Viele offene Fragen beim Prozessauftakt in Eilenburg

Beschneidung als "fahrlässige Körperverletzung"?

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Gerichtsgebäude in Eilenburg
Gerichtsgebäude in Eilenburg

Seit Montag steht in Eilenburg (bei Leipzig) ein Chirurg aus Taucha vor Gericht. Die Anklage lautet "fahrlässige Körperverletzung" nach einer aus Gründen der Tradition erfolgten "Beschneidung" eines fünf Wochen alten Babys. Nach zwei Verhandlungstagen und umfangreicher Zeugenbefragung konnte einiges geklärt werden, doch viele Fragen bleiben offen beziehungsweise entstehen erst während der Verhandlung.

Dass dieser Prozess überhaupt überregional wahrgenommen werden konnte, war in erster Linie der Berichterstattung in der Lokalpresse zu verdanken, die geradeheraus von Komplikationen nach einer "Beschneidung" schrieb, statt den Sachverhalt hinter der üblichen Floskel von "Routine-OP" zu verschleiern. Und so war bereits vor Prozessbeginn bekannt, dass es sich um ein Baby handelte, das nach einer rituellen "Beschneidung" Atemnot erlitt und stationär im Krankenhaus nachbehandelt werden musste. Das Krankenhaus erstattete Anzeige gegen den Arzt, gegen den bereits zum dritten Mal wegen eines ähnlichen Vorfalls ermittelt wurde.

Prozesstag eins: Ablehnungsantrag gegen den Richter

Noch bevor am ersten Prozesstag die Anklage verlesen werden konnte, stellte der Verteidiger des Angeklagten einen Ablehnungsantrag gegen den Richter. Er warf ihm vor, sich mit den Vorwürfen gegen den Angeklagten zu identifizieren, ihn – entgegen dem Gebot der Unschuldsvermutung – als potenziellen Wiederholungstäter zu interpretieren und entsprechend nicht die seinem Amt angemessene Neutralität an den Tag zu legen. Die Verteidigung untermauerte diesen Vorwurf mit der Ladung von Zeugen aus früheren Prozessen. Bereits in den Jahren 2020 und 2022 war es nämlich zu Anklagen mit gleichlautendem Sachverhalt gekommen – lediglich die betroffenen Kinder seien andere gewesen. Da dies einmal zu einem Freispruch führte und beim anderen Mal die Anklage seitens der Staatsanwaltschaft selbst fallen gelassen wurde, sei es unzulässig, dies nochmals in einem anderen Prozess gegen den Angeklagten zu verwenden. Zudem warf der Anwalt dem Gericht vor, bereits vor Prozessbeginn Details an die Presse gegeben zu haben. Insgesamt solle der Angeklagte also als Gesamtperson bewertet und geschädigt werden. Dies widerspreche den Grund- und Menschenrechten, nach welchen er ein Anrecht auf die Unschuldsvermutung habe.

Da der Staatsanwalt eine Stellungnahme zu diesem Ablehnungsgesuch erst für den zweiten Prozesstag sicher zusagen konnte, wurde die Verhandlung planmäßig weitergeführt und zunächst die Anklage verlesen. Darin wird dem Arzt eine "fahrlässige Körperverletzung" vorgeworfen. Gemäß der Anklageschrift empfing der Angeklagte am Tag der Tat in seiner Praxis eine Familie mit einem fünf Wochen alten (männlichen) Säugling und führte an dem Kind eine medizinisch nicht indizierte "Beschneidung" unter Lokalanästhesie durch. Kurz nach der OP lief das Kind blau an, bekam Atemnot und die Herzfrequenz stieg dramatisch an. Der daraufhin gerufene Rettungswagen brachte das Kind ins Krankenhaus, wo es fünf Tage stationär beobachtet und nachbehandelt wurde.

Nachdem die wichtigsten Protokolle von Operation, Notarzteinsatz und Krankenhaus verlesen worden waren, wurden als weitere Beweismittel die Mitschnitte der Notrufe gehört. Es waren insgesamt drei Notrufe getätigt worden.

Der Verteidiger warf dem Richter vor, beim Abspielen der Tonspuren absichtlich die chronologische Reihenfolge der Telefonate nicht eingehalten zu haben, um den Eindruck zu vermitteln, dass es in der Praxis des Arztes chaotisch zugehe. Er formulierte daraus einen weiteren Antrag zur Ablehnung des Richters. Damit endete der erste Prozesstag.

Prozesstag zwei: Die Frage nach der ärztlichen Aufklärung

Tag zwei begann mit der Stellungnahme des Staatsanwaltes, welche nicht nur die Vorwürfe des Verteidigers entkräftete, sondern im selben Zug eine neue Dimension eröffnete: Die Ladung der Zeugen aus früheren Prozessen sei, so der Staatsanwalt, nicht erfolgt, um dieselben Fragen zu beantworten wie bei den früheren Fällen, und den Angeklagten als Gesamtperson zu bewerten, sondern um etwas zu prüfen, was bislang nicht zur Sprache gekommen war: Die Frage nämlich, ob in dieser Praxis grundsätzlich eine ausreichende Aufklärung über zwingende und mögliche Folgen und Risiken solcher Eingriffe stattfindet.

Grundsätzlich ist eine Aufklärung des Patienten beziehungsweise dessen gesetzlicher Vertretung bei jedem Eingriff angezeigt. Durch ein Gespräch und die Unterschrift auf einem umfangreichen Aufklärungsbogen wird sichergestellt, dass die Einwilligung zu einer Operation gegeben wurde, damit diese nicht juristisch als Körperverletzung verfolgt werden kann. Verzichtet werden darf auf diese Aufklärung nur im begründeten Notfall – beispielsweise, wenn der Patient bewusstlos ist und Gefahr für Leib und Leben besteht. Bei einem medizinisch nicht indizierten Eingriff hingegen muss die Aufklärung umfänglicher erfolgen und noch lückenloser dokumentiert werden. Sofern nicht sichergestellt ist, dass der Patient ausreichend und umfänglich aufgeklärt wurde, ist die Einwilligung in den Eingriff nichtig und der behandelnde Arzt macht sich einer gefährlichen beziehungsweise vorsätzlichen Körperverletzung schuldig. Ob eine solche Anklage in diesem Fall erhoben werden könne, solle unter anderem durch die Aussagen der weiteren geladenen Zeugen ermittelt werden.

Entsprechend stellten Richter und Staatsanwalt bei der Vernehmung der Eltern sowie der Großmutter des Kindes Fragen. Neben den Versuchen, den genauen Ablauf hinsichtlich Medikamentierung und Hilfemaßnamen durch den Arzt zu rekonstruieren, kamen sie immer wieder darauf zurück, welche Informationen wem vor dem Eingriff vorlagen und ob die Eltern einen Aufklärungsbogen unterschrieben hatten. Die Familie stammt aus Syrien. Um allen die Aussage in ihrer Muttersprache Arabisch zu ermöglichen wurde ein Dolmetscher hinzugezogen.

Übereinstimmend waren alle Zeugenaussagen im Ablauf der Ereignisse, die sich mit der Schilderung aus der Anklage deckten. Das Kind war von seinen Eltern sowie der Großmutter väterlicherseits in die Praxis gebracht worden. Die Mutter blieb im Wartezimmer, da sie nach eigenen Angaben Angst hatte und nicht sehen könne, wie ihr Kind leidet und weint. Das Kind wurde vom Vater und dessen Mutter in den Behandlungsraum gebracht. Die Großmutter entkleidete das Kind und hielt seine Beine auf Anweisung des Arztes fest, während dieser die Lokalanästhesie einleitete und kurz darauf die Vorhaut des fünf Wochen alten Kindes mit einer Winkelmann-Beschneidungsklemme amputierte. Nach dem Eingriff wurde das Kind im Wartsaal seiner Mutter übergeben. Erst zu diesem Zeitpunkt erfolgte offenbar eine Information durch den Arzt: Sobald die Betäubung nachlasse, werde das Kind weinen. Nachdem die Mutter dem Jungen ein Fläschchen gegeben hatte, lief das Kind blau an, hörte auf zu atmen und bekam einen Krampfanfall. Die Familie bat mehrmals darum, dass ein Krankenwagen gerufen werde, doch der Arzt sprach sich zunächst dagegen aus. Als die Rettung schließlich doch gerufen wurde und kam, wurde das Kind ins St. Georg Klinikum Leipzig gebracht und dort weiter versorgt und behandelt.

Auf die Fragen des Richters an die Familie, ob man ihnen zuvor erklärt habe, was genau stattfinden würde – also Aufklärung über die Betäubung und welche Komplikationen diese in seltenen Fällen haben könnte und ob sie einen Aufklärungsbogen unterschrieben hätten – sagten alle drei, dass sie sich nicht erinnern könnten, ob dies geschehen sei oder nicht.

Der Richter fragte weiter, ob sie, wenn sie gewusst hätten, welche Komplikationen es geben könne, ihren Sohn trotzdem hätten "beschneiden" lassen beziehungsweise ob sie einen weiteren Sohn "beschneiden" lassen würden, jetzt da sie informiert seien. Beide Eltern waren unschlüssig, ob sie von einer "Beschneidung" generell Abstand nehmen würde. Einig waren sie sich aber darüber, dass sie dies nicht wieder in einer Praxis sondern nur im Krankenhaus tun würden.

Da sie gehört hatten, dass Krankenhäuser diese Operation erst ab dem 7. Lebensjahr durchführten und es ihnen aber wichtig sei, das Kind so früh wie möglich zu "beschneiden", da es dann weniger spüre, hatten sie bewusst eine Praxis dafür gesucht. Warum Krankenhäuser die Operation nicht an so kleinen Kindern vornehmen wollen, sei der Mutter nicht klar gewesen. Nun wisse sie es aber. Womöglich ist das auch die Antwort auf die Frage, ob Aufklärung stattgefunden hat.

Die Verhandlung in Eilenburg geht weiter

Der Angeklagte hatte sich vorbehalten, sich erst nach der Entscheidung über den Ablehnungsantrag gegen den Richter zu äußern. Und so war sein einziger Beitrag ein gelegentlicher Hinweis an seinen Verteidiger, dass der Dolmetscher bei der Zeugenbefragung etwas aus dem Arabischen nicht korrekt übersetzt habe. Aus den Berichten der Familie des Jungen ging hervor, dass der Arzt "durcheinander" gewesen sei, als das Kind krampfte. Die Atemmaske, die er dem Jungen aufsetzen wollte, sei zu Boden gefallen, so sehr habe er gezittert, und er habe längere Zeit verhindert, dass der Notarzt gerufen werde. Die Aussagen des Notarztes, der das Kind in Empfang genommen hatte, setzten diesem Bild noch hinzu, dass das Krankenhaus "erbost" reagiert hatte, als er den Namen der Praxis nannte, aus der das Kind kam. Dies sei der dritte Fall aus dieser Praxis in relativ kurzer Zeit gewesen.

Der Antrag auf Ablehnung des Richters wegen Befangenheit stand weiter im Raum, hatte aber keinen Einfluss auf die Abarbeitung der Beweisaufnahme. Es wäre möglich, die Art der Befragung des Richters – insbesondere die Vehemenz, mit der er immer wieder nach der Aufklärungssituation vor der Operation fragte – als Ausdruck mangelnder Neutralität zu interpretieren. Durch die teils aber nicht eindeutigen Aussagen der Familie samt der Sprachbarriere beziehungsweise der mittelbaren Befragung durch den Dolmetscher schien es durchaus gegeben, gründlich nachzuforschen, wie es um dieses wesentliche Detail steht.

Der Verteidiger ließ keine Gelegenheit aus, das Gericht zu kritisieren und nach angeblichen Verfahrensfehlern zu suchen. Als der Richter die Eltern des Jungen dazu befragt hatte, warum sie die "Beschneidung" so früh hätten vornehmen lassen, beantragte er gar einen Sachverständigen, der darüber aufklären solle, welches Alter für die "Beschneidung" im Kulturkreis dieser Familie üblich sei. Der Richter wies dies eloquent zurück mit der Begründung, die Frage habe nur darauf abgezielt, wie Empfinden und Einschätzung der Eltern dazu seien.

Die Verhandlung in Eilenburg wird am 21. Mai ab 10:30 Uhr weitergeführt. Sie ist (nach jetzigem Kenntnisstand) öffentlich. Wie auch immer das Urteil am Ende lauten wird, bleibt es nach deutschem Recht für den Angeklagten grundsätzlich legal, männlichen Kindern die Vorhaut zu amputieren. Sollte er seine Approbation als Arzt verlieren, würde dies dazu führen, dass er keine medizinisch indizierten Eingriffe an kranken Menschen mehr vornehmen dürfte. Kinder "beschneiden" dürfte er weiter, sofern sie männlich und jünger als sechs Monate sind. Dann eben ganz ohne Betäubung. Dafür würde laut § 1631d BGB Abs. 2 die Bestätigung einer Religionsgesellschaft ausreichen, dass er dafür "vorgesehen ist, Beschneidungen durchzuführen".

So sehr diese Geschichte berührt und man mit dem Jungen und seiner Familie mitfühlt, so stellt sich doch auch eine Fassungslosigkeit im Hinblick auf die geltende Rechtslage ein und es treten Folgen des fatalen Paragrafen 1631d BGB ans Licht, die vielleicht auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Nämlich die wirtschaftliche Frage: Was kostet dieses Gesetz unser Gesundheits- und Rechtssystem? Was kostet ein Tag Aufenthalt eines Säuglings auf einer Intensivstation? Was kostet ein Tag vor Gericht? Wer hat diese Kosten zu tragen angesichts der Tatsache, dass die OP nicht medizinisch indiziert war? Ganz abgesehen davon, dass viele Rechtsexpert*innen das Gesetz ohnehin für verfassungswidrig halten.

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