Utopie

Wenn Plastik zum Nährstoff wird

BERLIN. (hpd) Der Autor kam schon vor längerer Zeit zu der Überzeugung, dass aufgrund der Evolutionsfreudigkeit von Bakterien in nicht ferner Zukunft neue Organismen entdeckt werden, die in Lage sind, Plastik als Nährstoff zu nutzen. Inzwischen sind diese Bakterien entdeckt. Doch welche Folgen könnte es haben, wenn die plastfressenden Bakterien zur die Erschließung neuer Nährstoffquellen beitragen?

Jährlich landen ca. 10 Mio Tonnen Plastik, größtenteils durch Flüsse, im Meer. Insgesamt liegt die Anzahl von Tonnen Plastik in den Meeren wohl im unteren dreistelligen Millionenbereich.

Ca. 70% sinken auf den Meeresgrund, 15% schwimmen an der Oberfläche und 15% werden wieder an Land geschwemmt.

Die Plastikteile kommen in allen Größen, von ganzen Flaschen, Tüten, Kanistern oder Fischernetzen bis zu pulverisiertem Plastik (Mikroplastik) vor.

88% der weltweiten Meeresoberflächen sind mit Mikroplastik verschmutzt.

Es gibt mehrere riesige Müllstrudel in den Ozeanen. Der größte, hinsichtlich der Plastikmenge, ist der Great Pacific Ocean Garbage Patch im Nordpazifik. Er ist vergleichbar mit der Größe Mitteleuropas und beinhaltet ca. 100 Mio Tonnen Plastik.

Was passiert, wenn all dieses Material als Nahrungsquelle verfügbar wird?

Als erstes bedeutet es, dass eine ungeheure Menge bisher nicht nutzbarer Materie als potentielle Biomasse zur Verfügung steht. Viele Millionen von Tonnen. Selbst als biologisch unverwertbares Material hat es schon zur Entstehung neuer Biotope beigetragen, indem es als Substrat für eine Vielzahl von Organismen dient, die sich an dessen Oberfläche anhaften. Mit der Möglichkeit, Plastik in Biomasse zu umzuwandeln, entstehen ganz neue Ökosysteme und Nahrungsketten mit globalen Auswirkungen.

Grober Plastikmüll am Ufer des Roten Meeres (nahe Safaga, Ägypten), Foto: gemeinfrei
Grober Plastikmüll am Ufer des Roten Meeres (nahe Safaga, Ägypten), Foto: gemeinfrei

Das Interessante ist, dass sich auf diese Weise ein Kreislauf schließt. Plastik war schon einmal Biomasse. Der in ihm enthaltene Kohlenstoff ist vor langer Zeit von Pflanzen, durch Photosynthese, aus Kohlendioxid in organische Materie überführt worden. Die Energie, die in den Kohlenstoffketten des Plastiks gebunden ist, und z.B. frei wird, wenn wir Plastik verbrennen, ist Sonnenenergie, die durch Photosynthese in chemische Energie umgewandelt wurde und so den Pflanzen für ihre Bedürfnisse zur Verfügung gestellt wurde. Riesige Mengen dieser Pflanzen sind dann durch komplexe Vorgänge in Erdöl verwandelt worden. Und aus Erdöl wird Plastik hergestellt. Seit der Ablagerung der Pflanzen, aus denen später Erdöl wurde, bis heute, dem Beginn des Plastozäns, war dessen Biomasse dem Nährstoffkreislauf der Erde entzogen. Mit der Entstehung von Organismen, die Plastik verwerten können, kehrt diese Materie in den Kreislauf zurück.

Noch scheint die Effizienz der Verwertung reichlich Entwicklungspotential aufzuweisen. In Experimenten war der beobachtete Abbau von Plastik durch erste gefundene plastikfressende Bakterien sehr langsam.

Das Plastozän

Das Bakterium Ideonella sakaiensis zerlegt mithilfe von zwei Enzymen den weit verbreiteten Kunststoff PET (Polyethylenterephthalat) in zwei ungefährliche Stoffe. Nach 6 Wochen bei 30 Grad Celsius hatten die Bakterien einen dünnen PET-Film vollständig abgebaut.

Das hört sich noch nicht nach einer umwälzenden Entwicklung an. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass PET nur eine von vielen Plastikarten ist.

Aber wenn in der Evolution einmal der Anfang einer neuen Entwicklung gemacht ist, kann ein unaufhaltsamer Prozess fortschreitender Perfektionierung und die Radiation in eine Vielzahl unterschiedlicher Organismen beginnen. In diesem Fall von Plastikfressern oder Plastophagen.

Es wird zu einer Zunahme der Biomasse der Meere kommen, in allen Tiergruppen, von Bakterien bis hin zu Fischen und Meeressäugern. Man kann sich auch vorstellen, dass nicht nur Bakterien in den Genuss des Plastikverzehrs kommen. Viele Tiere beherbergen Bakterien in ihrem Darm, die es ermöglichen gewisse Substanzen zu verwerten. Kühe verdauen auf diese Weise Cellulose und Termiten Holz. Es ist denkbar, dass z.B. Meeresschnecken mithilfe von Plastophagen im Darm Plastik verwerten werden.

Natürlich ist die neue Nährstoffquelle begrenzt. Sie wird sich irgendwann erschöpfen. Nach einer, möglicherweise in naher Zukunft beginnenden, explosionsartigen Entwicklung von Plastophagen (die Plastozänische Explosion), wird sich ein Gleichgewicht einstellen, mit mehr oder weniger stabilen Ökosystemen. Der üppige Vorrat an Plastik wird aber langsam immer spärlicher werden und ein Teil der Plastophagen wird wieder aussterben. Es wird irgendwann dazu kommen, dass Plastik zu einem seltenen Rohstoff wird und man die einst so zahlreich anzutreffenden Plastophagen mühsam suchen muss. Aber solange auch nur geringe Mengen von Plastik ins Meer gelangen, wird es sie geben.

Das Plastozän beschränkt sich in seinen Auswirkungen aber nicht auf die Meere. Da Bakterien die Angewohnheit haben, auch mit wildfremden Bakterien, mit denen sie nicht einmal entfernt verwand sind, Sex zu haben, d.h. genetisches Material auszutauschen, ist es unvermeidbar, dass auch im Süßwasser und am Land lebende Bakterien die neue Fähigkeit erlangen werden. Die Ausbreitung könnte allerdings genauso gut in umgekehrter Richtung verlaufen.

Auswirkungen auch auf Menschen

Auch für den Menschen wird es daraufhin direkte Auswirkungen geben. Die Bakterien werden sich voraussichtlich nicht darauf beschränken, Plastikmüll zu fressen, sondern alles verfügbare Plastik anknabbern. Schiffe, Boote, Pumpen, Sanitäranlagen, Dichtungen, Schwimmbäder, Schleusen, Wasserrohre, Kabelisolierungen, Kanister, künstliche Herzklappen und vieles mehr sind vor den Plastophagen nicht mehr sicher. Es werden beträchtliche Schäden entstehen und man muss neue technische Lösungen finden. Vielleicht entwickelt man für Bakterien unverdauliche Plastikarten und vielleicht entstehen dann neue Plastophagen, die in der Lage sind, die neuen Materialien zu verwerten. Ein Wettrüsten, wie wir es bei Antibiotika kennen.

Ein weiterer problematischer Aspekt ist, dass Plastik neben den appetitlichen Kohlenstoffketten viele z.T. giftige Zusatzstoffe enthält, die beim Abbau freigesetzt werden. Welche Folgen das haben wird, ist schwer vorhersehbar. Das schlimmste Szenario ist eine Vergiftung der Meere, das ein Massensterben zur Folge hat. Das andere Extrem wäre, dass die freigesetzten Substanzen sich in den immensen Weiten der Ozeane so sehr verdünnen, dass sie keine besonderen Auswirkungen haben.
Es wäre ein interessantes Forschungsprojekt, dieser Frage nachzugehen.

Es gibt weitere Dinge, mit denen man sich schon heute angesichts des herannahenden Plastozäns beschäftigen kann.

Man könnte beginnen, alle technischen Produkte zu katalogisieren, die von der Plastolyse betroffen sein werden, um Gegenmaßnahmen ins Auge zu fassen.

Man könnte systematisch versuchen, zu ergründen, welche anderen Auswirkungen auf uns zu kommen, denn dies hier ist nur ein etwas spielerisches Brainstorming. Z.B. könnte der CO2-Gehalt der Atmosphäre zunehmen.

Man könnte die Verbreitung von Plastophagen weltweit monitorieren (Ideonella sakaiensis ist gewiss nicht allein), um dessen Evolution live zu dokumentieren. Eine wohl einmalige Gelegenheit.

Denn das alles wird passieren. Wollen wir wetten?