BERLIN. (hpd) Am 19. Januar 2011 wurde der Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren (RTH) an den Deutschen Bundestag übergeben. Dort werden die Abgeordneten über die Empfehlungen des RTH beraten und entscheiden. Für die betroffenen ehemaligen Heimkinder beginnt nun eine besonders wichtige Phase, denn es wird sich zeigen, wie die Abgeordneten diese Empfehlungen handhaben werden.
Wesentliche Forderungen der ehemaligen Heimkinder wurden im Abschlussbericht nicht erfüllt. An vielen Stellen des Berichtes wurde eine Konsensentscheidung aller TeilnehmerInnen am RTH suggeriert, faktisch handelte es sich jedoch um Mehrheitsentscheidungen der InstitutionenvertreterInnen - in Nachfolge der Täterorganisationen - entgegen den Interessen der ehemaligen Heimkinder.
Eine wesentliche Forderung der ehemaligen Heimkinder war die Anerkennung und Entschädigung der Kinder- und Jugendlichen-Zwangsarbeit (1), die Kinder- und Jugendliche in der Heimerziehung leisten mussten. Im Abschlussbericht des RTH wird diese jedoch verweigert. (2)
800.000 Kinder und Jugendliche haben über einen Zeitraum von 30 Jahren jeweils durchschnittlich drei Jahre lang unbezahlte Arbeit geleistet, was dem Staat und den Kirchen enorme Einsparungen und den Firmen und Betrieben enorme Gewinne ermöglichte. (3)
Im Abschlussbericht des RTH wird zwar zugegeben, dass das Grundgesetz in der Heimerziehung seit 1949 galt (bzw. eigentlich hätte gelten müssen), dass aber die Rechtsauslegung, Rechtspraxis und Rechtsprechung nicht in der Demokratie angekommen war und sich häufig auf Auslegungen, Gesetze und Erlasse aus der Zeit vor 1949 berief. (4)
Dennoch folgen die Institutionenvertreter im RTH-Abschlussbericht der Argumentation der damaligen Heimerziehung, indem sie die Zwangsarbeit zum einen pädagogisch begründen und zum andern die Verflechtung mit der Notwendigkeit der Mitfinanzierung der Heimkosten durch die Arbeit der Kinder zwar benennen, jedoch sei nicht ermittelbar, welcher der Aspekte überwog. (5) Die Heimkinder setzten sich dafür ein, dass im letzten Entwurf des Abschlussberichtes der korrigierende Satz eingefügt wurde: „Kinder- und Jugendliche wurden in der Heimerziehung durch Vortäuschung pädagogischer Maßnahmen arbeitsmäßig ausgebeutet.“ Im endgültigen Abschlussbericht wurde dieser Satz jedoch wieder entfernt, darauf macht der Experte Prof. Dr. Kappeler in seiner fachlichen Stellungnahme aufmerksam. (6)
Prof. Kappeler bemängelt zudem, dass auch die systematische Ausbeutung von Kindern (nicht nur von Jugendlichen) für die Aufrechterhaltung der Binnenstruktur in den Heimen unterschlagen wurde, darauf sei seit den 1950er Jahren in der Fachliteratur immer wieder hingewiesen worden. Nach Artikel 6 GG (7) war der Staat im Sinne eines Wächteramtes umfassend für das Wohl der Heimkinder verantwortlich. Die Institutionen hätten sich somit für die Wahrung des Kindeswohls einsetzen können und müssen, anstatt die Arbeitskraft der Heimkinder auszubeuten. (8)
Um die Situation der Kinder- und Jugendlichen-Zwangsarbeit bei externen Arbeitgebern zu veranschaulichen, hier zwei Kurz-Berichte aus Freistatt, die durch die Heimkampagnen bereits 1972 an die Öffentlichkeit kamen.
Schienenstränge verlegen
"Die einen mussten Schienenstränge verlegen, was natürlich sehr schwer war, es waren 12m-Schienen, die anderen mussten dann Körbe mit Torf füllen - und es wurde immer eine Blaumütze und eine Rotmütze zusammen getan, das hieß also, die Blaumützen, das waren die Vertrauensleute, damit die Erzieher erkennen konnten, aha, da hinten läuft jemand mit der blauen Mütze, der Mann hat Vertrauen...
Der Transport musste also nur im Laufschritt gemacht werden, und der Neuere wurde immer als Vordermann benutzt, damit der Ältere, wenn er zu faul war zum Laufen oder aufhören wollte oder nicht mehr konnte, dass er ihn schieben konnte...“
Torfstechen im Mooreinsatz
„Also ich als Gruppenführer war der Stecher, ich hab den Torf herausgestochen, hab ihn hinter mich geworfen, von dort aus wurde er von dem Jüngsten, der unten im Stich stand, ca. 2 m hochgeworfen zu dem Zweitjüngsten, der muss den Torf wieder zu einem evtl. Drittjüngsten - also eine Kette - weiterwerfen zu dem Drittbesten in der Gruppe, das war der, der den Torf mietenmäßig aufbaute.
Am schwersten hat es der unten im Stich gehabt, wenn so ein Kerlchen von 14 Jahren am Tag vielleicht 300/400 Torfsteine aus dem Kreuz heraus 2 m hoch werfen muß, das ist schon eine kolossale Arbeit...“ (9)
„Das blinde Auge des Staates“
Bereits in den 1970er Jahren gab es Protestbewegungen gegen die Menschenrechtsverletzungen in den Kinderheimen in Westdeutschland – die sogenannte Heimkampagne. Die menschenunwürdigen Verhältnisse waren schon damals bekannt. Die beiden Autoren Marita Schölzel-Klamp und Thomas Köhler-Saretzki weisen in ihrem 2010 erschienen Buch: „Das blinde Auge des Staates: Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder“ auf die Motive der Verleugnung des Unrechts hin und erklären Zusammenhänge mit der niederschmetternd unzureichenden Entnazifizierung in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik. (10)
Die unzureichende Entnazifizierung hatte, so die o. g. Autor/innen auch gravierende Folgen für Kinder und Jugendliche, denn zahlreiche NSDAP-Mitglieder konnten bereits 1947 in ihre Positionen in den Polizeibehörden, bei der Justiz und in die innere Verwaltung zurückkehren. Auch die Fürsorgebehörden blieben weitgehend personell unverändert bestehen. Dies hatte zur Folge, dass im Nationalsozialismus entstandene eugenisch-rassistisch begründete Fürsorgebeschlüsse ihre Rechtswirksamkeit ungeprüft weiter behielten. Für die in der NS-Zeit bereits internierten Heimkinder war somit der Wechsel in die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland keine Befreiung und Rehabilitierung, sondern die Fortsetzung des Unrechtssystems. (11)
Gehorsam, Zucht, Verfügbarkeit, Defizitorientierung, Fremd-Reglementierung
Die Erziehungskonzepte in den alten Bundesländern der 50er und 60er Jahre orientierten sich an der Formung eines Menschenbildes, dessen Ziel-Eigenschaften für die Gruppe der Ausgestoßenen und „Kinder der Sünde“ (12) Gehorsam, Zucht, Arbeitskraft-Verfügbarkeit (Ressourcenausbeutung anstelle von Potentialentfaltung), Defizitorientierung (das Kind wurde daran gemessen, was es nicht konnte) und Unterwerfung unter strenge Fremd-Reglementierung waren. (13)
In der juristischen Expertise, die im Auftrag des RTH von Prof. Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten erstellt wurde heißt es:
„Gerade in den Nachkriegsjahren waren viele Heime offenbar wirtschaftlich davon abhängig, dass die Arbeitskraft der Zöglinge verwertet werden konnte. Ein solches Vorgehen konnte aber auch in den 50er Jahren nicht mehr mit einer erzieherischen Intention begründet werden. Der Grundsatz, dass sich die Fürsorgebehörde nicht an der Arbeitskraft des Kindes bereichern dürfe, war bereits zu dieser Zeit anerkannt.
Folgt man der Auffassung, dass die Arbeitspflicht im Heim nur dann keine Zwangsarbeit iSd Art. 12 Abs. 3 GG war, wenn sie erzieherischen Zwecken diente, so ist jede Arbeit im Heim, die nicht erkennbar erzieherischen Zwecken diente und entsprechend ausgestaltet war, als Zwangsarbeit i.S.d. Art. 12 Abs. 3 GG zu werten. Sie war dann nach den oben genannten Maßstäben vor Art. 12 Abs. 3 GG nur zu rechtfertigen, wenn sie im Rahmen einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung stattfand und verhältnismäßig war.“ (14)
Zwangsarbeit
Daraus könnte man also folgern, dass bestimmte von den Heimkindern geleistete Arbeiten als Zwangsarbeit anzuerkennen sind. Der Autor hebelt diese Auslegung jedoch weiter unten im Text mit folgender Argumentation wieder aus:
„Wurden die Kinder und Jugendlichen außerhalb des Heims zur Arbeit eingesetzt, so wurde in den 50er und 60er Jahren in der Regel von einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis ausgegangen. Dabei war ohne Belang, ob der Ausbildungs- oder Arbeitsvertrag von dem Jugendlichen selbst oder von der Fürsorgeerziehungsbehörde in seinem Namen abgeschlossen wurde. Wurde der Arbeitsvertrag gegen den Willen des Jugendlichen geschlossen, so war er nach der herrschenden Willenstheorie dennoch „frei“ zustande gekommen, weil der Wille des Erziehungsrechts-Inhabers (hier die Eltern oder die Fürsorgeerziehungsbehörde) den Willen des Jugendlichen ersetzte (§ 69 Abs. 4 JWG, vor 1961 § 70 Abs. 3 RJWG); für Arbeitsverträge, die für länger als ein Jahr geschlossen wurden, bedurfte die FEB die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, wenn der frühere gesetzliche Vertreter ein Vormund war (§ 1822 Nr. 6, 7 BGB, str.)
Ein solches „freies“ Arbeitsverhältnis kann nicht als Zwangsarbeit eingeordnet werden, ist aber aus heutiger Sicht unter Umständen als Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Berufsfreiheit des Jugendlichen zu werten, weil dessen Interessen nicht ermittelt und berücksichtigt wurden.“ (15)
In der Expertise zu Rechtsfragen wird mit dem Willen des „Erziehungsrechts-Inhabers“ argumentiert, im Abschlussbericht des RTH wird zugegeben, dass Rechtsbrüche und Missstände in der Heimerziehung weder durch die Heimaufsicht, noch durch die Landesjugendämter behoben wurden. An anderer Stelle wird festgestellt, dass das Sorgerecht der Eltern häufig unzulässig auf Pfleger oder Vormünder übertragen wurde, um eine Heimeinweisung zu erzwingen. (16) Vormünder sorgten sich überwiegend jedoch nicht persönlich um ihre Mündel, sie nahmen lediglich eine verwalterische Rolle ein, ohne persönlichen Kontakt zu den Kindern. (17) Wie also konnten Eltern oder Vormünder ihr Erziehungsrecht wahrnehmen und den Willen des Kindes vertreten? (18)
Die Begründungen zur Ablehnung der Einordnung als Zwangsarbeit lesen sich wie Argumentationen von Strafverteidigern, die für die Institutionen einen Freispruch erwirken wollen. Nur fehlte zur Rechtsvertretung der Opfer ein Staatsanwalt und auch deren Rechtsanwälte waren bekanntermaßen nicht zugelassen. (19)
Im Abschlussbericht der Institutionenvertreter des RTH wird allerdings zugestanden, dass wiederholt der Verdacht aufkam, dass sich Firmen und Betriebe an der Arbeit der Heimkinder unangemessen bereicherten, allerdings läge zu wenig gesichertes Wissen vor, um darüber eine Bewertung abzugeben. Hier muss die Frage gestellt werden, warum entsprechende Forschungen nicht in Auftrag gegeben wurden. Das Argument, die Opfer könnten nicht entschädigt werden, weil die Täter gar nicht erst überprüft wurden, kann nicht anders als zynisch genannt werden. (20)
Prof. Dr. Manfred Kappeler weist in seiner Stellungnahme zum Abschlussbericht darauf hin, dass der RTH (genauer: die Institutionenvertreter und die Moderatorin Frau Vollmer) diese Nachweise über die Kooperationen der Heime mit externen Betrieben, nicht eingefordert hat. Diakonie, Caritas und die Ordensgemeinschaften saßen mit am RTH. Die ehemaligen Heimkinder konnten jedenfalls detaillierte Angaben über ihre Erfahrungen, an „Arbeitgeber“ wie z.B. Miele, Braun, Hella-Werke, VW, ausgeliehen worden zu sein, machen. Viele Mädchen arbeiteten in heimeigenen Großwäschereien, die Dienste für Krankenhäuser und Hotels leisteten. Daher forderten die Ehemaligen die finanzielle Beteiligung auch dieser Firmen und Betriebe am Entschädigungsfonds. Im Abschlussbericht steht davon jedoch nichts.
Während die Heimkinder Zwangsarbeit leisteten, wurden ihnen Bildungschancen (21) und Jugendgesundheitsschutz verweigert. Viele leiden noch heute unter den schweren körperlichen Überlastungen in der Wachstumsphase. Sie konnten keine ihren Potentialen entsprechende Berufslaufbahn einschlagen, auch ihre sozialen Beziehungen waren und sind von der traumatisierenden Vergangenheit überschattet. Viele sind dadurch unverschuldet von Transferleistungen abhängig geworden. Andere konnten mit großen Anstrengungen dennoch eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, nicht selten jedoch wurden sie infolge schwerer posttraumatischer Belastungserkrankungen und körperlichen Folgeschäden vorzeitig erwerbsunfähig. Die Heimkinder mussten unter Demütigungen, religiösem Zwang, sexueller Gewalt, schwersten körperlichen Misshandlungen und Freiheitsberaubung durch Erziehungs-Personal leiden. Dieses Leid und Unrecht wird im Abschlussbericht bestätigt.
Die Infostelle des RTH, die eingerichtet wurde, um ehemaligen Heimkindern die Gelegenheit zu geben, ihre Anliegen und Erfahrungen mitzuteilen, führte diverse strukturierte Befragungen der Betroffenen durch. Auf die Frage, wie häufig die Erinnerungen an die Erlebnisse wiederkehren, gaben 7 von 12 Personen an, dass sie täglich, mindestens jedoch zwei bis drei Mal im Monat unter Erinnerungen litten. Diese würden meist durch bestimmte Auslöser aktiviert: „Kommandoton, alles was mit dem Thema Kirche zu tun hat, Kirchenmusik, Kellergerüche, Amtsflure, das Geräusch des dicken Schlüsselbundes, Berichte über Missbrauch,...“. (22)
Die ehemaligen Heimkinder fordern ihr Recht
Die ehemaligen Heimkinder sind keine Bittsteller, sie fordern ihr Recht. Auch diejenigen, die bisher gezögert haben, sollten sich ermutigt fühlen, ihre Rechte einzufordern und Entschädigungsanträge zu stellen. Sie brauchen aber auch UnterstützerInnen auf politischer, institutioneller und persönlicher Ebene. Die Abgeordneten sollten den Abschlussbericht des RTH kritisch lesen und sich bei den Heimkindern und deren UnterstützerInnen selbst informieren, damit die notwendigen Änderungen und Korrekturen vorgenommen werden können und die Wiedergutmachung endlich beginnen kann.
Daniela Gerstner
Wir schreiben 2011.
Bereits 2006 hielt Dietmar Krone anlässlich der Beratungen über die Einrichtung eines Runden Tischen Heimerziehung nachfolgende Rede vor dem Petitionsausschuss.
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Anmerkungen
(1) Artikel 12 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verbietet Zwangsarbeit: (1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. (2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.
(2) Vgl. Abschlussbericht RTH, Seite 31
(3) Vgl. Prof. Dr. Manfred Kappeler: Unrecht und Leid - Rehabilitation und Entschädigung? Vgl. auch: Prof. Dr. Kappeler: Überlegungen zum Umgang mit Vergangenheitsschuld in der Kinder- und Jugendhilfe.
(4) Vgl. Abschlussbericht RTH, Seite 45
(5) Vgl. Abschlussbericht RTH, Seite 30
(6) Prof. Dr. Manfred Kappeler: Unrecht und Leid-Rehabilitation und Entschädigung? Seite 9
(7) Artikel 6 GG; siehe auch: Reinhard Wiesner: Was sagt die Verfassung zum Kinderschutz?
(8) Ebd., Seite 9
(9) "Vom Säugling zum Bückling" (1972), damaliges politisches Kabarett, das sich während der Zeit der Heimkinderbewegung für sie engagierte; O-Ton von ehemaligen Heimkindern aus Freistatt
(10) Marita Schölzel-Klamp, Thomas Köhler-Saretzki: Das blinde Auge des Staates: Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Verlag Julius Klinkhardt, 2010.
11) Vl. Marita Schölzel-Klamp, Thomas Köhler-Saretzki: Das blinde Auge des Staates: Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder. Verlag Julius Klinkhardt, 2010.
(12) Abwertende christliche Bezeichnung für Kinder aus nicht-ehelichen Beziehungen
(13) Vgl. Markus Köster: Heimkampagnen, die 68er und die Fürsorgeerziehung. In: Damberg/Frings/Jähnichen/Kaminsky: Mutter Kirche - Vater Staat?; 2010. Seite 66: „Schon am Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Berufsfeld der Sozialen Arbeit wichtige Impulse von sozialen Bewegungen – insbesondere der Frauen- und der Jugendbewegung – empfangen. Gleichzeitig war die Heimerziehung bereits früh ein Angriffsziel der politischen Linken gewesen. Diese hatte schon vor 1914 die Repressivität der Fürsorgeerziehung, ihren Klassencharakter und ihre konfessionelle Monopolisierung kritisiert.“
(14) Expertise: „Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“; Seite 74
(15) Expertise: „Rechtsfragen der Heimerziehung“; Seite 75
(16) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 18
(17) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 59 (eine Rechtsgrundlage für persönlichen Kontakt gibt es bis heute nicht)
(18) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 38
(19) Prof. Dr. Manfred Kappeler: Unrecht und Leid-Rehabilitation und Entschädigung? Der Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung; Prof. Dr. Manfred Kappeler konstatiert in seiner Stellungnahme: „Es kann durchaus sein, dass die InstitutionenvertreterInnen am RTH davon überzeugt sind, sie hätten in Wertschätzung und auf Augenhöhe mit den Ehemaligen kommuniziert. Jedenfalls wird im Zwischenbericht und im Abschlussbericht die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Mitglieder des RTH behauptet. Tatsächlich aber haben die reale strukturelle Asymmetrie und der Habitus von PolitikerInnen und professionellen Funktionären der Kirchen und Verbänden die von den Ehemaligen beklagten demütigenden Umgangsformen hervorgebracht. In keinem der veröffentlichten Dokumente des RTH findet sich eine selbstkritische Reflexion über die Bedingungen und die Formen der Kommunikation zwischen den strukturell bevorteilten und strukturell benachteiligten Mitgliedern. Seite 5 (der Text erscheint demnächst in einer erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschrift)
(20) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 33
(21) Vgl. Abschlussbericht des RTH, Seite 34-36
(22) Abschlussbericht des RTH, Anhang: Auswertung der Infostelle des Runden Tisches, Seite 24.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Mein Name ist Dietmar Krone. Ich wurde 1954 in Remscheid geboren. Von März 1968 bis August 1973 stand ich unter Aufsicht der staatlichen Fürsorge. Es war Fürsorgeerziehung angeordnet. Einweisungsgrund: Sittliche Verwahrlosung. Die Sittliche Verwahrlosung begründete man damit, dass ich schulterlange Haare trug, die sogenannte Negermusik hörte, und in der Schule Lernschwierigkeiten hatte. In der Schule fehlte ich öfters, da ich auf Grund körperlicher Misshandlungen oft im Krankenhaus war. Mutter war alleinprügelnd, da mein Vater früh verstarb. In einer überfallartigen Aktion wurde ich im März 1968 von Polizisten festgenommen und in ein Polizeipräsidium verbracht. Nach 5 Tagen Einzelhaft teilte mir ein Jugendrichter folgenden Wortlaut mit. Im Namen des Volkes ergeht folgender Beschluss: „Der minderjährige Dietmar Krone geb. am 10.05.1954 wird auf Grund sittlicher Verwahrlosung bis zur Vollendung seines 21. Lebensjahres in eine geschlossene Erziehungsanstalt eingewiesen. Es ist Fürsorgeerziehung angeordnet.”
Zuvor wurde ich in eine geschlossene Nervenklinik eingeliefert, wo man mich mit Elektroschocks, Gehirnwasserpunktion, straffer Fixierung an das Bett, so wie der Verabreichung enormer Mengen Psychopharmaka quälte. Man wollte mich offenbar mit diesen Mitteln wieder in die Bahnen von Recht und Ordnung lenken.
Nachdem ich dort 6 Monate festgehalten wurde, überführte man mich direkt in das Erziehungsheim nach Süchteln. Dort angekommen, wurde ich der Gruppe von meinem zukünftigen Gruppenleiter als Geisteskranker vorgestellt. In einem Kellerraum musste ich mich vor anderen völlig entkleiden. Mein Kopfhaar wurde mir brutal entfernt. Ich wurde mit einem Wasserschlauch abgespritzt und dann mit einem Desinfektionspulver überworfen. Vor allen Gruppenmitgliedern musste ich mir meine Schambehaarung entfernen. Nachdem mir die Heimordnung ausgehändigt wurde, bekam ich einen blauen Arbeitsanzug verpasst. Meine Schuhe bestanden aus einem Paar glatten Holzbrettern mit Riemen, um ein Entweichen zu verhindern. Dann wurde mir sofort ein Arbeitsplatz zugewiesen.
Die ersten drei Monate habe ich im Freien alte schmiedeeiserne Zäune und Gitter mit einer Drahtbürste vom Rost befreien müssen. Es gab weder Handschuhe noch sonstige Schutzvorrichtungen, um die Lunge zu schützen. Dann habe ich viele Monate Elektroteile für die Industrie montiert. Im Sommer musste ich bei den Bauern auf den Feldern sehr hart arbeiten. Von 7:30 Uhr bis 18 Uhr Kartoffeln auflesen oder Obst und Gemüse ernten. Der Heimträger bekam von den Bauern 3 DM pro Kind und Stunde. Wir Kinder wurden mit 4 Pfennig pro Stunde entlohnt.
Bereits bei den kleinsten Verstößen gegen die Heimordnung, wie z.B. mit jemandem bei der Arbeit zu sprechen, folgten harte Strafen. Boxhiebe, Tritte, Ohrfeigen, das Verdrehen und Hochziehen an den Ohren, Arme Rumdrehen, sowie stunden- oder tagelanges Einsperren, bei völliger Dunkelheit in die Besinnungszelle bei Wasser und trockenem Brot.
Unser Gruppenleiter brachte auch öfters seinen Stolz darüber zum Ausdruck, dass er bei der Hitlerjugend war. Bei Adolf hätte man uns alle durch den Schornstein gejagt wie andere. Was er genau sagte, möchte ich jetzt hier nicht wiederholen müssen. Da hätte Zucht und Ordnung geherrscht. Die körperliche Züchtigung durch die Erzieher ging so weit, dass ich heute noch 5 Narben vorzeigen kann, die durch körperliche Misshandlungen im Heim entstanden sind. Mein linkes Schultergelenk wurde zertreten, weil mir zwei Teller aus der Hand fielen und zerbrachen. Meine Schulter hatte sofort operativ behandelt werden müssen. Es gab im Heim keinen Arzt. Stattdessen sperrte man mich drei Tage und Nächte in die Dunkelzelle, wo ich auf Grund von Knochenbrüchen, Muskel und Sehnenabrissen an den Knochen höllischste Schmerzen aushalten musste. Ich schrie vor Schmerzen aber niemand brachte mir schmerzstillende Medikamente. Trotz starker Schmerzen musste ich am vierten Tag wieder arbeiten. Das Gelenk ist schief zusammengewachsen. Seitdem bin ich linksseitig behindert.
Schulunterricht gab es im Heim nicht. Ich habe nicht einmal einen Volksschulabschluss. Mein letztes Zeugnis belegt den Besuch der dritten Klasse. Das hat mir im weiteren Leben viele Unannehmlichkeiten bereitet. Die nicht eingezahlten Beiträge fehlen mir heute an meiner Rente.
Ich bin ausgebeutet und misshandelt worden. Ich bin zum Krüppel getreten worden und wurde sexuell mehrfach missbraucht. Mir wurden heimlich Medikamente in das Essen gemischt, wie z.B. Valium, Librium und Hengolin etc. Nachdem ich von einem Erzieher so zugerichtet wurde, dass ich durch einen Schock tagelang nicht ansprechbar war, steckte man mich in die geschlossene Psychiatrie. Dort sollte ich die Welt des Schreckens kennen lernen. Auf Grund meiner schlechten Verfassung verbrachte ich dort 18 Monate. Nur durch die Initiative eines Arztes, eines Krankenpflegers und eines Anwalts wurde die Rückführung in das Heim verhindert. Erst im September 1973 konnte ich die Anstalt als freier Mensch verlassen und in das damalige Westberlin reisen.
In Berlin hatte ich enorme Schwierigkeiten einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden, da ich nicht einmal einen Volksschulabschluss nachweisen konnte und aus einem Erziehungsheim kam. Ich habe nur Arbeit bekommen, die andere nicht machen wollten. Die psychischen, und seelischen Schäden, die mir im Heim zugefügt wurden, sind nicht reparabel. Bis zum heutigen Tag bin ich immer noch in psychotherapeutischer Behandlung. Ein Gutachten belegt, dass eine Heilung der vielen Traumen ausgeschlossen ist. Eine Heilung der zertretenen Schulter ist unmöglich.
Als völlig gesunder Mensch kam ich ins Heim. Als ich dieser Hölle wieder entkam, war ich schwerbehindert. Die Grundlage für ein normales Leben wurde mir durch den Heimaufenthalt auf Lebenszeit zerstört. Ich bin seit vielen Jahren berentet und habe einen Schwerbehindertengrad von 70 %.
Im Erziehungsheim
Man schob mich ab ins Erziehungsheim,
6 Jahre, stand auf dem Schein.
Auf Staatskosten würde ich hier leben
dafür könnte ich auch arbeiten,
und mich auch regen.
Den ganzen Tag, von früh bis spät
für 4 Pfennig die Stunde,
so wie es hier steht.
Prügel gab es fast jeden Tag,
so viel, und oft, wie der Erzieher mag.
Du bist kein Mensch,
du bist nichts wert,
du bist nur Dreck,
drum nahm man dich,
aus der Gesellschaft weg.
Das du hier bist, hat schon seinen Grund,
jetzt geh an die Arbeit, und halt deinen Mund.
Wie ein Tier, sperrten sie mich ein,
dabei wollt ich doch frei -und geborgen sein.
Nun war ich hier, allein, verlassen,
alle schienen mich zu hassen,
niemand hat sich sehen lassen.
Zu Weihnachten, kam keine Post,
und kein Paket, jeder aus dem Weg mir geht.
Für jede Kleinigkeit,
egal was immer,
sofort in das Besinnungszimmer.
Und die Seele schreit vor Not,
nur Wasser gab´s, und trocken Brot.
Dort war es dunkel, still und kalt,
kein freundlich Wort im Heime schallt.
Und jeden Tag, erneut und wieder,
du bist kein Mensch, du bist zuwider.
Du landest wieder in den Gassen
dich wird man nie in Ruhe lassen,
du landest ganz bestimmt im Knast,
weil du keinen Charakter hast.
Aus dir wird nie was, du bist nur Dreck,
drum bist du hier, sperrt man dich weg.
Und die Moral von der Geschieht,
ich hab´s erlebt, ist kein GEDICHT.
Dietmar Krone
Redaktion Evelin Frerk
Deutschland Deine Kinder (Teil 1) (17. Dezember 2010)
Deutschland Deine Kinder (Teil 2) (22. Dezember 2010)
Heimkinder sorgten für Überraschung (22. Januar 2011).