Deutschland in den Nachkriegsjahren. Der Nazi-Wahn wurde zur austauschbaren Metapher des Bösen, persönliche Schuld relativiert. Helmut Ortner hat darüber ein Buch geschrieben. Ein Gespräch über Lebenslügen der jungen Bundesrepublik, kollektives Verdrängen und Sophie Scholl als Instagram-Star.
In Ihrem Buch weisen Sie auf eine seit Jahren anhaltende "Normalisierungswelle" im Umgang mit der Nazi-Barbarei hin, in der die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen negiert werde. Mit dem Verschwinden von Zeitzeugen werde das Geschehene zunehmend aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht, begünstigt durch digitale Technologien, vor allem das Internet. Sie schreiben: "Die Nazi-Vergangenheit löst sich zunehmend vom historischen Kontext und trägt damit zu einer Verflachung und Normalisierung bei."
Helmut Ortner: Anschauungsmaterial hierfür bietet beispielsweise die Instagram-Soap "@ich-bin-sophie-scholl", einem multimedialen Projekt, das dem 100. Geburtstag von Sophie Scholl gewidmet war und mit der die ARD den Nationalsozialismus aus den Geschichtsbüchern für eine junge Follower-Community ins Hier und Jetzt holen wollte. Hier erzählte eine Influencer-Sophie aus ihrem Leben, teilte Propagandafilme der Nationalsozialisten und ihre Gedanken dazu, postete allerlei Fotos. Fast eine Million Menschen abonnierten den Account.
Was ist dagegen einzuwenden?
Einiges! Dass beim Versuch, historisch komplexe Themen auf Instagram zu vermitteln, vieles fragmentarisch bleiben muss und dass man hier einfache, schnell verstehbare Sätze braucht, fordert die Dramaturgie Sozialer Netzwerke. Aber in dieser digitalen History-Soap gibt es allerlei rhetorischen und gedanklichen Unrat, beispielsweise Sätze wie "Hitler macht seit 1933 Jüdinnen und Juden das Leben in Deutschland schwer". Nein, nicht Hitler allein hat den Jüdinnen und Juden "das Leben schwer gemacht", es waren die braven deutschen Bürgerinnen und Bürger. Sie haben für die alltägliche Diskriminierung, für Verfolgung und Vernichtung täglich selbst gesorgt. So trägt die Instagram-Soap leichtfertig zur Verflachung und Relativierung der Nazi-Barbarei bei. Motto: Auch wir waren Opfer!
Einen breiten Raum nimmt in Ihrem neuen Buch die Nazi-Justiz ein und die Tatsache, dass beinahe alle Nazi-Richter und Staatsanwälte nach 1945 von einer Strafverfolgung verschont blieben. Nur wenige wurden angeklagt, noch weniger der Prozess gemacht.
Im Februar 1947 fand der Nürnberger Juristenprozess als dritter der zwölf Nürnberger statt. Angeklagt waren 16 hohe Justizbeamte und Richter des NS-Regimes. Gegenstand des Juristenprozesses waren der Erlass und der Vollzug der NS-Terrorgesetze, die Urteile der Nazi-Sondergerichte. Die Urteile fielen mild aus: vier Angeklagte wurden zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, vier weitere wurden freigesprochen. Im Übrigen verhängte das Gericht Freiheitsstrafen von fünf bis zehn Jahren Zuchthaus.
Sehr milde Urteile für die Verantwortlichen einer Terror-Justiz.
In der Tat. Es gehört zu den traurigsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass viele Nazi-Juristen nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. In meinem Buch schildere ich die unterbliebenen oder auch gescheiterten Versuche, die Verbrechen der Nazi-Justiz durch die Justiz der Bundesrepublik zu verfolgen. Die meisten Ex-Nazi-Juristen – auch jene, die für Todesurteile verantwortlich waren – konnten in der Adenauer-Republik ihre Karrieren fortsetzen und gingen später gut versorgt in Pension, während die Opfer um mickrige Rentenansprüche kämpfen mussten. Kein Volksgerichtshof-Richter wurde nach 1945 verurteilt. Eine schwer erträgliche Tatsache.
Die Nazi-Richter argumentierten, damals nur geltendes Recht gesprochen zu haben. Wie der ehemalige NS-Marinerichter und spätere baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger, der sich mit dem Satz "Was damals Recht gewesen sei, könne heute nicht Unrecht sein" rechtfertigte.
Ja, die meisten ehemaligen Nazi-Juristen sahen sich lediglich als ganz normale Funktionsträger, die geltendes Gesetz angewandt hatten. Die Formel von der bloßen Pflichterfüllung kursierte unter den ehemaligen NS-Juristen, häufig mit dem Hinweis, damit Schlimmeres verhindert zu haben. Eine Rechtfertigung, die bereits im Nürnberger "Juristenprozess" nicht ohne Erfolg strapaziert worden war.
Auch aus der Politik gab es keine zwingenden Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null.
Und so sprachen in den Gerichtssälen der jungen Bundesrepublik wieder ehemalige Nazi-Richter Urteile und Nazi-Staatsanwälte hielten Plädoyers. Juristen, die sich frei von Schuld fühlten und ihre nationalsozialistische Un-Rechtsprechung für "bewältigt" hielten. Überdies ging eine ganze NS-Juristengeneration gut versorgt in Pension. So wurde der "Niedergang des Rechts nicht verarbeitet, sondern vergoldet", wie es der Spiegel einmal sarkastisch formulierte.
Nicht nur die politische Elite, auch die Gesellschaft wollte nichts mehr von der Nazi-Barbarei wissen. Die kollektive Verdrängung, das große Verleugnen und Vergessen – eine Lebenslüge der jungen Bundesrepublik?
Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Verstrickungen, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster Hitler-Deutschlands, nichts mehr wissen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit fiel lange schwer, sie erinnerte an eigene Versäumnisse und Mitschuld, an Feigheit und Mutlosigkeit. Daraus folgte eine kollektive Verdrängung. Das änderte sich erst ab den 70er Jahren, als die junge Generation wissen wollte, was ihre Väter und Großväter gemacht oder unterlassen hatten.
Heute findet dieser Verleugnungs-Reflex vor allem im rechten Politik-Milieu statt. Die AfD nutzt die parlamentarische Bühne als öffentlichkeitswirksames Podium, um mit Tabu-Brüchen und gezielten Provokationen regelmäßig und absichtsvoll Stimmung zu machen. Denken wir nur an Björn Höckes beschämendes Gerede von einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" oder Alexanders Gaulands "Vogelschiss"-Verharmlosung der Nazi-Diktatur.
Für die Mehrheit hierzulande aber gilt das Bekenntnis "Nie wieder!", ein Diktum, das die einfache moralische Botschaft vermittelt, die heutige Generation müsse die "Lehren" aus der NS-Diktatur ziehen und dafür sorgen, das sich diese Menschheits-Katastrophe nie wiederholt. Wir leben heute in einem Rechtsstaat, den sollten wir schützen und verteidigen: gegen Feinde der Demokratie, gegen rechte Geschichtsleugner und wirre Verschwörungstheoretiker.
Es gibt eine Verantwortung für die heutige Generation?
Die Frage, die bleibt: Ist die heutige, die politisch und moralisch schuldlose Generation, nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und ihrem Erbe? Oder: beginnt nicht die Verantwortung nachfolgender Generationen bei der Frage, ob sie sich erinnern will? Mein Buch versteht sich als ein Plädoyer gegen jede Verharmlosung und Relativierung der NS-Vergangenheit. Nazi-Vergangenheit verjährt nicht. Es gibt eine Verpflichtung: Die des Erinnerns.
Das Interview führte Stephan Viewege.
Helmut Ortner, Volk im Wahn – Hitlers Deutsche – Über die Gegenwart der Vergangenheit, Dreizehn Erkundungen, Edition Faust, 296 Seiten, 22 Euro