Kolumne

Paris schwankt, geht aber nicht unter.

PARIS. (hpd) Nach fast einem Jahr verlässt hpd-Gesellschaftskolumnist Carsten Pilger Paris. In die Zeit fielen die Anschläge auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und auf einen französischen Supermarkt. Hat sich die „Stadt der Liebe“ verändert? Viele Fragen und der Versuch einer Antwort.

„Paris, ce n'est pas la France.“ Ein hämischer Ausspruch, der gerne all denen Franzosen über die Lippen kommt, die eben nicht aus der besagten Stadt stammen. Paris ist nicht Frankreich, sondern ein Vergnügungspark für Touristen, der Frankreich simuliert. Ein Spruch, dem ich gerne vor meinen zehn Monaten in Paris zugeprostet habe, aber natürlich ist er so wahr, wie er eben auch falsch ist.

Paris ist nicht Frankreich. Es ist die Vorstadt für Disneyland. Miniatureiffeltürme, Miet-Ferraris auf den Champs-Élysées, Starbucksbecher und Selfiestangen. Es ist die Stadt aus den Filmen. Amélie, Ziemlich beste Freunde, Midnight in Paris. Es ist die Stadt der Liebe. „Ich bin mal da gewesen“, berichten hinterher stolz Touristen aus den USA, frisch verheiratete chinesische Paare oder deutsche Romanistik-Studentinnen im Erasmus-Austausch. Kürzlich ließ die Stadt die berühmten „Liebesschlösser“ an der Pont des Arts abmontieren, da das hohe Gewicht der Metallschlösser die Brückengeländer beschädigte. Die Stadt der Liebe wird zum komsumierbaren Klischee, ihre Gäste zum konsumierenden Klischee.

Paris ist Frankreich. Zwei Millionen Menschen leben in der Stadt, weitere zehn Millionen in der Region um Paris. Die Minister und der Präsident sind hier, in schicken Anwesen im siebten und im achten Arrondissement. Die Medien des Landes, die großen Unternehmen und Banken müssen alle in Paris sein. Die Vertreter des Volkes, die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung, kommen jeden Dienstag und Mittwoch aus ihrem Heimatwahlkreis, um im Plenum zu streiten, zu eifern und zu keifen. Wer nicht in Paris ist, zählt in Frankreich nichts.

Sind die Vorstädte Paris? Oder schon Frankreich? Oder vielleicht weder das eine, noch das andere? Viele Pariser Metrolinien enden knapp hinter der Périphérique, der als Stadtgrenze wirkenden ringförmigen Autobahn. Der Verkehr kurz nach Mitternacht. Die subtile Botschaft: Bleibt draußen. In Frankreich wurden die „banlieue“ und ihre Bewohner, oft die Nachkommen von Einwanderern aus dem Mahgreb und Afrika, stigmatisiert. In den Medien stehen die Ortsnamen stellvertretend für Gewalt und Kriminalität. 2005 sorgte der Unfalltod zweier Jugendlicher für Unruhen in Paris und anderen Städten. Zyed, 17, und Bouna, 15, waren vor Polizisten geflohen und überwanden die Absperrung zu einer Trafostation. Beide erlitten Stromschläge und starben, die Polizisten unternahmen nichts. 2015 sprach sie ein Gericht vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung mit Todesfolge frei.

War das am 11. Januar Paris oder Frankreich auf dem Place de la République? Mehr als eine Million Menschen trauerten um die Satiriker des Magazins Charlie Hebdo, um die getöteten Polizisten und um die getöteten Geiseln der Geiselnahme an der Porte de Vincennes. Für einen Moment schien sich Frankreich unter dem Dach der republikanischen Werte gefunden zu haben. Doch vieles ist eben nur Momentaufnahme. Es ging da schon längst um die Deutungshoheit der Attentate. Mehr Überwachung? Mehr Laizismus? Mehr Entschlossenheit? Oder vielleicht mehr Freiheit, mehr Gleichheit, mehr Brüderlichkeit? Ein halbes Jahr danach sind Paris und Frankreich fast wieder im Alltag angekommen, denn die Angst gehört nun zum Alltag.

Paris ist nicht Frankreich, sondern das Schaufenster Frankreichs. Das müssen auch die Franzosen bei aller Hassliebe für ihr politisches und kulturelles Zentrum einsehen. Die Eigenarten und Klischees von Paris mischen sich mit den alltäglichen Problemen Frankreichs – der Arbeitslosigkeit, der Frage nach Wohnraum und dem Rassismus. Paris reagiert wie keine andere Stadt in Frankreich schnell und sensibel auf Veränderungen, weil sie selbst darum kämpft, für all seine Gäste die „Stadt der Liebe“ zu bleiben. Ein Bestreben, das in letzter Zeit oft eher frustrierend war. Doch nicht umsonst lautet der Wahlspruch der Stadt: Fluctuat nec mergitur – es schwankt, aber geht nicht unter.