Interview

"Sophie Scholl hätte gern in einer solchen Demokratie gelebt"

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Historikerin Dr. Maren Gottschalk hält es für falsch und historisch unangemessen, dass sich "Querdenker" mit Opfern des Nazi-Regimes vergleichen.

Selbsternannte Querdenker vergleichen sich gern mit Opfern des Nationalsozialismus. Erst am Wochenende erklärte eine gewisse "Jana aus Kassel", dass sie sich durch ihren Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen wie Sophie Scholl fühle. Was von solchen Vergleichen zu halten ist, erläutert Historikerin, Journalistin und Sophie-Scholl-Biografin Dr. Maren Gottschalk im Interview mit hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg.

hpd: Seitdem die "Querdenker"-Bewegung im Frühjahr als Protest gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie entstanden ist, haben sich Querdenker immer wieder in die Nähe von Opfern des Nazi-Regimes gerückt. Man trug zum Beispiel Judensterne, in denen das Wort "ungeimpft" zu lesen war. Jüngst verglich sich eine Elfjährige in einer Rede mit Anne Frank, weil sie ihren Geburtstag mit Freunden heimlich feiern musste, und am vergangenen Wochenende erklärte eine junge Frau, dass sie sich durch ihren Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen wie Sophie Scholl fühle. Was sagen Sie als Historikerin zu solchen Vergleichen, Frau Gottschalk?

Maren Gottschalk: Diese Vergleiche sind falsch und historisch unangemessen. Abgesehen davon zeigen sie eine große Verachtung für die Menschen, die als Opfer unter den Nationalsozialisten gelitten haben oder von ihnen ermordet wurden.

Wenn Bürger*innen der Bundesrepublik Deutschland sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank vergleichen, um sich selbst als Opfer einer Regierung zu präsentieren, zeigt das zweierlei: Sie wissen überhaupt nicht, wer die beiden waren und sie spielen auf anmaßende und irreführende Weise mit den Emotionen ihrer Zuhörer*innen.

Beispielbild
Im September erschien Maren Gottschalks aktuelle Sophie-Scholl-Biografie im C.H. Beck-Verlag.

Als Historikerin und Biografin haben Sie sich sehr intensiv mit Sophie Scholl beschäftigt. Denken Sie, dass sich Querdenker und Kritikerinnen der Corona-Maßnahmen zu Recht auf Sophie Scholl und ihren Widerstand gegen das Nazi-Regime berufen?

Auf gar keinen Fall. Sophie Scholls Widerstand richtete sich gegen eine Diktatur, die jeden, der eine andere Meinung als das Regime vertrat, mit Gefängnis, Konzentrationslager und Tod bedrohte. Eine solche Situation ist überhaupt nicht mit dem System vergleichbar, in dem wir heute in Deutschland leben. Sophie Scholl hatte keine Chance, ihre Kritik öffentlich zu äußern. Unser Grundgesetz hingegen schützt auch die Meinungsfreiheit von Menschen, die sich als "Querdenker*innen" bezeichnen. Sie dürfen sagen, was sie denken, sie dürfen natürlich auch protestieren und demonstrieren. Sie müssen sich aber – wie wir alle – an Gesetze halten. Dazu gehört die Straßenverkehrsordnung ebenso wie die Corona-Regeln. Diese Gesetze werden von demokratisch gewählten Politiker*innen zum gesundheitlichen Schutz aller gemacht.

Sophie Scholl hätte gern in einer solchen Demokratie gelebt, in der sie offen ihre Meinung hätte sagen können. Sie hätte gerne das Recht gehabt, zu demonstrieren oder eine Partei ihrer Wahl zu wählen.

Im Pressetext zu Ihrer aktuellen Sophie-Scholl-Biografie findet sich ein Zitat der Widerstandskämpferin, das einen angesichts ihrer aktuellen Vereinnahmung durch die Querdenker-Szene regelrecht schlucken lässt: "Ich kann es nicht begreifen, daß nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich." Steht diese Aussage aus einem Brief kurz nach Kriegsbeginn exemplarisch für Sophie Scholls Haltung gegenüber ihren Mitmenschen?

Dieser Satz ist tatsächlich eine zentrale Aussage von Sophie Scholl. Sie bezieht ihn auf den Zweiten Weltkrieg, der für sie keine Legitimation hatte, daher spricht sie von Menschen und nicht von Deutschen, Franzosen oder Polen. Menschen haben aus Sophie Scholls Sicht kein Recht, andere Menschen in Gefahr zu bringen oder ihnen zu schaden. Wer immer Sophie Scholl zitiert, sollte das wissen.

Im Übrigen: Sophie Scholl hat Biologie und Philosophie studiert. Sie war eine hochgebildete junge Frau, die intensiv nach wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen und nach Wahrheit suchte. Sie hat kritische Fragen gestellt und ist Diskussionen nicht ausgewichen. Sie hat versucht, Themen zu durchdringen, indem sie viel gelesen hat. 

"Ich kann es nicht begreifen, daß
nun dauernd Menschen in
Lebensgefahr gebracht werden
von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich." (Sophie Scholl)

Nun haben sich viele Querdenkende ja bedauerlicherweise bereits in einen kritikundurchlässigen Kokon eingesponnen, in dem sie die Welt durch einen Filter von Verschwörungstheorien betrachten und sich zugleich als Helden und Opfer fühlen. Gibt es Argumente, mit denen man trotzdem den Versuch unternehmen könnte, diesen Kokon zu durchbrechen, und den "Janas aus Kassel" zu erklären, warum der Vergleich zwischen dem Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen und Sophie Scholls Widerstand gegen das Nazi-Regime unpassend und unzutreffend ist?

Wir müssen es auf jeden Fall versuchen. Ich bin Optimistin und denke, dass wir Menschen mit Bildungsangeboten erreichen können. Wir müssen dafür sorgen, dass jede und jeder, der die Schule verlässt, über ein solides historisches Grundwissen verfügt. Dazu gehört zum Beispiel, dass Kinder und Jugendliche lernen müssen, was der Unterschied zwischen einer Diktatur und einer Demokratie ist und was Widerstand in der NS-Zeit wirklich bedeutet hat.

Sie sollten auch unbedingt erfahren, wer Sophie Scholl und wer Anne Frank war, und wie sehr sie unter der Diktatur gelitten haben. Beide wurden brutal ermordet, auch das sollten Schüler*innen erfahren.

Sie meinen also, dass wir mehr historische Bildung in der Schule und in der Gesellschaft brauchen?

Geschichte ist ein spannendes Fach und die Zeiten, in denen man vor allem Jahreszahlen auswendig lernen musste, sind lange vorbei. Es gibt viele Möglichkeiten, um Geschichte lebendig zu erzählen und deutlich zu machen, dass Geschichte von Menschen handelt und davon, wie sie sich diese Welt eingerichtet haben. Dieses Wissen über die Vergangenheit ist unverzichtbar, wenn wir die Zukunft friedlich gestalten wollen.

Für diesen Bildungsauftrag können Schulen sich sehr gut bei den Medien bedienen, die spannende Beiträge anbieten. Medienkompetenz und Medienanalyse wäre ein Fach, das man einführen könnte, um das kritische Denken zu schulen.

Was die "Herzensbildung" betrifft, also die Frage, wie wir kaltschnäuzigen, egozentrischen oder emotional abgeschotteten Menschen dabei helfen können, sich in empathische und gemeinschaftsfähige Wesen zu verwandeln – auch da würde die Lektüre von Texten Sophie Scholls oder Anne Franks helfen. Man kann einiges daraus lernen.

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