Atheismus als Grundlage des Humanismus (II)

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Focussierung / Foto © Evelin Frerk

MANNHEIM. (hpd) Als ich die verschiedenen Erwiderungen und Kommentare zu meinen Artikel im hpd „Atheismus als Grundlage des Humanismus“ gelesen habe, ist mir eins erneut sehr klar bewusst geworden. Atheismus wird noch immer als Weltanschauung missverstanden. Ein Nachtrag zu einem ersten Artikel zum Thema. 

Von Dirk Winkler

Kritiker mit religiösem Hintergrund argumentieren dann auch konsequent relativistisch. Hier der Glaube daran, dass es keinen Gott gibt, dort der Glaube, dass es einen Gott gibt. Hier das Dogma einer These, dort das Dogma einer anderen These. Wenn man von religiösem Fundamentalismus spricht, muss man auch feststellen, dass es atheistischen Fundamentalismus gibt. Atheismus sei ja auch nur ein Glaube – der Glaube, daß es keinen Gott gibt. So wie es eben einen Glauben an einen Gott gibt. Im Kern ist es immer der Versuch, eine Gleichberechtigung zu konstruieren, wo es keine Gleichheit der Argumentationsebene gibt.

Atheismus ist im Gegensatz zum Glauben sehr einfach. Wenn Theismus der "Glaube an einen Gott" ist, dann ist A-Theismus zunächst erst einmal das Fehlen eines Glaubens an einen Gott. Man „glaubt“ also nicht, dass es keinen Gott gibt, sondern man glaubt halt nicht. Sowenig wie man an Schneewittchen glaubt, oder den Osterhasen.

Es ist einzig die Tradition, warum wir uns heute von den argumentativen Nebelkerzen der Religiösen verwirren lassen. Wir alle sind in der Tradition aufgewachsen, dass man zunächst einmal die Argumente für Gott mit der gleichen Ernsthaftigkeit zur Kenntnis nimmt wie jene gegen Gott.

Eine vergleichbare Tradition für die Argumente pro Osterhase existiert nicht. Daher fällt auch niemandem ein, den Osterhasen-Theismus mit dem Osterhasen-Atheismus zu relativieren. Die historische Erfahrung hat uns gelehrt, dass aus absoluten Wahrheitsansprüchen sehr viel Unheil erwachsen ist. Es ist schon paradox, dass gerade religiöse Kritiker den Finger heben und meinen, daran gemahnen zu müssen, wenn von Seiten des Atheismus Klartext geredet wird.

Klartext ist, dass es entweder einen Gott gibt oder nicht. Es ist nicht beides möglich. Es ist dabei vollkommen unerheblich, ob dieser Gott nur einmal bei der Erschaffung der Welt gewirkt hat. Ob er immer mal lenkend eingegriffen hat oder heute noch ständig Einfluss nimmt. Diese Fragen wären nur dann relevant, wenn die Grundsatzfrage Gott ja oder nein, mit ja beantwortet wäre. Aber genau diese alles entscheidende Frage: existiert Gott – ja oder nein, muss erst einmal entschieden werden.

Zur Beantwortung dieser Frage gibt es nun zwei Lösungswege. Einen naturwissenschaftlichen Weg und einen theologischen Weg.

Ich sage nicht, dass sich der theologische Weg nicht auch wissenschaftlicher Methoden bedient. Kritisches Quellenstudium, Untersuchungen über das Weltall und den Urknall werden durchaus ernsthaft betrieben und halten kritischer Überprüfung stand. Das ist Teil einer aufgeklärten Religion, wie es insbesondere das Christentum für sich reklamiert. Zu Recht, wie ich meine.

Der entscheidende Unterschied ist der, wie beide Seiten Glauben und Wissen definieren. Und für welche Denkmethode sie sich entschieden haben.

Sprachlich benutzt man das Wort Glauben dafür, ob etwas an sich für wahr betrachtet werden kann. Dabei geht es nicht darum, ob ich glaube, dass mein Nachbar die Wahrheit gesagt hat. Ich tue dies, weil ich nicht davon ausgehe, dass er die Unwahrheit gesagt hat.

Wenn man an einer Weggabelung steht und keinerlei Wissen oder Indizien hat, welcher der beiden Wege einen zu seinem Ziel führt, so „glaubt“ man, dass der Weg, den man einschlägt der Richtige ist. Richtig ist aber einzig, dass man eine Zufallsentscheidung getroffen hat, die weder etwas mit Glauben, noch mit Wissen zu tun hat.

Glauben als Wort begegnet uns ständig, weil es eine Annahme beschreibt oder für eine Zufallsentscheidung steht.

Etwas ist glaubwürdig, wenn es zunächst nicht offensichtlich Lüge ist, weil wir Menschen im allgemeinen davon ausgehen, dass wir nicht belogen werden. Eine andere Grundannahme würde ein Zusammenleben unmöglich machen. Diese Art des Glaubens enthält immer auch die Möglichkeit, dass aus Glauben Wissen wird. Glauben wird immer dann zu Wissen, wenn Indizien oder Beweise für oder gegen die geglaubte Annahme sprechen.

Glauben im religiösen Sinn meint etwas ganz anderes. Glauben ist dort eine Denkkategorie, die zulässt, an alles Beliebige zu glauben und grundsätzlich ohne Wissen auskommt. Was ein Mensch im religiösen Sinn glaubt, ist dabei reiner Zufall. Der Zufall der Geburt bestimmt den Glauben. Je nachdem, in welche Familie oder in welche Gesellschaft ein Mensch hineingeboren wird, wird sein Glauben geprägt. Dementsprechend gibt es unzählige Glaubensinhalte, an die ein Mensch glauben kann.

Demgegenüber gibt es nur eine Naturwissenschaft. Es kann nur eine Naturwissenschaft geben, da es nur die Naturgesetze gibt, die es gibt. Diese zu erforschen, bedient man sich naturwissenschaftlicher Methoden. Naturwissenschaft produziert Wissen.

Wissen erwirbt man durch wissenschaftliche Methoden. Es ist verifizierbar und vor allem falsifizierbar. Wissen ist insoweit wahr, wie es nicht den Tatsachen widerspricht. Wissen kann niemals eine absolute Wahrheit begründen, da Wissen seiner Natur nach unerschöpflich ist. Wissen ist notwendigerweise immer begrenzt und unvollständig.

Glaube taugt nicht zum Füllen der Wissenslücken, auch wenn Gläubige immer gerne in die gerade noch offenen Wissenslücken springen.

Es gibt einfach Wissen und Nichtwissen. Noch-nicht-Wissen und prinzipiell-nicht-möglich-zu-wissen.

Wir dürfen uns nicht davon täuschen lassen, dass wir umgangssprachlich sagen, wir glauben an eine bestimmte wissenschaftliche Theorie. Nehmen wir die Evolutionstheorie. Ich glaube nicht an die Evolution. Die Evolution ist kein Gegenstand des Glaubens. Die Erkenntnisse zur Evolution gehören dem Bereich des Wissens an. Die Evolutionstheorie steht seit Darwin im Feuer. Im Kern hat sie bewiesen, dass sie das zutreffendste Welterklärungsmodel der belebten Natur ist, das die Menschheit besitzt.

Ich weiß, dass die Evolutionstheorie richtig ist. Ich weiß es so sehr, wie es redlicherweise möglich ist, über etwas Gewissheit zu haben.

John Stuart Mill bringt es in seinem Buch „Über die Freiheit“ (1859) treffend auf den Punkt:

„Unsere gesichertsten Überzeugungen haben keine verlässlichere Schutzwache als eine ständige Einladung an die ganze Welt, sie als unbegründet zu erweisen. Wenn diese die Herausforderung nicht annimmt oder, falls sie sie annimmt, der Angriff fehlschlägt, so sind wir noch von der Gewissheit weit entfernt, aber wir haben das Beste getan, was der gegebene Stand menschlicher Vernunft zulässt: wir haben nichts außer acht gelassen, was der Wahrheit eine Chance geben konnte, uns zu erreichen. Bleiben die Schranken offen, dann können wir hoffen, dass man eine bessere Wahrheit, wenn es solche gibt, finden wird, sobald der Menschengeist sie zu erfassen fähig ist. In der Zwischenzeit können wir uns darauf verlasen, der Wahrheit so nahe gekommen zu sein, wie es in unseren Tagen möglich ist. Das ist der Betrag an Gewissheit, den ein fehlbares Wesen erreichen kann, und das der einzige Weg, ihn zu erlangen.“

Letztendlich ist es genau diese Einstellung, die Wissenschaft und Glaube voneinander unterscheidet. „Ich akzeptiere, dass ich irren kann, gehe aber bis zum Beweis des Gegenteils nicht davon aus, dass ich irre.“ Das unterscheidet Humanisten von Gläubigen. Die gehen zwar auch davon aus, dass sie nicht irren, doch akzeptieren sie nicht die Möglichkeit, dass sie irren könnten.

Glauben kommt gerne als Mimikry des Wissens daher. Enttarnen wir den Glauben als etwas dem Wissen grundsätzlich Entgegengesetztes und er kann nicht wirklich mehr ernst genommen werden. Das Wissen zulässt, widerlegt zu werden, hat nichts mit Toleranz zu tun. Diese Eigenschaft ist funktionaler Bestandteil einer erkenntnistheoretischen Verfasstheit die wir Wissen und Wissenschaft nennen. Glauben und Religion sind in ihrer Verfasstheit, sowohl in ihrer Beliebigkeit als auch in ihrem Absolutheitsanspruch, etwas gänzlich anderes.

Wissen ist absolut intolerant. Wissen toleriert Glauben nicht. Das liegt in der "Natur" des Wissens. Wissen, das widerlegt wird, verschwindet und hört auf Wissen zu sein. Da bleibt kein Platz für Toleranz.

Glauben war noch nie Wissen und wird es niemals werden. Glauben funktioniert nach komplett anderen "Gesetzen" als Wissen.

Zwischen Glauben und Wissen gibt es keinerlei Überschneidungen. Ich denke, wir müssen anerkennen, dass es zwei Denksysteme sind, die an sich nicht miteinander vereinbar sind. Dem widerspricht nicht, dass es Menschen gibt, die in allen Bereichen ihres Lebens der Naturwissenschaft verbunden sind, als Skeptiker gelten, kritisch denken und gleichzeitig an Gott oder das Göttliche glauben. Dies beweist lediglich, dass der Mensch zu beiden Denkkategorien fähig ist. Das ist das Ergebnis der Evolution.

Nach diesen klaren Worten möchte ich betonen, dass es einen Unterschied macht, ob man sich konsequent für einen naturalistischen, naturwissenschaftlichen Zugang zur Erklärung der Welt entscheidet und die Denkkategorie Glauben als nicht gleichberechtigt anerkennt oder intolerant gegenüber Andersdenkenden ist. Religion hat immer wieder bewiesen, dass sie diese Unterscheidung nicht trifft. Ich bitte sehr, diese Unfähigkeit, beides von einander zu trennen, nicht auch auf Atheisten und Naturalisten zu projizieren.

Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus ist die Frage Gott ja oder nein, mit nein entschieden. Damit komme ich zu meiner Eingangsbehauptung zurück, dass Atheismus keine Weltanschauung ist. Es ist nicht möglich, Werte aus der Tatsache abzuleiten, dass es keinen Gott gibt. Wie also soll ich die Welt sehen? Ich meine damit nicht die Welt als naturwissenschaftliche Fragestellung. Ich meine die Welt der Normen und Werte. Normen und Werte, die ich brauche, um in ihr als soziales Wesen leben zu können. Dazu gibt der Atheismus keine Antwort.

Wissenschaft und Philosophie können Antworten geben. Nicht nur unsere Gestalt, unser Körper, auch unser Verhalten wurde von der Evolution herausgebildet. Dazu schrieb schon Konrad Lorenz:

„Man muß bedenken, daß sich unsere Fähigkeit zur Erkenntnis nicht im luftleeren Raum entwickelt hat. Sowohl unsere Erkenntnisfähigkeit, als auch unser Verhalten unterlagen der Evolution. Denn so wie sich der Huf des Pferdes dem Steppenboden angepaßt hat, so hat sich unsere Weltbildapperatur der reichhaltigen realen Welt, mit der sich der Mensch auseinander setzen mußte, angepaßt. Das einzige Kriterium seiner Entwicklung war die Arterhaltung und nicht die objektive Realität.“

Wir müssen endlich erkennen und akzeptieren, dass auch unsere Moral und unsere Ethik ein Produkt der Evolution ist. Dazu schreibt Franz Wuketits in seinem Buch Bioethik:

„Ethische Überlegungen dürfen nicht an empirischen Tatsachen vorbeigehen und müssen elementare Neigungen des Menschen (streben nach Lust und Vermeiden von Unlust) berücksichtigen.“

„Das ‚Ich’ mit all seinen Attributen, auch in seiner Fähigkeit zum moralischen Urteil und ästhetischer Intuition, mit seiner Fähigkeit, die Welt zu erkennen und zu verleugnen, ist fixierter Ausdruck vergangener Evolution. Die Konsequenzen dieser Einsicht aufzuarbeiten, wissenschaftlich, philosophisch und auch gesellschaftlich ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte mit keineswegs bereits überschaubaren Folgen für das menschliche Selbstverständnis und die gelebte Praxis späterer Generationen.“ So Eckart Voland in „Soziobiologie“.

Wenn es also um Weltanschauung geht, so stehen sich religiöse und humanistische Weltbilder gegenüber.

Und über eines sollten sich Religiöse und Nichtreligiöse einig sein: Ein Hitler, Stalin oder Pol Pot waren mit Sicherheit keine Humanisten.

Deswegen brauchen wir auch gar nicht darüber streiten, ob sie Atheisten waren oder nicht. Das ist vollkommen unerheblich für die Beurteilung, warum sie ethisch oder unethisch gehandelt haben. Es ließen sich genug konkrete Beispiele von Verbrechern finden, die unbestritten tiefgläubig waren.

Das Ausmaß der Verbrechen eines Hitler oder Stalins lassen sich viel schlüssiger erklären, wenn man bedenkt, welche technischen und administrativen Möglichkeiten ihnen zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte zur Verfügung standen. Ich möchte mir nicht vorstellen, was ein Großinquisitor der katholischen Kirche früher angerichtet hätte, wenn er über vergleichbare technische und administrative Mittel verfügt hätte. Ich bin also sehr dafür, in der Diskussion um Ethik, Glauben und Nichtglauben auf die „Hitlerkeule“ zu verzichten. Sie trifft einfach nicht, wenn man über Atheismus als Grundlage des Humanismus spricht.

Die Argumente von Religiösen und Humanisten sind schon immer die gleichen und werden immer die gleichen sein. Nur wandelt sich bei den Religiösen immer der Gegenstand, den sie verteidigen. Mal ist es Gott Baal, dann Gott oder Allah, dann irgendwann das Lichtwesen Armehla. Da stellt sich doch sehr die Frage, ob die religiös beschworene „ewige“ Wahrheit nicht ein Hirngespinst ist.

Wirklich real ist der Mensch mit seinen Bedürfnissen, die so widersprüchlich sind, wie die Natur vielfältig ist.

Erst wenn wir erkennen, wie Vorurteile, Hass, Aggressivität, Unmenschlichkeit, aber auch Liebe, Selbstlosigkeit und menschliches Verhalten aus dem biologisch evolutionären Menschen entstanden sind und aktiviert werden, sind wir in der Lage, die negativen Seiten des Menschen zu kontrollieren und die positiven Seiten voll zu entwickeln. So wie die moderne Medizin bewiesen hat, dass sie besser wirkt als traditionelles Gesundbeten, wird eine humanistische Ethik zeigen, dass sie einer religiösen Ethik vorzuziehen ist.

Abschließend festhalten möchte ich, dass es zwei Denkkategorien gibt. Eine Denkkategorie des Glaubens und eine Denkkategorie des Wissens, die sich naturwissenschaftlicher Methoden bedient. Diese zwei Denkkategorien sind keine zwei Punkte auf einer Skala der Unsicherheit. Sie sind Antipoden. Man kann sich zwischen beiden entscheiden. Man kann sie aber nicht relativieren, wie es Religiöse gerne machen, um sich zumindest ein wenig mit Wissenschaftlichkeit zu bemänteln. Einer Wissenschaftlichkeit, nach der Religiöse scheinbar lechzen, weil sie natürlich Verstand genug haben zu erkennen, dass ihr Glaube ihrem Verstand widerspricht.

„Wirklichkeit ist das, was nicht verschwindet, (selbst) wenn man aufhört, daran zu glauben.“ Philip Kindred Dick (1928-1982)
 

Atheismus als Grundlage des Humanismus (19. Feburar 2010)