom 28.7.