Samira Akbarian plädiert in ihrem Buch "Recht brechen" für eine "radikaldemokratische Deutung" und gegen eine konstitutionelle Interpretation von zivilem Ungehorsam. Dabei soll letztendlich ein aktueller Gesetzesbruch in eine Verfassung integriert werden, was zu bedenklichen Folgen in der Praxis für das rechtsstaatliche Verständnis führen würde.
Darf man geltende Gesetze aus moralischen Gründen in einem demokratischen Rechtsstaat brechen? Diese Frage berührt die politische Philosophie des zivilen Ungehorsams. Seit Jahrzehnten wird darüber immer wieder mit verschiedenen Positionierungen gestritten. Dabei gibt es die Auffassung von einer grundlegenden Negierung, drohten doch so die sozialen Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaats zu erodieren. Eine andere Auffassung hält solche Handlungen für legitim, sofern sie ansonsten eben die Grundlagen einer solchen rechtlichen Ordnung nicht verwerfen würden. Dieser letztgenannten Auffassung gesellt sich nun eine weitere Deutung hinzu. Deren Anhänger bedienen sich der Formulierung "radikaldemokratisch" zur Selbstbezeichnung, wobei es ihnen aber nicht nur um eine allgemeine Legitimation, sondern eine rechtliche Verankerung geht. Samira Akbarian ist in Deutschland eine bekannte Repräsentantin dieser Richtung. In ihrem Buch "Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams" entwickelt sie das damit gemeinte Verständnis.
Bei ihrer Argumentation müssen zwei Ebenen unterschieden werden, erstens die Legitimation und dann zweitens die gemeinte Verankerung. Bezogen auf den ersten Gesichtspunkt besteht auch ein Konsens zu ähnlichen Positionierungen, etwa die in den früheren Arbeiten von Jürgen Habermas und John Rawls. Akbarian weist dazu auch auf folgenden wichtigen Gesichtspunkt hin: Demokratie kennt keine absoluten Letztbegründungen oder endgültigen Wahrheiten. Da in ihr ein kontinuierlicher und offener Prozess konstitutiv sei, müsste auch ein ziviler Ungehorsam legitim sein. Dieser Auffassung lässt sich durchaus zustimmen, indessen folgt daraus aber nicht ihre rechtliche Verankerung. Denn dafür plädierten die Anhänger einer konstitutionellen Form wie die Vorgenannten nicht. Genau darin besteht aber bei Akbarian der besondere Ansatz ihrer Konzeption, einhergehend mit einem universalistischen Begriff von Freiheit und Gleichheit, aber eben auch hinsichtlich der Konfliktverlagerung in den Rahmen der Verfassung. Diese Auffassung bildet den entscheidenden Punkt.
Berechtigt weist die Autorin darauf hin, dass Recht nicht in Stein gemeißelt sei. Gesetze wie deren Interpretation könnten einem Wandlungsprozess ausgesetzt sein. Auch bei dieser Aussage handelt es sich eigentlich um eine Selbstverständlichkeit. Akbarian will hier aber noch einen Schritt weiter gehen: radikale Neuveränderungen sollen auch über die vorhandene Verfassung möglich werden. Dies ist auch in Deutschland auf der Grundlage von Minimalprinzipien denkbar, wofür etwa die Existenz einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht. Sie erlaubt sogar die politische Ablehnung von darüber hinausgehenden Bestandteilen des Grundgesetzes als jeweilige Positionierung. Aber dies scheint Akbarian bei ihrer Deutung nicht zu genügen, ist doch etwa die ungenaue Rede von tiefgreifenden Veränderungen. Doch worin sollen die Grenzen dafür bestehen, was wäre dafür der Rahmen? Die Gewaltfreiheit nennt sie als einziges direktes Kriterium. Freiheit und Gleichheit kommen bei ihr hinzu, wobei aber das Gemeinte in den Positionierungen unbestimmt bleibt.
Genau die damit und mit anderen Ausführungen einhergehende Diffusität ist letztendlich das formale und inhaltliche Problem. Denn eine Berufung auf Freiheit und Gleichheit kann vielen politischen Protagonisten eigen sein, welche mit einer Absolutsetzung ihrer Deutungen dann Rechtsbrüche gegen einen Rechtsstaat praktizieren wollen. Genau dies lehnten die Anhänger einer konstitutionellen Auffassung von zivilem Ungehorsam ab. Akbarian anerkennt einen solchen Konsens nicht, sie will Ungleichgewichte und Widersprüche thematisieren. Dies ist aber angesichts geltender Bürgerrechte bereits möglich, Rechtsbrüche sind dafür nicht nötig. Existente Gefahren für eine funktionierende Rechtsordnung sieht sie, ignoriert sie aber allzu leichtfertig zugunsten eines Ideals von Radikaldemokratie. Entgegen des Klappentextes kann man sich dabei aber nicht auf Martin Luther King berufen, denn er plädierte für die Akzeptanz einschlägiger Strafen auch beim zivilen Ungehorsam.
Samira Akbarian, Recht brechen. Eine Theorie des zivilen Ungehorsams, München 2024, C. H. Beck-Verlag, 172 Seiten, 16 Euro