Eine Annäherung

Was ist Freiheit?

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Gerade in der letzten Zeit muss Freiheit für Vieles herhalten. Alle sind für die Freiheit, machten mit ihr Wahlkampf, wollen sie verwirklichen. Doch was sie damit meinen, ist oft gar nicht mal so freiheitlich, wenn man genauer hinsieht, die Bedeutung wird mitunter gar pervertiert und ins Gegenteil verkehrt.

"Freiheit – ist das Einzige, was zählt", sang Marius Müller-Westernhagen 1987. Das Lied wurde zu einer Hymne der Wiedervereinigung Deutschlands. "Freiheit" schreit Mel Gibson als William Wallace in "Braveheart" heraus, bevor er enthauptet wird. Es gibt wohl kaum ein größeres Wort, kein gewaltigeres Bild als die Freiheit. Was sie wirklich bedeutet, können wohl nur die sagen, denen sie fehlt. Das Nicht-Vorhandensein von Freiheit bringt Menschen dazu, lieber zu sterben, als diesen Zustand zu ertragen. Während die, die an sie gewöhnt sind, vergessen, was sie an ihr haben.

Wir, die das Privileg haben, im westlichen Europa des 21. Jahrhunderts zu leben, genießen wohl das Höchstmaß an Freiheit, das innerhalb der Schranken einer Gesellschaft möglich ist. Schranken deshalb, weil ein Zusammenleben in irgendeiner Form der organisierten Öffentlichkeit nur dann funktioniert, wenn es Regeln gibt, an die sich alle halten und die naturgemäß auch bedeuten, dass nicht jeder alle Freiheiten haben kann. Beispielsweise haben wir uns darauf geeinigt, dass es nicht gestattet ist, um drei Uhr morgens auf der Straße seine Nachbarn mit einem DJ-Pult zu beschallen. Oder dass man nicht in der Feuerwehrzufahrt parken darf. Oder dass man dem Menschen an der Kasse, der passend in Centmünzen zahlen will, nicht ins Gesicht schlägt, weil er einem damit auf den Senkel geht. Das mag für den ein oder anderen eine persönliche Einschränkung sein, die bei Übertretung auch Sanktionen nach sich ziehen kann. Sie stehen aber im Verhältnis zu anderen Freiheiten, die man gewinnt: Beispielsweise, dass es ebenso nicht einfach toleriert wird, dass einem etwas weggenommen wird, wenn ein anderer es gerne haben möchte und einem körperlich überlegen ist. Dass man nicht folgenlos sexuell belästigt werden darf, wenn ein anderer seine Grenzen nicht kennt. Dass einem ein Rechtsbeistand und ein ordentliches Gerichtsverfahren garantiert sind, wenn man angeklagt wird. Das sind die Vorteile, die eine Gesellschaft bietet.

Demokratische Gesellschaften haben sich außerdem zu einer weitgehenden Toleranz durchgerungen. Ihre Mitglieder müssen also alles Mögliche ertragen, das sie möglicherweise nicht gutheißen, solange es anderen keinen Schaden zufügt. Beispielsweise müssen homophobe Menschen es aushalten, dass sich ein schwules Paar in der Öffentlichkeit küsst. Andere Meinungen, anderer Geschmack und Lebensgestaltungen müssen hingenommen werden. Bei den "großen" Freiheiten, wie ich sie nennen will, haben wir viel erreicht – wir genießen alle ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Wir dürfen aus uns selbst machen, was wir wollen. Wir dürfen arbeiten, was wir wollen, wir können es auch lassen, wenn wir uns anderweitig finanzieren können. Wir dürfen anziehen, was wir wollen, müssen keinen Vorgaben entsprechen. Jeder kann für seine persönlichen Interessen und Neigungen Gleichgesinnte finden und sich ausleben. Wir dürfen vor einem Gebäude unserer Regierung demonstrieren und lautstark verkünden, wir lebten immer noch in einer Naziherrschaft. Wir dürfen reisen, wohin wir wollen. Unsere Privatsphäre ist geschützt, gegenüber anderen, aber auch gegenüber dem Staat. 24 Mal kommt "Freiheit" im Grundgesetz vor, eine der fortschrittlichsten Verfassungen, die es gibt.

Andere Freiheitsbegriffe

Für Freiheit sind alle. Kurioserweise auch die, die die Freiheit abschaffen wollen. Das Wort findet sich ebenfalls im AfD-Wahlprogramm zur jüngsten Bundestagswahl, sogar ganze 66 Mal. Die AfD bezeichnet sich selbst darin gar als "freiheitliche Partei" (S. 46). Auf Seite 128 heißt es etwa: "Staaten und nichtstaatliche Organisationen wirken darauf hin, auf Grundlage von einseitig bevorzugten, zuweilen auch pseudowissenschaftlichen Theorien die Bürger- und Freiheitsrechte systematisch einzuschränken. Dazu zählen z. B. eine ideologisierte Klimaforschung, die Genderforschung und Pandemieforschung." Eine eigentümliche Freiheitsauffassung. Denn Freiheit kann ja nicht bedeuten, wissenschaftliche Erkenntnisse und Schutzmaßnahmen generell auszuklammern. "Wir wollen die Leute vom Staat befreien", sagte Alice Weidel im X-Gespräch mit Elon Musk. Wenn die Menschen vom Staat befreit werden, sind sie auf sich allein gestellt. Wenn man genug Geld hat, mag das funktionieren, ansonsten wird es schwierig, wenn man selbst für Bildung, Gesundheit und Sicherheit sorgen muss. Milliardäre brauchten weder Bus und Bahn noch Gewerkschaften oder eine Rentenversicherung, erklärte Jan Böhmermann die Neigung von Superreichen zu rechten Parteien. Im Februar hatte der Satiriker der Freiheit eine ganze Sendung gewidmet und unter anderem auch auf diesen Umstand hingewiesen. Für alle anderen ist bei einer solchen Nicht-Staatlichkeit nicht mehr viel Freiheit übrig.

Es kommt also mitunter zu grotesken Verdrehungen des Freiheitsbegriffs. Ein anschauliches Beispiel lieferte der Bayerische Rundfunk in seinem Newsletter Religion zum Beginn der Fastenzeit, als sich die Autorin dazu hinreißen ließ, in Bezug auf den anscheinend nie langweilig werdenden Anselm Grün zu schreiben: "Verzicht bedeutet Freiheit". "Wer verzichte, (…) der erlebe eine innere Freiheit und mache sich davon frei, sofort jeden Hunger, jedes Bedürfnis zu erfüllen." Wie zynisch dekadent. So kann nur jemand schreiben, der die Freiheit nicht zu schätzen weiß. Statt den Luxus, den wir in unserer Zivilisation vorfinden, demütig als solchen anzuerkennen, wird der Verzicht verklärt. Einen solchen Verzicht muss man sich leisten können. Wer wirklich verzichten muss, empfindet das sicher nicht als Freiheit.

In unserer westlichen Gesellschaft meinen wir vor allem die individuelle Freiheit, die uns garantiert wird. Das ist nicht in allen Gesellschaften so, denn nicht überall gilt das Individuum als schützenswerte Einheit. Daher wird dort auch etwas anderes unter Freiheit verstanden. Beispielsweise schreibt die islamistische Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) auf ihrer Website über den Freiheitsbegriff: "Im Islam besteht die wahre menschliche Freiheit in der Ergebenheit in Allah." Im Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es dazu: "wahre Freiheit ist deshalb erst in einer nach islamischen Grundsätzen geordneten Gesellschaft möglich". Daraus folgt auch eine andere Gewichtung von Freiheitsrechten: "In Staat und Gesellschaft finden sie [die zu den Menschenrechten gezählten Freiheiten] ihre Grenzen meist dann, wenn ein Vorrang der Gemeinschaft und/oder Öffentlichkeit gegenüber subjektiven Rechten postuliert wird. So werden z. B. Pressefreiheit, schriftstellerische Freiheit und Freiheit der Meinungsäußerung häufig mit dem Argument einer Gefährdung höher eingestufter Werte wie 'öffentliche Ordnung', 'allgemeine Moral' oder 'Ehre der Nation', inzwischen immer öfter auch religiöser Werte (Apostasie, Blasphemie) eingeschränkt."

Die Kostbarkeit der Individualität

Die Individualität ist es jedoch, die Gesellschaften voranbringt. Menschen, die sich selbst verwirklichen, die sich keinen gesellschaftlichen Zwängen unterordnen müssen, die etwa nicht den Beruf ihrer Eltern ergreifen müssen, wie das früher der Standard war, gehen neue Wege, sind kreativ, können Impulsgeber für Wirtschaft und Gesellschaft sein. Freilich ist der Weg dorthin nicht unanstrengend. Individualisten sind schwerer zu regieren, stellen sie doch gern alles in Frage, haben eigene Ideen, wie man es ihrer Meinung nach besser machen könnte. Autokraten versuchen daher stets, die von ihnen regierte Bevölkerung per Zwang zu homogenisieren.

Zwar nicht mit derselben Intuition, aber mit ähnlichem Ergebnis wird das auch von der linken Identitätspolitik vorangetrieben: Man ordnet Menschen Gruppen zu, schreibt ihnen Eigenschaften und Identitäten zu und gewährt daran orientierte Freiheiten. Was als Emanzipation gedacht war, entwickelt sich zu einem Aberkennen individueller Freiheit. Ein privilegierter Europäer darf etwa Elemente anderer Kulturen nicht kritisieren, weil das rassistisch sei. Werden dort Dinge praktiziert, die mit den allgemeinen Menschenrechten nicht vereinbar sind, wird das dennoch als Eigenheit akzeptiert, da man der Gruppe den Vorzug gegenüber dem Individuum gibt. Die Freiheiten, die die Menschenrechte garantieren, werden somit anderen Menschen vorenthalten, die man nicht im westlichen freiheitlichen Individualismus verortet – ohne sie selbst zu fragen. Individuen, die mit großem Mut aus diesen vorgegebenen Zuschreibungen ausbrechen, und Individualismus aus kollektivistischen Gesellschaften heraus für sich einfordern, zeigen die Fremdbestimmtheit dieses Konzepts auf – und werden nicht selten, damit das Konzept wieder stimmt, ihrerseits von den Freiheitsverwöhnten mit Rassismus-Vorwürfen überzogen.

Nicht zuletzt hängt das hohe Maß an individueller Freiheit vor allem in Westeuropa mit einer starken Säkularität zusammen. Religionen wollen das Individuum stets unterwerfen und formen. Humanistische Weltanschauungen, die mit dem Säkularismus, der Staat und Religion trennt, einhergehen, stellen dagegen den Menschen in den Mittelpunkt und kein göttliches Wesen, dem der Mensch gefallen soll. Populisten und Autokraten, die gerade weltweit Erfolge feiern, verbrüdern sich immer auch mit der Religion, nicht zuletzt aus den oben genannten Gründen. Daher sollten ihre Wähler, die sich von Freiheitsversprechungen solcher Politiker im Wahlkampf blenden lassen, nicht überrascht sein, wenn anschließend das Gegenteil von dem passiert, was sie sich erwartet haben. Ein klassisches Beispiel ist hier Donald Trump: Zur vermeintlichen Befreiung der Wirtschaft gibt es die Hofierung christlicher Glaubensgruppen gleich mit dazu – auf Kosten von Selbstbestimmung und Meinungsfreiheit. Durch Missachtung von Gerichtsurteilen nähert sich die US-Administration nun wieder dem Wilden Westen an, in dem das Recht, oder auch die Freiheit des Stärkeren gilt. Auch ganz wortwörtlich, wenn irrtümlich abgeschobene Menschen nicht aus einem ausländischen Gefängnis zurückgeholt werden.

Freiheit ist ein Begriff, und Begriffe haben die Bedeutung, die man ihnen zuschreibt. Man sollte daher genau hinsehen, wer diesen Begriff mit welcher Konnotation verwendet. Sonst kann es zu bösen Überraschungen kommen.

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