Deutschland Deine Kinder (Teil 3)

Gehorsam, Zucht, Verfügbarkeit, Defizitorientierung, Fremd-Reglementierung

Die Erziehungskonzepte in den alten Bundesländern der 50er und 60er Jahre orientierten sich an der Formung eines Menschenbildes, dessen Ziel-Eigenschaften für die Gruppe der Ausgestoßenen und „Kinder der Sünde“ (12) Gehorsam, Zucht, Arbeitskraft-Verfügbarkeit (Ressourcenausbeutung anstelle von Potentialentfaltung), Defizitorientierung (das Kind wurde daran gemessen, was es nicht konnte) und Unterwerfung unter strenge Fremd-Reglementierung waren. (13)

In der juristischen Expertise, die im Auftrag des RTH von Prof. Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten erstellt wurde heißt es:

„Gerade in den Nachkriegsjahren waren viele Heime offenbar wirtschaftlich davon abhängig, dass die Arbeitskraft der Zöglinge verwertet werden konnte. Ein solches Vorgehen konnte aber auch in den 50er Jahren nicht mehr mit einer erzieherischen Intention begründet werden. Der Grundsatz, dass sich die Fürsorgebehörde nicht an der Arbeitskraft des Kindes bereichern dürfe, war bereits zu dieser Zeit anerkannt.
Folgt man der Auffassung, dass die Arbeitspflicht im Heim nur dann keine Zwangsarbeit iSd Art. 12 Abs. 3 GG war, wenn sie erzieherischen Zwecken diente, so ist jede Arbeit im Heim, die nicht erkennbar erzieherischen Zwecken diente und entsprechend ausgestaltet war, als Zwangsarbeit i.S.d. Art. 12 Abs. 3 GG zu werten. Sie war dann nach den oben genannten Maßstäben vor Art. 12 Abs. 3 GG nur zu rechtfertigen, wenn sie im Rahmen einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung stattfand und verhältnismäßig war.“
(14)

Zwangsarbeit

Daraus könnte man also folgern, dass bestimmte von den Heimkindern geleistete Arbeiten als Zwangsarbeit anzuerkennen sind. Der Autor hebelt diese Auslegung jedoch weiter unten im Text mit folgender Argumentation wieder aus:

„Wurden die Kinder und Jugendlichen außerhalb des Heims zur Arbeit eingesetzt, so wurde in den 50er und 60er Jahren in der Regel von einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis ausgegangen. Dabei war ohne Belang, ob der Ausbildungs- oder Arbeitsvertrag von dem Jugendlichen selbst oder von der Fürsorgeerziehungsbehörde in seinem Namen abgeschlossen wurde. Wurde der Arbeitsvertrag gegen den Willen des Jugendlichen geschlossen, so war er nach der herrschenden Willenstheorie dennoch „frei“ zustande gekommen, weil der Wille des Erziehungsrechts-Inhabers (hier die Eltern oder die Fürsorgeerziehungsbehörde) den Willen des Jugendlichen ersetzte (§ 69 Abs. 4 JWG, vor 1961 § 70 Abs. 3 RJWG); für Arbeitsverträge, die für länger als ein Jahr geschlossen wurden, bedurfte die FEB die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, wenn der frühere gesetzliche Vertreter ein Vormund war (§ 1822 Nr. 6, 7 BGB, str.)
Ein solches „freies“ Arbeitsverhältnis kann nicht als Zwangsarbeit eingeordnet werden, ist aber aus heutiger Sicht unter Umständen als Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Berufsfreiheit des Jugendlichen zu werten, weil dessen Interessen nicht ermittelt und berücksichtigt wurden.“
(15)

In der Expertise zu Rechtsfragen wird mit dem Willen des „Erziehungsrechts-Inhabers“ argumentiert, im Abschlussbericht des RTH wird zugegeben, dass Rechtsbrüche und Missstände in der Heimerziehung weder durch die Heimaufsicht, noch durch die Landesjugendämter behoben wurden. An anderer Stelle wird festgestellt, dass das Sorgerecht der Eltern häufig unzulässig auf Pfleger oder Vormünder übertragen wurde, um eine Heimeinweisung zu erzwingen. (16) Vormünder sorgten sich überwiegend jedoch nicht persönlich um ihre Mündel, sie nahmen lediglich eine verwalterische Rolle ein, ohne persönlichen Kontakt zu den Kindern. (17) Wie also konnten Eltern oder Vormünder ihr Erziehungsrecht wahrnehmen und den Willen des Kindes vertreten? (18)

Die Begründungen zur Ablehnung der Einordnung als Zwangsarbeit lesen sich wie Argumentationen von Strafverteidigern, die für die Institutionen einen Freispruch erwirken wollen. Nur fehlte zur Rechtsvertretung der Opfer ein Staatsanwalt und auch deren Rechtsanwälte waren bekanntermaßen nicht zugelassen. (19)

Im Abschlussbericht der Institutionenvertreter des RTH wird allerdings zugestanden, dass wiederholt der Verdacht aufkam, dass sich Firmen und Betriebe an der Arbeit der Heimkinder unangemessen bereicherten, allerdings läge zu wenig gesichertes Wissen vor, um darüber eine Bewertung abzugeben. Hier muss die Frage gestellt werden, warum entsprechende Forschungen nicht in Auftrag gegeben wurden. Das Argument, die Opfer könnten nicht entschädigt werden, weil die Täter gar nicht erst überprüft wurden, kann nicht anders als zynisch genannt werden. (20)

Prof. Dr. Manfred Kappeler weist in seiner Stellungnahme zum Abschlussbericht darauf hin, dass der RTH (genauer: die Institutionenvertreter und die Moderatorin Frau Vollmer) diese Nachweise über die Kooperationen der Heime mit externen Betrieben, nicht eingefordert hat. Diakonie, Caritas und die Ordensgemeinschaften saßen mit am RTH. Die ehemaligen Heimkinder konnten jedenfalls detaillierte Angaben über ihre Erfahrungen, an „Arbeitgeber“ wie z.B. Miele, Braun, Hella-Werke, VW, ausgeliehen worden zu sein, machen. Viele Mädchen arbeiteten in heimeigenen Großwäschereien, die Dienste für Krankenhäuser und Hotels leisteten. Daher forderten die Ehemaligen die finanzielle Beteiligung auch dieser Firmen und Betriebe am Entschädigungsfonds. Im Abschlussbericht steht davon jedoch nichts.

Während die Heimkinder Zwangsarbeit leisteten, wurden ihnen Bildungschancen (21) und Jugendgesundheitsschutz verweigert. Viele leiden noch heute unter den schweren körperlichen Überlastungen in der Wachstumsphase. Sie konnten keine ihren Potentialen entsprechende Berufslaufbahn einschlagen, auch ihre sozialen Beziehungen waren und sind von der traumatisierenden Vergangenheit überschattet. Viele sind dadurch unverschuldet von Transferleistungen abhängig geworden. Andere konnten mit großen Anstrengungen dennoch eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, nicht selten jedoch wurden sie infolge schwerer posttraumatischer Belastungserkrankungen und körperlichen Folgeschäden vorzeitig erwerbsunfähig. Die Heimkinder mussten unter Demütigungen, religiösem Zwang, sexueller Gewalt, schwersten körperlichen Misshandlungen und Freiheitsberaubung durch Erziehungs-Personal leiden. Dieses Leid und Unrecht wird im Abschlussbericht bestätigt.

Die Infostelle des RTH, die eingerichtet wurde, um ehemaligen Heimkindern die Gelegenheit zu geben, ihre Anliegen und Erfahrungen mitzuteilen, führte diverse strukturierte Befragungen der Betroffenen durch. Auf die Frage, wie häufig die Erinnerungen an die Erlebnisse wiederkehren, gaben 7 von 12 Personen an, dass sie täglich, mindestens jedoch zwei bis drei Mal im Monat unter Erinnerungen litten. Diese würden meist durch bestimmte Auslöser aktiviert: „Kommandoton, alles was mit dem Thema Kirche zu tun hat, Kirchenmusik, Kellergerüche, Amtsflure, das Geräusch des dicken Schlüsselbundes, Berichte über Missbrauch,...“. (22)

Die ehemaligen Heimkinder fordern ihr Recht

Die ehemaligen Heimkinder sind keine Bittsteller, sie fordern ihr Recht. Auch diejenigen, die bisher gezögert haben, sollten sich ermutigt fühlen, ihre Rechte einzufordern und Entschädigungsanträge zu stellen. Sie brauchen aber auch UnterstützerInnen auf politischer, institutioneller und persönlicher Ebene. Die Abgeordneten sollten den Abschlussbericht des RTH kritisch lesen und sich bei den Heimkindern und deren UnterstützerInnen selbst informieren, damit die notwendigen Änderungen und Korrekturen vorgenommen werden können und die Wiedergutmachung endlich beginnen kann.

Daniela Gerstner

 

Wir schreiben 2011.
Bereits 2006 hielt Dietmar Krone anlässlich der Beratungen über die Einrichtung eines Runden Tischen Heimerziehung nachfolgende Rede vor dem Petitionsausschuss.

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Anmerkungen

(1) Artikel 12 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verbietet Zwangsarbeit: (1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. (2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
(2) Vgl. Abschlussbericht RTH, Seite 31
(3) Vgl. Prof. Dr. Manfred Kappeler: Unrecht und Leid - Rehabilitation und Entschädigung? Vgl. auch: Prof. Dr. Kappeler: Überlegungen zum Umgang mit Vergangenheitsschuld in der Kinder- und Jugendhilfe.
(4) Vgl. Abschlussbericht RTH, Seite 45
(5) Vgl. Abschlussbericht RTH, Seite 30
(6) Prof. Dr. Manfred Kappeler: Unrecht und Leid-Rehabilitation und Entschädigung? Seite 9
(7) Artikel 6 GG;  siehe auch: Reinhard Wiesner: Was sagt die Verfassung zum Kinderschutz?
(8) Ebd., Seite 9
(9) "Vom Säugling zum Bückling" (1972), damaliges politisches Kabarett, das sich während der Zeit der Heimkinderbewegung für sie engagierte; O-Ton von ehemaligen Heimkindern aus Freistatt
(10) Marita Schölzel-Klamp, Thomas Köhler-Saretzki: Das blinde Auge des Staates: Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Verlag Julius Klinkhardt, 2010.
11) Vl. Marita Schölzel-Klamp, Thomas Köhler-Saretzki: Das blinde Auge des Staates: Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Verlag Julius Klinkhardt, 2010.
(12) Abwertende christliche Bezeichnung für Kinder aus nicht-ehelichen Beziehungen
(13) Vgl. Markus Köster: Heimkampagnen, die 68er und die Fürsorgeerziehung. In: Damberg/Frings/Jähnichen/Kaminsky: Mutter Kirche - Vater Staat?; 2010. Seite 66: „Schon am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Berufsfeld der Sozialen Arbeit wichtige Impulse von sozialen Bewegungen – insbesondere der Frauen- und der Jugendbewegung – empfangen. Gleichzeitig war die Heimerziehung bereits früh ein Angriffsziel der politischen Linken gewesen. Diese hatte schon vor 1914 die Repressivität der Fürsorgeerziehung, ihren Klassencharakter und ihre konfessionelle Monopolisierung kritisiert.“
(14) Expertise: „Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“; Seite 74
(15) Expertise: „Rechtsfragen der Heimerziehung“; Seite 75
(16) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 18
(17) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 59 (eine Rechtsgrundlage für persönlichen Kontakt gibt es bis heute nicht)
(18) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 38
(19) Prof. Dr. Manfred Kappeler: Unrecht und Leid-Rehabilitation und Entschädigung? Der Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung; Prof. Dr. Manfred Kappeler konstatiert in seiner Stellungnahme: „Es kann durchaus sein, dass die InstitutionenvertreterInnen am RTH davon überzeugt sind, sie hätten in Wertschätzung und auf Augenhöhe mit den Ehemaligen kommuniziert. Jedenfalls wird im Zwischenbericht und im Abschlussbericht die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Mitglieder des RTH behauptet. Tatsächlich aber haben die reale strukturelle Asymmetrie und der Habitus von PolitikerInnen und professionellen Funktionären der Kirchen und Verbänden die von den Ehemaligen beklagten demütigenden Umgangsformen hervorgebracht. In keinem der veröffentlichten Dokumente des RTH findet sich eine selbstkritische Reflexion über die Bedingungen und die Formen der Kommunikation zwischen den strukturell bevorteilten und strukturell benachteiligten Mitgliedern. Seite 5 (der Text erscheint demnächst in einer erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschrift)
(20) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 33
(21) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 34-36
(22) Abschlussbericht des RTH, Anhang: Auswertung der Infostelle des Runden Tisches, Seite 24.