Reflexionen zum medialen Echo auf den "Fund" der Hitler-Filmaufnahmen von Wolfgang Wagner

Gottfried Wagner im toten Winkel der deutschen Medien

Das Magazin DIE ZEIT veröffentlichte am 28. Juli 2016 auf der Seite 39 einen Artikel mit dem Titel "Die Laune ist glänzend". Untertitel: "Adolf Hitler war Dauergast bei den Bayreuther Festspielen. Jetzt taucht ein unbekannter Film auf, der seine Rolle in der Familie Wagner ganz neu beleuchtet." Ähnlich lautende Artikel folgten in anderen Medien. Unsere Autorin Hannelore Brenner erinnert daran, dass der Film bereits vor 30 Jahren bekannt war und fragt, weshalb das verschwiegen wurde.

Das Phänomen ist bekannt: Immer dann, wenn man selbst von einer Sache mehr weiß als die JournalistInnen, die darüber schreiben, oder einfach Aspekte kennt, von denen die Berichtenden nichts wissen, oder von denen sie nichts wissen wollen oder können, erkennt man die Schwachstellen, gewissermaßen die toten Winkel der Medien – und damit auch deren Macht und Deutungshoheit. Und man stellt fest, wie unfair dies zuweilen sein kann – oder einseitig, empörend, tendenziös, gefährlich – je nachdem.

Dabei braucht man nicht immer ein Experte oder eine Expertin einer Sache zu sein, um stutzig zu werden und sich über das, was man liest, zu wundern. Manchmal reicht es schon aus, dass man ein Buch gelesen hat, um zu merken: Da verfälscht, verwässert oder manipuliert jemand die Tatsachen oder geht einfach über vieles hinweg. Was wohlgemerkt – um dem Chor der Lügenpresse-Schreier vorzubeugen – ein Phänomen ist, das sich überall dort bemerkbar macht, wo Kommunikation stattfindet. Ohne Ausnahme.

Da mir dieses Phänomen jedoch kürzlich geradezu lebhaft ins Auge gesprungen ist, fühle ich mich gedrängt, der Fairness wegen, persönlich Stellung zu nehmen. Es geschah, als ich im Feuilleton der jüngsten Ausgabe der ZEIT die Seite 39 aufschlug und im Untertitel las: "Adolf Hitler war Dauergast bei den Bayreuther Festspielen. Jetzt taucht ein unbekannter Film auf, der seine Rolle in der Familie Wagner ganz neu beleuchtet." - Ein "unbekannter Film"? Wie das? Hatte ich nicht längst vor fast 20 Jahren darüber gelesen?

"Wer nicht mit dem Wolf heult"

Ich holte das Buch hervor, die Autobiographie von Gottfried Wagner, dem 1947 geborenen Sohn von Wolfgang Wagner und Ellen Drexel, geschiedene Wagner. Titel: "Wer nicht mit dem Wolf heult", erschienen 1997 im Kiepenheuer & Witsch Verlag. Ich fand die besagte Stelle im Kapitel: Villa Wahnfried:

Im Herbst 1963, meine Eltern erholten sich gerade im Urlaub von den Festspielstrapazen, erkundigte ich einen Holzschuppen, der neben der Garage stand. Dort stand Vaters schweres BMW-Motorrad mit Beiwagen. Darin fand ich in zwei Pappkartons zahlreiche runde Aluminiumdosen verschiedener Größe. Sie waren so verrostet, dass ich sie mit bloßen Händen nicht öffnen konnte. Ich schaffte sie heimlich in mein Zimmer, entfernte den Rost und machte sie vorsichtig mit einem Schraubenzieher auf. In jeder Dose lag eine Filmrolle. Ich nahm eine der größeren und zog den Filmstreifen unter einer Lupe hindurch. Was ich entdeckte, warf mich um.

Autobiographie von Gottfried Wagner
Autobiographie von Gottfried Wagner "Wer nicht mit dem Wolf heult"

Spätestens mit dieser Entdeckung begann Gottfried Wagners kritische Auseinandersetzung mit der Verstrickung seiner Familie mit Adolf Hitler und dem NS-Regime – in einer Zeit, die als "bleierne" in die Geschichte eingegangen ist; weil jegliche Fragen an die Mütter, Väter und Großeltern nach dem, was da aus der Mitte Deutschlands heraus Furchtbares geschehen war, gemeinhin abprallten und abgewürgt wurden, und das Verdrängen, Verharmlosen, Verschweigen und Verleugnen eine stillschweigend sozial abgemachte Sache war und wie ein Gift längst in das tägliche Leben und damit auch in die Erziehung der Kinder eingedrungen war.

Was hatte die Familie Wagner, allen voran Winifred Wagner, Erbin und Nachlassverwalterin und "Gralshüterin" des in der Nazizeit zu neuen Weihen gelangten Ouevres von Richard Wagner, nicht alles zu vertuschen und zu verbergen! Wie viel Reinwascherei, wie viel geschicktes Lavieren und Taktieren musste damals, in den ersten Jahren nach dem Krieg, nötig gewesen sein, um nicht radikal abgestraft zu werden für den verhängnisvollen Pakt, den sie mit Hitler geschlossen hatte, ihrem geliebten Hausfreund, Gönner und Mäzen, dem man nun, achtzig Jahre später, auf den unbekannten, verschollenen und wiedergefundenen Filmdokumenten in die "marmeladigen Augen" schauen kann?

"Wieso wusste niemand von seiner Existenz?"

"Doch warum waren diese Filmdokumente so lange verschwunden?", fragt verwundert die Autorin des ZEIT-Artikels. "Wieso wusste niemand von seiner Existenz? (…) Ist das, was der Streifen zeigt, so brisant, dass man versuchte, es unter Verschluss zu halten (wer auch immer). Wurde die Brisanz vielleicht gar nicht erkannt? Oder war hier bloß der bewährte Bayreuther Schlendrian am Werk…?"

Ein paar Zeilen später heißt es resümierend: "Den typischen Bayreuther Schlendrian im Umgang mit der eigenen Vergangenheit freilich kann man Wolfgangs Nachkommen ebenso wenig vorwerfen wie denen des älteren Bruders Wieland. Ihre beiden Familienstämme (…) sind geradezu auf Transparenz erpicht."

Wer ist bloß damit gemeint? Wer ist da "geradezu auf Transparenz erpicht"? Offenbar, so folgere ich nach der Lektüre, die NachlassverwalterInnen und RepräsentantInnen des Vermächtnisses von Wolfgang Wagner. Gottfried Wagner ist damit gewiss nicht gemeint. Obgleich doch auf ihn allein die Zuschreibung dieser Eigenschaft absolut zutrifft und geradezu verbürgt ist. Aber sein Name fällt nicht, seine Autobiografie bleibt unerwähnt. Klar, es würde die Logik – vermutlich auch die Intention - des Artikels zunichtemachen. Und eine Frage erschiene vollkommen unsinnig, nämlich diese: "Wieso wusste niemand von seiner Existenz?"

Ein Antipode des Grünen Hügels

Zurück zum Jahr 1963, als Gottfried im Holzschuppen seines Vaters die Filmrollen entdeckte. Er war damals 16 Jahre alt, im gleichen Alter wie sein Vater, als er die Filmaufnahmen von Hitler machte. Mit aller gebotenen Vorsicht machte sich Gottfried daran, seinen Vater zu befragen, wollte herausfinden, was es mit dieser Verbindung seiner Familie, seiner Großmutter und seines Vaters zum "Führer" (dem "Onkel Wolf") auf sich hat. Doch dafür hatten weder sein Vater noch seine Großmutter Winifred auch nur ein Gran Verständnis – im Gegenteil. Und so wurde Gottfried Wagner das schwarze Schaf der Familie – ein Nestbeschmutzer, ein Ausgestoßener, der Antipode des Grünen Hügels. Und einer, der seiner Familie die Stirn bot – jahrelang, sein Leben lang, bis heute.

Gottfried Wagner brach ein Tabu, das ist gewiss. Er musste es brechen, musste aus der Welt seiner Kindheit ausbrechen und der Atmosphäre entkommen, an der er zu ersticken drohte. Er brach mit seinem Vater. Und das bedeutete auch, er brach mit der gesamten Lobby der deutschen Finanz- Politik- Kultur und Medienwelt, die an der Renaissance des Bayreuther Nachkriegs-Festspielhaus kräftig mitwirkte und die er nun gegen sich hatte. Der Bruch war total. Gottfried verließ Deutschland. Er wusste, dass es für ihn, um mit Adorno zu sprechen, "kein richtiges Leben im falschen geben kann".

Ein Foto und eine Erinnerung

Gottfried und Tante Friedelind. Foto © Gottfried Wagner
Gottfried und Tante Friedelind. Foto © Gottfried Wagner

Das Foto zeigt Gottfried im Jahre 1983 mit seiner Tante Friedelind Wagner (1918-1991). 1944 hatte sie in den USA das Buch "Heritage of Fire" veröffentlicht. Die deutschsprachige Ausgabe folgte 1945 in der Schweiz unter dem Titel "Nacht über Bayreuth". Mit Tante Friedelind verstand sich Gottfried wunderbar:

Sie verabscheute Hitler und wurde deswegen vom Familien-Clan als Verräterin geächtet. Anstatt sich bei ihr zu entschuldigen, spottete man über sie und stempelte sie zur Verliererin ab. Das durchschaute ich schon als Kind und entwickelte eine lebenslange innige Beziehung zu ihr. Sie war die einzige ihrer Generation der Wagners, die mir immer half, wenn ich in Not war. Ihr Foto und das meiner Mutter stehen bei mir nebeneinander.

Mai 1998, Opera House, Tel Aviv

Ich lernte Gottfried Wagner 1998 in Israel kennen. Die Lektüre seiner Autobiographie hatte mich dazu bewogen, der Einladung zu einer Matinee am 5. Juni 1998 im Opera House in Tel Aviv zu folgen. Auf dem Programm stand die Diskussion der Frage, ob man Richard Wagners Werke in Israel aufführen darf, kann oder doch besser lassen sollte. Meine israelischen Freunde begleiteten mich.

Nach etwa einer Stunde Diskussion – die im Fokus stehende Frage war längst nicht entschieden – überraschte eine Ansage das Publikum. Man würde jetzt die "Holländer-Arie" aus Wagners Oper "Der fliegende Holländer" spielen, und schon betrat das Ensemble die Bühne und setzte zum Spiel an. Ein Tumult brach los. "Wir sind hier eingeladen worden, um zu diskutieren, ob man Wagner spielen soll oder nicht und nicht, um ihn zu spielen und zu hören!" Empörte Stimmen, Versuche der Besänftigung von Seiten der Veranstalter. Die Reihen lichteten sich. Ich schaltete mein Tonband ein, hielt das Mikrofon in den Saal. Es wurde mir verwehrt. Außerhalb des Konzertsaales fing ich dann noch ein paar Stimmen ein. Dort traf ich Gottfried Wagner im angeregten Gespräch mit aufgebrachten Besuchern. So lernten wir uns kennen.