„Anständig geblieben“?

(hpd) Der Historiker Raphael Gross legt einen Sammelband mit eigenen Aufsätzen vor, welche die Bedeutung von Auffassungen über „Anstand“, „Ehre“, „Kameradschaft“ und „Treue“ zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur untersuchen.

Es handelt sich dabei um interessante Fallstudien vom Film „Jud Süß“ über das „Rassenschande“-Bild in den Nürnberger Gesetzen und Hitlers Religionsbegriff bis zum Eichmann-Prozess – allerdings ohne den Charakter einer umfassenden Gesamtdarstellung zum Thema.

Angesichts der Dimension von Verbrechen, die mit dem Nationalsozialismus verbunden sind, mag die Rede von der „nationalsozialistischen Moral“ irritieren. Nutzt man aber die Bezeichnung „Moral“ wie der Historiker Raphael Gross in einem beschreibenden und nicht in einem normativen Sinne, so kann von einer „nationalsozialistischen Moral“ als formalen und inhaltlichen Wertvorstellungen sehr wohl gesprochen werden. Eine solche Auffassung will auch die damit gemeinten Normen nicht neutralisieren oder relativieren. Es geht in dieser Perspektive vielmehr darum, die Inhalte und den Nutzen bestimmter Moralvorstellungen zur Zeit des Nationalsozialismus zu untersuchen. Genau dies beabsichtigt der in Frankfurt und London lehrende Gross in seinem Buch „Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral“. Der Haupttitel bezieht sich dabei auf eine Aussage Himmlers, wonach die SS-Leute auch bei den Massenmorden „anständig geblieben“ seien. Die fehlenden Anführungszeichen auf dem Buchcover können somit einen falschen Eindruck erwecken.

Darüber hinaus suggeriert der Titel, es handele sich um eine Gesamtdarstellung zum Thema. Dies ist aber nicht der Fall, enthält der Band doch nur Aufsätze, die bereits an anderer Stelle erschienen. Im Einzelnen geht es in den neun Beiträgen um so unterschiedliche Fälle wie die Auffassung von „Schande“ und „Schuld“ in dem NS-Propagandafilm „Jud Süß“, die „Rassenschande“-Ideologie in den Nürnberger Gesetzen, die Deutung von Religion in Hitlers Verständnis von „positivem Christentum“, die SS-Formel „Meine Ehre heißt Treue“ und deren filmische Aufarbeitung in dem NS-Streifen „Hotel Sacher“ und dem Nachkriegsfilm „Der Untertan“, die Interpretation „deutscher Schuld“ 1946 anhand der Erinnerungen von Traudl Junge und den Reflexionen von Karl Jaspers, die juristische Deutung „Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung“ von Fritz von Hippel von 1946, Spruchkammer-Prozesse gegen Kurt Gerstein und Konrad Morgen in der Nachkriegszeit, die Verurteilung von Adolf Eichmann und die Sicht der „NS-Moral“ bei dem Schriftsteller Martin Walser.

In der Einleitung und im Schlusswort geht Gross noch auf die Forschungslage zum Thema ein. Insgesamt konstatiert er – trotz einiger innovativer Ansätze – eine Lücke. Seine Studien könnten sie nicht schließen, gleichwohl Anregungen zur weiteren Beschäftigung mit der „nationalsozialistischen Moral“ geben. Denn: „Gegenüber Analysen, die den Schwerpunkt auf die Ideologie legen, betont der moralgeschichtliche Ansatz die Verankerung gesellschaftlicher Normen und Werte in der Gefühlsstruktur der Menschen.“ Hierin liege nicht zuletzt ein Grund für das Fortwirken der NS-Moral nach 1945. Derartige Prägungen seien – als spontane Beurteilungen, emotionale Reaktionsformen und übernommene Verhaltensweisen - stärker in der gesellschaftlichen Kultur verankert als ideologische Überzeugungen. Und weiter heißt es: „Moralgeschichte will nicht eine politisch-soziale Sprache rekonstruieren, sondern fragt nach den geteilten moralischen Normen und Werten und danach, wie diese sich auf die Handlungen der Individuen auswirken“ (S. 13).

Demnach versteht Gross seinen Sammelband - denn um einen solchen handelt es sich eigentlich – als Anstoß zu Debatte und Forschung und nicht als Grundlagenwerk und Handbuch. Nimmt man diesen reduzierten Anspruch zur Kenntnis, kann man die einzelnen Beiträge mit Gewinn lesen. Allerdings geben sie dann mehr über das jeweilige Thema im Besonderen denn über die NS-Moral im Allgemeinen Auskunft. Mitunter wirkt denn auch der Band inhaltlich etwas „zusammengestoppelt“, frei nach dem Motto: Irgendwie passt dieser alte Aufsatz auch noch zum Themenkomplex. Gleichwohl macht Gross überzeugend auf die Notwendigkeit einer Moralgeschichte des Nationalsozialismus aufmerksam. Man sollte in der Tat nicht unterschätzten, wie stark sich entsprechende Prägungen auf das Alltagsverhalten und die Wertvorstellungen von Menschen auswirken. Diktaturen „funktionieren“ nicht nur mit Repression, sondern auch mit Überzeugungen. Ein Perspektivenwechsel in der historischen Forschung in diese Richtung verspricht erhöhten Erkenntnisgewinn.

Armin Pfahl-Traughber

Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt/M. 2010 (S. Fischer-Verlag), 278 S., 19,95 €