Nicht jeder kann es schaffen

Was bedeutet es, ein erfolgreiches Leben zu leben? Und haben alle Menschen dabei die gleichen Chancen? Diesen Fragen geht der Professor für Kriminologie und Strafjustiz an der University of Saint Louis, Brian Boutwell in seinem Essay nach. Für den hpd hat Tobias Wolf den Text übersetzt.

Uns als Gesellschaft ist es nicht gelungen einer Tatsache ins Gesicht zu sehen, deren Richtigkeit in steter Regelmäßigkeit durch die psychologische Forschung bestätigt wird: Zwei menschliche Eigenschaften, allgemeine Intelligenz und Selbstkontrolle, sind aller Wahrscheinlichkeit nach die stärksten Faktoren, die die individuelle Chance ein erfolgreiches Leben zu führen bestimmen. Auf den Begriff des Erfolges und seine genaue Bedeutung werden wir gleich zurückkommen. Zuvor ist jedoch festzuhalten, dass unsere mangelnde Wertschätzung der Bedeutung von Intelligenz und Selbstkontrolle zwar in der Vergangenheit zu Problemen führte, die wirklich besorgniserregenden Herausforderungen uns jedoch mit fortschreitender Technologisierung und Globalisierung der Wirtschaft noch bevorstehen. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass eine stärkere Würdigung dieser Eigenschaften in den vergangenen Dekaden uns erlaubt hätte die wachsende Gefahr eines Präsidentschaftskandidaten vom Schlage Donald J. Trumps zu erkennen.

Was bedeutet es ein erfolgreiches Leben zu leben? Offen gesagt kann es vieles bedeuten. "Ein erfolgreiches Leben" kann heißen, die Vielzahl negativer Entwicklungen, die jedem von uns drohen, zu vermeiden: Gewisse Krankheiten, ein Aneinandergeraten mit der Justiz, finanzieller Bankrott – derartige Dinge. Doch dies ist nur eine Dimension. Erfolgreiches Leben impliziert nicht nur, dass man die schlechten Dinge des Lebens vermeidet, sondern auch, dass einem gelingt, was auch immer man in Angriff nehmen mag: Einen Job zu finden, den man schätzt (oder zumindest erträglich findet), diesen so lange zu auszuüben, wie man möchte und idealerweise durch gute Arbeit befördert zu werden, etc. Sicherlich mag man im Detail geteilter Meinung sein, wie eine ideale Definition eines erfolgreich gelebten Lebens aussehen mag, aber ohne Zweifel kann man darin übereinkommen, dass entsprechend unseres grob abgesteckten begrifflichen Rahmens manche Arten der Lebensführung objektiv weniger erfolgreich sind als andere. Wie vermeidet man eine solche Lebensweise?

Wie bereits erwähnt verfügen Psychologen und Verhaltenswissenschaftler, welche sich mit dieser Frage beschäftigen, mittlerweile über ein recht gutes Verständnis des Themas. Beginnen wir mit der allgemeinen Intelligenz. Auch wenn der öffentliche intellektuelle Diskurs das Konzept nicht sonderlich schätzt, ist die allgemeine Intelligenz (gemessen durch den IQ) eine Eigenschaft, welche Psychologen bereits seit fast einem Jahrhundert erforschen. Unser heutiges Verständnis der allgemeinen Intelligenz wurde maßgeblich durch Charles Spearmans Intelligenztheorie geprägt, welche bemerkenswert simpel ist. Linda Gottfredson fasste sie prägnant zusammen, als sie schrieb:

"Intelligenz ist eine sehr allgemeine mentale Anlage, die, neben anderen Dingen, die Fähigkeit einer Person (abstrakt) zu denken, planen, die richtigen Schlüsse zu ziehen, komplexe Ideen zu verstehen und schnell bzw. aus Erfahrung zu lernen umfasst. Intelligenz ist mehr als angelesenes Buchwissen, ein in seiner Nützlichkeit auf die akademische Welt beschränktes Talent oder Schläue im Umgang mit Tests. Stattdessen entspricht sie einer breiteren und tieferen Fähigkeit des Verständnisses unserer Umgebung."

In der Tat ist Intelligenz ein kontroverses Thema. Allerdings ist dieses Themenfeld (nicht zuletzt dank seiner Kritiker) in den vergangenen Jahrzehnten penibel und sorgfältig beforscht worden und die Ergebnisse dieses Prozesses sind mehr als beeindruckend. Stuart Ritchie fasste ihre Quintessenz kürzlich in einem kleinen, sehr zugänglichen Buch zusammen. Er hält fest, dass Intelligenz kein vages soziales Konstrukt ist, welches sich irgendwelche Akademiker in ihrem Elfenbeinturm ausgedacht haben. Intelligenz ist eine Eigenschaft, die sehr früh im Leben zum Tragen kommt und welche auf direkte Weise in Verbindung mit konkreten Hirnfunktionen gebracht werden konnte. Qualitativ hochwertige Intelligenzmessungen sind auf Basis moderner Tests möglich und die so gewonnen Ergebnisse haben eine hohe prädiktive Aussagekraft für die Entwicklung wichtiger Faktoren des Lebens einer Person. Im Besonderen steigt mit höherer Intelligenz der berufliche Erfolg ebenso wie das Einkommen, das Bildungsniveau und (selbst unter Berücksichtigung dieser Einflussgrößen) die Lebenserwartung, während das Risiko einer Gefängnisstrafe und gewalttätigen Verhaltens im Allgemeinen sinkt.

Auf dieser Basis können wir uns unserer zweiten Eigenschaft zuwenden: Selbstkontrolle. Die Terminologie der Forschung ist hier nicht eindeutig, teils spricht man von exekutiven Funktionen oder Belohnungsaufschub, aber im engeren Sinne umfassen all diese Begriffe die Fähigkeit mit Impulsen umzugehen und momentane Bedürfnisse zu Gunsten späterer, größerer Befriedigung zurückzustellen. Altersvorsorge, Vermögensaufbau, höhere Bildung, regelmäßig zur Arbeit gehen, all diese Verhaltensweisen deuten auf niedrige Impulsivität und im Umkehrschluss hohe Selbstkontrolle hin.

Ähnlich wie im Hinblick auf Intelligenz verfügen wir mittlerweile über eine breite Basis hochwertiger Forschung zum Thema Selbstkontrolle. Menschen mit hoher Impulsivität laufen eher Gefahr das Gesetz zu brechen, verhaftet zu werden, Drogen zu nehmen, an gesundheitlichen Problemen zu leiden und übergewichtig zu sein. Eine wahrlich bemerkenswerte Studie, welche die Psychologin Terrie Moffitt zusammen mit ihrem Team durchführte, untersuchte den Einfluss von Selbstkontrolle im Lebensverlauf. Individuen mit hoher Selbstkontrolle standen auf lange Sicht schlicht besser da: Sie verdienten mehr Geld und waren im Erwachsenenalter gesünder, produktiver und engagierter. Doch was all das für unsere Diskussion so relevant macht ist die Tatsache, dass Selbstkontrolle und Intelligenz stark miteinander korrelieren. Beide Eigenschaften (in der Forschung häufig durch neuronale Prozesse erklärt) kommen oftmals im Doppelpack.

Brian Boutwell, Ph.D., Foto: St. Louis University

Brian Boutwell, Ph.D., Foto: St. Louis University

Doch warum sollte dieser Befund im Besonderen bedeutsam für das Amerika bzw. die westliche Welt des Jahres 2017 sein? Wir alle sehen tagtäglich, dass der Motor unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung heutzutage primär durch Innovation und Technologie angetrieben wird. In einem solchen System erfolgreich zu sein ist schwierig und erfordert eine Vielzahl von Fertigkeiten, welche von Intelligenz und Selbstkontrolle determiniert werden. Dieses Dilemma wurde vor kurzem in einem Buch mit dem Titel "Coming Apart" beschrieben. Charles Murray analysiert in diesem Werk die Herausbildung einer neuen Klassenstruktur der Gesellschaft, welche nicht länger auf sozioökonomischen Status und Reichtum, sondern auf kognitiven Fähigkeiten basiert.

An der Spitze dieser Hierarchie stehen die "kognitiven Eliten", welche die Zirkel politischer Macht, die Medien, Silicon Valley und im Allgemeinen die West- und Ostküste der Vereinigten Staaten dominieren. Sie setzen die Trends, sie machen die Nachrichten, sie entscheiden über die Entwicklung der Kultur. Durch den Wandel unserer Wirtschaft hin zu zunehmend intellektuell fordernder Arbeit werden all jene, die in der Lage sind, den neuen Anforderungen des Arbeitsmarktes zu genügen, großzügig belohnt. Durch den Niedergang der Industrie alter Prägung und anderer typischer Beschäftigungsmöglichkeiten der klassischen Arbeiterschaft, wohlmöglich noch verstärkt durch den Verlust sozialer Anerkennung dieser Berufe, wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine wachsende Zahl von Individuen von der Gesellschaft zurückgelassen. Im Angesicht des drohenden wirtschaftlichen Abstiegs und immer häufiger der Missachtung der anderen Teile der Gesellschaft ausgesetzt, mag man sich vielleicht vorstellen, wie eine Gruppe von Menschen mit düsterer Zukunftsperspektive ihre Stimme für denjenigen gab, der (wie es schien) der ehrliche Makler ihrer Interessen war: Donald J. Trump.

In den Jahrzehnten vor 1960, so Murray, war die amerikanische Gesellschaft stärker verwoben und die Wirtschaft noch nicht derartig technologisiert wie heute, auch wenn sie sich mit wachsender Geschwindigkeit in diese Richtung bewegte. Viele hochintelligente Menschen besuchten nie ein College und lebten ein komfortables Leben, ebenso wie weniger aufgeweckte Zeitgenossen – und das oftmals in der gleichen Nachbarschaft. Es gab Arbeit für Menschen jeder kognitiven Befähigung. Möglicherweise ist dies heute nicht länger der Fall. Unsere Unfähigkeit ernsthaft über unsere kaum veränderlichen Unterschiede in Schlüsseleigenschaften (wie Intelligenz und Selbstkontrolle) zu sprechen hat letztlich Konsequenzen. Im speziellen verführt sie uns zu der fatalen Fehlannahme, dass alle Bürger gleichermaßen über die Fähigkeit verfügen, in einer modernen, technologisierten Wirtschaft zu bestehen. Eine solche Behauptung ist schlichtweg falsch und kann mit keiner Evidenz unterlegt werden.

Allerdings sollten wir im Angesicht der Bedeutung individueller Unterschiede strukturelle Barrieren zum gesellschaftlichen Erfolg schlicht ignorieren? Selbstverständlich nicht. Unterschiedlichste Dinge können gleichzeitig richtig sein. Es ist faktisch unbestreitbar, dass Millionen von Bürgern der westlichen Welt alleine auf Grund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechtes künstlich Steine in den Weg gelegt wurden. Ganz gleich wie intelligent sie waren: Erfolg war für sie unerreichbar. Derartige Hindernisse sollten wir engagiert bekämpfen. Gelegentlich sind es zudem vollkommen außerhalb unseres Einflusses liegende Ereignisse, die unsere Leben aus der Bahn werfen. Die jüngste Finanzkrise ist ein Beispiel, in welchem einer Konfusion von Ereignissen die Existenz unzähliger Menschen zerstörte. Wir sollten alles in unserer Macht stehende tun, um derartige Verheerungen in Zukunft zu vermeiden.

Doch sollten wir all das tun, ohne dabei die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass Talent und Beharrlichkeit ungleich zwischen den Menschen verteilt sind (und das zu einem Gutteil aus genetischen Gründen). Wir schulden es den Menschen diese Fakten ernst zu nehmen und klar und bewusst darüber nachzudenken, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, in der alle ein glückliches und erfolgreiches Leben leben können, unabhängig davon, dass sie sich in ihren Fähigkeiten drastisch voneinander unterscheiden. Hierbei handelt es sich um ein extrem komplexes Problem und wir haben zu viel Zeit darauf verwandt, es zu ignorieren.

Brian Boutwell ist Professor für Kriminologie und Strafjustiz an der University of Saint Louis. Tobias Wolf ist Vorstandsmitglied der GBS-Hochschulgruppe Säkularer Humanismus an Berliner Hochschulen.