Der Volksgerichtshof gehört zu den düstersten Kapiteln der deutschen Rechtsgeschichte. Kein nationalsozialistisches Gericht fällte mehr Todesurteile. Roland Freisler, Präsident des Terror-Tribunals, fällte allein über 2.600 Todesurteile. Helmut Ortner, Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung, hat darüber ein Buch geschrieben. Ein Gespräch mit dem Autor.
Joachim Schäfer: In Ihrem Buch beschreiben Sie Leben und Wirken des Nazi-Richters Roland Freisler, der Tausende von Menschen, vor allem Regimegegner und Oppositionelle, in Schauprozessen zum Tode verurteilt hat. Was unterscheidet Freisler von anderen NS-Tätern?
Helmut Ortner: Freisler schrie, tobte und erniedrigte Angeklagte mit Spott und Hohn. Er machte mit seiner Verhandlungsführung den Gerichtssaal zur persönlichen Bühne. Ein wahnhaft-fanatisches Justiztheater, doch für die Angeklagten war es blutiger Ernst. Freisler verurteilte Tausende zum Tode. Er war ein Massenmörder in Robe.
Freisler war nicht nur einer der fanatischsten Nazi-Richter, er war auch Präsident des Volksgerichtshofs. Er nannte das Gericht eine "Panzergruppe der Rechtspflege" ...
Ja, der Volksgerichtshof hatte nur eine Funktion: die Vernichtung jeglicher Opposition gegen den nationalsozialistischen Staat. 1934 wurde das Sondergericht als Instrument eingerichtet, um die Justiz stärker dem Willen Hitlers zu unterwerfen. Vor 1933 konnten in Deutschland lediglich drei Straftatbestände mit der Todesstrafe geahndet werden, 1944 waren es vierzig. Die Zahl der verhängten und vollstreckten Todesstrafen stieg vor 1939 spürbar und nach Kriegsbeginn steil an. Die Berufung Freislers zum Präsidenten des Volksgerichtshofes radikalisierte diese Entwicklung weiter. Allein dieses Sondergericht sprach über 5.200 Todesurteile, rund 2.600 davon verhängte Freislers Senat. Er verurteilte unter anderem die Geschwister Scholl, Mitglieder der Weißen Rose und des Kreisauer Kreises, die Verschworenen des Attentats vom 20. Juli 1944 um Oberst Graf Stauffenberg, zahllose oppositionelle Gewerkschaftler, Kommunisten und Sozialdemokraten zum Tode wegen "Defätismus", "Verrat", "Feindbegünstigung" und "Wehrkraftzersetzung". Ein fanatischer, gnadenloser Nazi-Todesrichter in gnadenlosen Zeiten ...
Sie schildern in Ihrem Buch, dass beinahe alle NS-Richter und Staatsanwälte nach 1945 von einer Strafverfolgung verschont blieben, nur wenige wurden überhaupt angeklagt und ihnen der Prozess gemacht. Eine beschämende Tatsache ...
In der Tat. Es gehört zu den traurigsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass viele Nazi-Juristen nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. In meinem Buch schildere ich die unterbliebenen oder auch gescheiterte Versuche, die Verbrechen der Nazi-Justiz als Teil der Mordmaschinerie des nationalsozialistischen Regimes durch die personell wenig veränderte Justiz der Bundesrepublik zu verfolgen. Es war die Zeit der "Integration der Täter". Die meisten Ex-Nazi-Juristen – auch jene, die für Todesurteile verantwortlich waren – konnten in der Adenauer-Republik ihre Karrieren fortsetzen und gingen später gut versorgt in Pension, während die Opfer um mickrige Rentenansprüche kämpfen mussten. Kein Volksgerichtshof-Richter wurde nach 1945 verurteilt. Eine unerträgliche Tatsache.
Nicht nur die politische Elite, auch die Gesellschaft insgesamt hat damals mehrheitlich versagt. Die große Verdrängung, das große Verleugnen und Vergessen ...
Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Verstrickungen, von schuldhaften Täter-Biographien, von Nazi-Juristen, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster Hitler-Deutschlands, nichts mehr wissen. Aus der Politik gab es keine zwingenden Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null. Ein Volk auf der Flucht vor der eigenen Vergangenheit.
Hält diese Verdrängung bis heute an?
Die Aufarbeitung der Vergangenheit fiel lange schwer, sie erinnerte an eigene Versäumnisse und Mitschuld, an Feigheit und Mutlosigkeit. Daraus folgte eine kollektive Verdrängung. Das änderte sich erst ab den 70er Jahren, als die junge Generation wissen wollte, was ihre Väter und Großväter gemacht oder unterlassen hatten. Ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess ... Heute findet dieser Verleugnungs-Reflex vor allem im rechten Politik-Milieu statt. Die AfD nutzt die parlamentarische Bühne als öffentlichkeitswirksames Podium, um mit Tabu-Brüchen und gezielten Provokationen regelmäßig und absichtsvoll Stimmung zu machen. Denken wir nur an Björn Höckes beschämendes Gerede von einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" oder Alexanders Gaulands "Vogelschiss"-Verharmlosung der Nazi-Diktatur ...
Für die Mehrheit hierzulande aber gilt das Bekenntnis "Nie wieder", ein Diktum, das die einfache moralische Botschaft vermittelt, die heutige Generation müsse die "Lehren" aus der NS-Diktatur ziehen und dafür sorgen, das sich diese Menschheits-Katastrophe nie wiederholt. Wir leben heute in einem gefestigten Rechtsstaat, den sollten wir schützen und verteidigen – gegen Feinde der Demokratie, gegen religiöse und politische Fanatiker und wirre Verschwörungstheoretiker ...
Es gibt also eine Verantwortung für die heutige Generation?
Die Frage, die bleibt: Ist die heutige, die politisch und moralisch schuldlose Generation, nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und ihrem Erbe? Oder: beginnt nicht die Verantwortung nachfolgender Generationen bei der Frage, ob sie sich erinnern will? An das, was ihre Eltern und Großeltern getan, zugelassen und bejubelt haben ...
Mein Buch versteht sich als Aufklärungs-Lektüre, als ein Plädoyer gegen jede Verharmlosung und Relativierung der NS-Vergangenheit. Denn je weniger man von ihr weiß, desto mehr verstellt es den Blick auf die Gegenwart.
Das Interview führte Joachim Schäfer.
Helmut Ortner, Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers, Nomen Verlag, 356 Seiten, 20,00 Euro
Eine überarbeitete, aktualisierte Neu-Ausgabe des Buches erscheint im Januar 2022.
3 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Roland Freisler war nur die Speerspitze im damaligen Justizgefüge, die nachlässige Aufarbeitung der Verbrechen dieser Leute unter Konrad Adenauer, nach 1945, hat den heutigen Grundstock für die AfD ermöglicht, welche
und die Geister der Vergangenheit heraufbeschwören.
wehret den Anfängen!
Christian Meißner am Permanenter Link
Es ist ein Verdienst von Helmut Ortner, dieses noch weitgehend unaufgearbeitete Kapitel der Rolle von ehemaligen NS-Juristen in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte aufgeschlagen und präsentiert zu haben.
Übrigens ist es eine Mär, dass die DDR mit ihrer offiziellen "antifaschistischen" Staatsdoktrin die NS-Zeit umfassender und abschließender aufgearbeitet hätte.
Zwar wurde in den späten 40er-Jahren mit teils stalinistischen Methoden die unter den Alliierten vereinbarte Entnazifizierung durchgeführt. Auf der anderen Seite waren zur selben Zeit etwa acht bis zehn Prozent der SED-Parteimitglieder ehemalige NSDAP-Mitglieder oder sonstige NS-Belastete.
Außerdem arbeiteten viele an den "Euthanasie" genannten Verbrechen an psychisch erkrankten Menschen im "Dritten Reich" beteiligen Ärzte in der DDR unbehelligt weiter.
Offenbar konnte auch die kommunistisch-stalinistische Herrschaftsideologie Schuld und Scham nur übertünchen. Zu einer vollständigen juristischen Aufarbeitung der NS-Zeit war die DDR offenbar jedoch nicht willens und zu dem dauerhaften Aufbruch in eine "neue Zeit" schlicht nicht in der Lage.
https://www.mdr.de/geschichte/ddr/politik-gesellschaft/entnazifizierung-nazis-in-der-ddr-100.html
Hans Trutnau am Permanenter Link
Zur DDR brauche ich nichts zu sagen, weil das ja auch nicht Gegenstand des Artikels ist.
Im Übrigen scheint mir doch das Thema Freisler/Volksgerichtshof sattsam bekannt.