Rezension

Ein Pfarrer verbrennt sich

Ein ungewöhnliches Buch über den "Fall Brüsewitz" liegt vor. Es ist mit fast 700 Seiten trotz leserunfreundlicher kleiner Schrift auch außerordentlich dick, geschrieben mit einer eigenwilligen Sicht auf die DDR und ihre Kirchengeschichte, entwickelt aus der Mehrseitenbetrachtung der historischen Realität, die akribisch erkundet wird. Der Autor Karsten Krampitz (Jg. 1969), auch ein begnadeter Belletrist, hat das tragische Geschehen der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976 in Zeitz gründlich untersucht und die widersprüchliche Person erkundet, inklusive das, was seit dem Vorgang (der öffentlichen Tat) über Brüsewitz gesagt bzw. behauptet wird. Seit Jahren geht er dem Fall nach und wurde nun zu diesem Thema erfolgreich promoviert. Die Studie wird von Horst Groschopp rezensiert.

Krampitz bewegt sich in seiner Erzählung, wenn man so will, in konzentrischen Kreisen, immer wieder greift er sein Grundthema, das Ereignis, auf, fügt neuen Stoff hinzu, ergänzt Vorheriges anhand weiterer Quellen, die Vor- und Nachgeschichte behandelnd. Sein gut lesbarer, weil an den handelnden Personen orientierter Vortrag, ist teilweise geradezu getrieben von den Dokumenten und Zeugenbefragungen. Immer wieder scheint die Freude durch, Naheliegendes gefunden zu haben, was andere, von ihren zeithistorischen Umständen und politischen Absichten geleitet, nicht entdeckten oder veröffentlichten. So entfaltet der Autor ein Stück deutsch-deutscher Kulturgeschichte an einer politischen Wendestelle sowohl der evangelischen "Kirche im Sozialismus" (Bund Evangelischer Kirchen in der DDR, BEK) als auch der Restriktionen von SED und Staatssicherheit. Er verknüpft dies mit anderen unmittelbaren Ereignissen, so mit der Wolf Biermann-Ausbürgerung nur drei Monate nach dem Zeitzer Ereignis, und gibt das Bild einer Systemkrise.

10 Jahre hpd

Aber auch die evangelische Kirche geriet in eine tiefe Krise, hatte sie doch, obwohl sie wusste, welch schwieriger Charakter der aus Westdeutschland 1954 in die DDR übergesiedelte Schuhmachermeister Brüsewitz war, der aus einer gescheiterten Ehe und einigen Schulden floh, Frau und Tochter mittellos zurücklassend (vgl. S. 261), sie in der zweiten Ehe verleugnend, im zweiten Anlauf dann doch zur Predigerschule zugelassen und nahm hin, dass dieser mit seltsamen Eskapaden auf sich aufmerksam machte, ohne seinen seelsorgerischen Aufgaben vor Ort ordentlich nachzukommen. Stattdessen machte er sich einen Namen beim Missionieren durch Provozieren (vgl. S. 278). Brüsewitz habe wohl eine "dissoziale Persönlichkeitsstörung" (vgl. S. 253 ff.) und ein apokalyptisches Weltbild gehabt, ausgebildet in den Jahren seiner Zeit in der Elim-Gemeinde in Leipzig 1955-1960 (vgl. S. 318). Mag es die Tat eines beruflich Gescheiterten sein (vgl. Fn 468, S. 229), dennoch steht sie für sich, ist ein tragisches Schicksal und ein unübersehbarer und starke Wirkung entfaltender politischer Protest.

Bei all dem, welche Einschätzungen unmittelbar danach oder später in Staat und Kirche geäußert wurden, Krampitz findet keinen Beleg, dass ihn seine Gemeinde vermisste. Es hat, trotz bis heute anhaltender Gerüchte, keine Disziplinierungsmaßnahmen seiner Kirchenoberen gegen Brüsewitz gegeben (vgl. S. 335). Beim Studium der Stasi-Akten ergibt sich für den Autor, dass, weil Brüsewitz keine Freunde hatte (vgl. S. 254 ff.), er dem Geheimdienst keine Gelegenheit gab, ihn und sein Umfeld auszuforschen. Er blieb vielen ein Rätsel (vgl. S. 268 ff.). Dementsprechend erfinderisch fallen die späteren Berichte der Geheimdienstmitarbeiter vor Ort aus – und prägen dann offizielle Stellungnahmen. Alle, auch lange Zeit seine Kirche, stochern, was die Motive betrifft, im Nebel. Um so breitere politische Interpretationsbreitseiten ergeben sich in Ost und vor allem vom Westen aus, auch gegen die neue sozialliberale Ostpolitik gerichtet.

Was die Krise der Kirche betrifft, so bearbeitet Krampitz einige interessante Hintergründe heraus, so die anhaltende Westflucht von Ostpfarrern und die Vergünstigungen bei Westreisen, auch zu Urlaubszwecken, von der DDR-Führung erleichtert, um die Pfarrerdichte in der DDR zu reduzieren. Sie dürfen reisen und ausreisen, wohin sie wollen (vgl. S. 78 ff.) Krampitz verweist auf die "Staatsfixierung" der evangelischen Kirche, die Fortzahlung der Staatsleistungen, die Geschichte der Deutschen Christen, die sicher gerade im Gebiet der Kirchenprovinz Sachsen, etwa im Altenburger Land, aber auch in Thüringischen und Sachsen-Anhaltinischen Gegenden nachwirkten, gab es doch keine Entnazifizierung der Pfarrerschaft. Krampitz geht darauf ein, weil Brüsewitz eine gewisse Nähe zu rechtskonservativen Ansichten besaß ("latente deutschnationale Mentalität im evangelischen Milieu", vgl. S. 277), aus denen sich auch wesentlich seine Fundamentalkritik an der DDR speiste.

Krampitz entfaltet in seiner Arbeit zwei Kernthesen:

Erstens habe das Ereignis eine widersprüchliche Vorgeschichte gehabt. Es sei auch nicht "die Selbstverbrennung … das historische Ereignis in der DDR-Geschichte" gewesen, sondern der öffentliche Umgang mit dieser Tat, der ND (= Parteizeitung Neues Deutschland; HG)-Kommentar vom 31. August 1976, der das Entsetzen einer sich langsam formierenden Zivilgesellschaft herausforderte und zu einer Solidarisierungswelle mit der politischen Intention seiner Tat führte“ (S. 85). Krampitz geht dabei der Frage nach, warum die DDR-Kirche sich ein letztlich von den Westurteilen unterscheidendes Urteil ausbildete, wie sie unter dem Westdruck litt (Jugendweihe-Frage), wie sich Druck aus der jüngeren Pfarrerschaft heraus entfaltete, wie die Staatssicherheit in der Kirche alte "Quellen" benutzte und neue requirierte, wie die SED und ihr Staat die Kirche zu spalten beabsichtigte, aber auch, wie klug die verunsicherte Kirchenführung immer wieder reagierte.

Zweitens führt die Unnachgiebigkeit von Staat und Kirche beide zu einem (später wieder umstrittenen) Kompromiss, zu einer, wie Krampitz schreibt, "Annäherung der evangelischen Kirche an die Erwartungen des SED-Staates", konkret zum Spitzengespräch mit Honecker am 6. März 1978 hinleitend. Das könne man nicht als vordergründigen Opportunismus einschätzen, "sondern (als) eine längst überfällige Anpassung an die Realität, man könnte auch sagen, an die kirchenpolitische 'Gefechtslage'" (S. 86). Aus dem, was dort erreicht wurde, ergab sich dann zehn Jahre später die Chance, einer Opposition strukturelle Hilfe zu leisten. Die Kirche selbst wurde aber dem Weg dahin immer mehr zu einer Minderheitenkirche.

Krampitz‘ Studie ist nicht nur wegen der vielen "kleinen" Entdeckungen in den Vorgängen und Äußerungen der handelnden Personen erhellend für einen konkreten Geschichtsvorgang, nicht vor allem wegen der akribischen Darstellung der Meinungen und Positionen in der Kirchenprovinz, der Gesamtkirche, des Staates vor Ort, des Staatssekretariats für Kirchenfragen der Regierung in Berlin, der SED-Führung und der Staatssicherheit, sondern weil er das Jahr 1976 als ein Schlüsseljahr zur DDR-Geschichte in denjenigen Verästelungen vorführt, die sich dann verselbständigen.

So zitiert er ziemlich am Ende die wohl hellsichtige, dann aber doch in der Folge der SED wenig nützende Einschätzung des Mitarbeiters der Abteilung Kirchenfragen beim ZK der SED, Dr. Eberhard Hüttner, einen Monat "nach der Sache Brüsewitz" im September 1976: Die öffentliche Selbstverbrennung sei "ein wichtiger Zeitpunkt zur Sichtung der Kräfte" gewesen. Schlagartig wäre sichtbar geworden, wo die DDR-Kirchen stehen und mit ihnen die Geistlichen und andere Amtsträger. "Zuerst war die Leitung der Kirche der Kirchenprovinz Sachsen schockiert, dann hat sie laviert, dann hat sie sich gegen uns gewandt." (vgl. S. 513) Krampitz folgert: "Das Skandalmanagement der SED-Spitze sollte zum eigentlichen Skandal werden." (S. 393)

Abschließend ist daran zu erinnern, dass jede Geschichtsdarstellung parteiisch ist, auch wenn die Verfasser höchsten Ansprüchen an Objektivität zu genügen suchen. Krampitz hält gerade hinsichtlich der von ihm erzählten Geschichte fest: "So wenig sich Brüsewitz für Heroisierungen eignet, so deutlich zeigt sich in der Rezeptionsgeschichte seiner Tat, dass die Projektionen auf Brüsewitz immer mit den jeweils bestehenden politischen Verhältnissen in Verbindung standen. Bestimmte Bücher und Zeitungsartikel erzählen mehr über ihre Verfasser und die Zeit ihrer Publikation als über Brüsewitz, den sie vorgeblich zum Gegenstand haben." (S. 317) In diese Geschichten des Ereignisses und der Urteile darüber gehört auch die Eingangsfrage von Krampitz, die er als Grundsatzproblem aller DDR-Historie nimmt: "War das Leben in der DDR denn wirklich so unerträglich, dass ein Geistlicher auf eine solch schreckliche Weise gegen die Verhältnisse protestieren musste?" (S. 17)

Karsten Krampitz: Der Fall Brüsewitz. Staat und Kirche in der DDR. Berlin: Verbrecher Verlag 2016, 680 S., 29,90 Euro, ISBN 079-3-95732-159-6