ARD. (hpd) Vergangene Woche lief der Zweiteiler „Pius XII“ im Ersten Fernsehprogramm der ARD. Er zeigt den damaligen Papst als entschiedenen Gegner des Nationalsozialismus. Zwar ist diese Aussage wahr, ein derart positives Bild von Pius XII. als entschlossenem Judenretter entspricht jedoch nicht den historischen Fakten.
Eines der ersten Argumente zur Verteidigung Pius XII. ist dabei, dass er bereits vor seinem Pontifikat als Kardinalstaatssekretär die antinationalsozialistische Enzyklika (päpstliches Rundschreiben) „Mit brennender Sorge“ verfasste. (Ein erster Entwurf stammt jedoch vom Münchener Erzbischof Michael Kardinal Faulhaber.) Sie wurde 1937 in den Kirchen verlesen und enthält mehrere Passagen, die, aus dem Kontext gerissen, tatsächlich eine Unvereinbarkeit von Katholizismus und Rassismus erkennen lassen, wenn es beispielsweise heißt:
"Wer die Rasse, oder das Volk, [...] aus dieser ihrer irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge."
Wer die gesamte Enzyklika liest, stellt jedoch schnell fest, dass es sich um keine politische Stellungnahme zugunsten unschuldig Verfolgter, sondern eher um rein theologische Überlegungen handelt. Der Rassismus wurde in der katholischen Kirche nicht abgelehnt, weil er das Leben zahlloser Juden gefährdete, sondern weil er elementaren Glaubensgrundsätzen widersprach.
Zu nennen wäre dabei, dass durch die Überhöhung der Rasse nicht der Eindruck entstehen dürfe, die Deutschen oder alle germanisch-arischen Völker seien zu Höherem berufen und allein durch ihre Herkunft bereits erlöst. Im Katholizismus sind alle Menschen Sünder und haben sich gleichermaßen Jesus zu unterwerfen.
Ebenso dürfe auch nicht die Gültigkeit des Alten Testaments angezweifelt werden, das manche Nationalsozialisten als „verjudet“ betrachteten. Dies war kein Widerspruch zum kirchlichen Antijudaismus, der die Juden bis zur Ankunft des Messias als „Gottes Volk“ ansah, dann aber den Bund als gebrochen ansah, als sich die Juden Jesus verweigerten. Fortan seien die Christen das neue „Volk Gottes“. Da das Alte Testament vor diesem Zerwürfnis verfasst wurde, behielt es seine Gültigkeit.
Außerdem betrachtete man im Vatikan die Pläne zur Erschaffung einer einheitlichen Reichskirche, die einer Verschmelzung von katholischer und evangelischer Kirche gleichgekommen wäre, kritisch. Auch die Person Jesu müsse weiterhin als Jude und nicht als Arier betrachtet werden.
Zu guter Letzt hatte die Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie tatsächlich mit Einschränkungen gegen Juden zu tun. Gemäß der Rassenlehre waren getaufte Personen jüdischer Abstammung auch nach der Konversion zum Christentum immer noch Juden und somit lebensunwertes Leben. In Stellungnahmen gegen die Nürnberger Gesetze setzten sich die Bischöfe immer für diese „Nicht-Arischen Katholiken“ oder für jüdische Ehepartner von Christen ein, zielten aber nicht auf deren komplette Abschaffung.
Dass es auch anders geht, zeigt die etwa gleichzeitig entstandene Enzyklika „Divini Redemptoris“, die den Kommunismus weit schärfer anprangerte und Katholiken jegliche Form der Zusammenarbeit verbot.
Spätestens mit dem Beginn des 2. Weltkriegs wurde das ohnehin kühle Verhältnis zwischen Vatikan und Drittem Reich frostig. Hitler hatte Polen überfallen und begann das Land systematisch zu vernichten. Unter anderem wurde die katholische Kirche im Land verfolgt. Hitler ließ zahlreiche Geistliche ermorden oder im KZ Dachau inhaftieren. Auch die Gefangennahme Pius XII. durch SS-General Karl Wolff wurde tatsächlich geplant.
Dennoch betrachtete man Hitler im Vatikan aber immer noch als „nützlichen Idioten“. Unterstaatssekretär Domenico Tardini (in späteren Jahren Kardinalstaatssekretär) entwarf kurz nach dem Überfall der Sowjetunion durch Deutschland ein Szenario, das den Interessen der Kirche am nächsten kam. Die Rote Armee hatte dem Blitzkrieg der Wehrmacht der Sowjetunion nur wenig entgegenzusetzen und ohne die Unterstützung durch die USA mit Waffen, Fahrzeugen etc. wäre Stalins Reich in sich zusammengebrochen. Tardini folgerte daher, dass die Sowjetunion im Kampf gegen Hitler unterstützt werden müsse, man aber die USA darum bitten solle, diese Hilfe nur tröpfchenweise zu leisten. Die Rote Armee dürfe nicht so stark werden, dass sie die Oberhand gewinnen könne. Deutsches Reich und Sowjetunion sollten in einem Abnutzungskrieg beide ausbluten, damit keine der kirchenfernen Diktaturen das Kriegsende überstand.
Dies gestaltete sich jedoch als schwierig, denn laut „Divini Redemptoris“ durften Katholiken, also auch die amerikanischen, nicht mit Kommunisten zusammenarbeiten. Das Lend/Lease-Programm, das zuerst Großbritannien half und der Sowjetunion helfen sollte, war daher in den USA lange Zeit umstritten. Pius XII. nahm Kontakt mit den amerikanischen Bischöfen auf, um sie von einer neuen Interpretation der antikommunistischen Enyzklika zu überzeugen. Nicht Stalin, sondern dem bedrängten russischen Volk gelte es zu helfen.
Doch ist der Hitlergegner Pius XII. nicht automatisch der Judenretter Pius XII. Den gesamten Krieg über verurteilte der Papst den nationalsozialistischen Völkermord niemals öffentlich. Der Film konzentriert sich daher eher auf die stille Hilfe des Papstes im besetzten Rom der Jahre 1943/44.
Die Historikerin Susan Zuccotti hat das kirchliche Engagement für Juden im damaligen Italien untersucht und kann sich der einseitig positiven Darstellung nicht anschließen. Sie bezweifelt die hohe Zahl von 4.447 angeblich in Klöstern und ähnlichen Einrichtungen geretteten römischen Juden. Eine genauere Untersuchung des Zahlenmaterials ergibt, dass sich nicht 4.447 Juden in kirchlichen Einrichtungen aufhielten, sondern dass es 4.447 Aufenthalte von Juden in kirchlichen Einrichtungen gab. Der kleine aber feine Unterschied: Manche Juden hielten sich während der deutschen Besetzung in mehreren Klöstern hintereinander auf, so dass es zu Mehrfachzählungen kommt. Eine präzise Zahlenfeststellung ist heute nicht mehr möglich.
Dennoch kommt auch sie zu dem Fazit, dass zumindest ein großer Teil der etwa 9.000 römischen Juden in Einrichtungen der katholischen Kirche überlebte. Auch hier weist Zuccotti auf den kleinen aber entscheidenden Unterschied hin: Dass ein großer Teil der Juden von der Kirche gerettet wurde, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass ein großer Teil der Kirche Juden rettete. Sie schätzt, dass nur etwa 15 % aller Einrichtungen die Gäste aufnehmen konnten, auch Juden Asyl boten. Das Argument, dass mehr Hilfe nicht nötig war, weil die übrigen Juden entweder Rom verlassen hatten, oder sich in nicht-kirchlichen Einrichtungen versteckten, lässt Zuccotti nicht gelten.
Viele Juden mussten mehrere Versuche unternehmen, in einem Kloster Zuflucht und Unterschlupf zu finden, da sie immer wieder abgewiesen wurden. Einige der Einrichtungen waren nur bereit, getaufte Juden aufzunehmen und überprüften dies teils auch, indem sie christliche Glaubensinhalte abfragten. Nach dem Krieg warf Settimio Sorani von der jüdischen Organisation DELASEM der katholischen Kirche vor, jüdische Kinder nur deswegen aufgenommen zu haben, um sie christlich zu erziehen und sie nicht ihren Eltern zurückzugeben hätte.
Dass die katholische Kirche eher nur zögerlich und niemals öffentlich für die Juden eintrat, wird damit begründete, dass sie glaubte, durch zu offensives Auftreten Hitler zu verärgern und Repressionsmaßnahmen herbeizuführen. Aber welche Repressionsängste befürchtete Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione als er sich nach dem Sturz Mussolinis an die neue italienische Regierung unter Pietro Badoglio wandte, der dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte? Er beauftragte den Geistlichen Tacchi Venturi, der bessere Kontakte zur Regierung hatte als der Nuntius (Botschafter), eine Änderung der noch gültigen Rassengesetze in Italien herbeizuführen. Maglione drängte aber nicht auf die Abschaffung der Gesetze als solche, sondern wollte nur, dass sie fortan keine getauften Juden mehr betrafen und sie die Gültigkeit der, nach katholischem Ritus geschlossenen, Ehen zwischen Katholiken und Juden nicht antasteten.
Das Beispiel der Niederlande
Als Beweis für die Existenz von Repressalien führen die Pius-Apologeten oft das Beispiel der Niederlande an. Dort hatte Bischof de Jong 1942 gegen die anlaufenden Judendeportationen protestiert, was zur Folge hatte, dass auch die getauften Juden katholischen Glaubens nach Auschwitz geschickt wurden. Dass de Jongs Entscheidung aber korrekt war, zeigte sich, als der Befehl erging, auch die getauften Juden evangelischen Glaubens zu deportieren, obwohl die evangelischen Kirchen nicht öffentlich protestiert hatten.
Die Haushälterin des Papstes, Pasqualina Lehnert behauptete aber felsenfest, dass der Papst zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich glaubte, Juden durch sein Schweigen vor harten Repressionen zu schützen. Einen bereits formulierten Protest habe Pius XII. verbrannt, als er bei von den Ereignissen in den Niederlande hörte. Bei einer genaueren Untersuchung zeigt sich jedoch, dass die Aussage an vielen Stellen logische Widersprüche enthält. Die ohnehin nicht sehr stimmige Aussage wird auch dadurch nicht schlüssiger, dass sie sich laut Pasqualina Lehnert 1942 ereignete, im Film aber auf das Jahr 1943 verlegt wird.
Doch auch wenn sich nachweisen lässt, dass der Vatikan auf die Rettung von Juden hinarbeitete, wird Pius XII. dadurch nicht zu einem Vorkämpfer der Humanität. Domenico Tardini legte dem Papst im Frühjahr 1943 nahe (nach der Schlacht von Stalingrad zeichnete sich die Niederlage Hitlers ab), dass man Juden retten müsse, da sie nach Kriegsende „auf Seiten der Sieger“ stünden und dass man nicht zulassen dürfe, dass die Schuld am Holocaust auf die Kirche abgewälzt werden könne.
Fluchthilfe des Vatikans für Nazis nach Kriegsende
Der elementarste Sachverhalt, den der Film verschweigt, ist jedoch die Fluchthilfe des Vatikans für untergetauchte Nazis nach Kriegsende. Die katholische Kirche sah in den Entscheidungsträgern des NS-Staates hilflose Verfolgte, die vor bolschewistischen Racheakten geschützt werden mussten. Die deutschen und österreichischen Bischöfe beklagten öffentlich wie privat die Entnazifizierungsmaßnahmen der Alliierten als zu hart und zu pauschal. Außerdem seien die meisten Funktionäre nichts weiter als Befehlsempfänger gewesen, die man nicht zu Sündenböcken für die Verfehlungen der obersten Führungsclique machen durfte.
Auch im Vatikan war diese Einstellung verbreitet. Bischof Alois Hudal, Rektor der deutschen Nationalkirche in Rom, konnte also auf Hilfe von oben hoffen, als er begann, sein Fluchthilfenetzwerk, das später als „Rattenlinie“ bekannt wurde, aufzubauen. In den späten 40ern konnte er über 200 hochrangigen Nazis zur Ausreise nach Südamerika verhelfen, darunter auch Größen wie Adolf Eichmann oder Josef Mengele.
Weniger bekannt ist, dass der Vatikan auch fast die gesamte Staatsführung des kroatischen Vasallenstaates schützte. Die faschistischen Ustascha hatten in Kroatien ein betont katholisches Regime geschaffen und hunderttausende orthodoxe Serben getötet.
Lukas Mihr
Weblinks:
Kritische Betrachtung des Arguments der Niederlande
Über die Fluchthilfe des Vatikans für verfolgte Kriegsverbrecher
Stellungnahmen deutscher Bischöfe zum 2. Weltkrieg