BERLIN. (hpd) Nach dem in den Medien stark beachteten Fall der angeblich wegen ihrer Ossi-Zugehörigkeit für einen Job in Stuttgart abgelehnte Frau S., wird das bereits für Immigranten sehr relevante Problem der ethnischen Diskriminierung nun auch für das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen thematisiert.
Es stellt nicht nur die Frage nach der Existenz einer Ossi-Ethnie, sondern auch nach den Bestimmungskriterien der Ethnie und nach dem Wesen der Diskriminierung in der heutigen Gesellschaft.
Mit den zunehmenden Auswirkungen der Globalisierung nehmen in der Welt offensichtlich die regionalen Konflikte zu. Sie verdichten sich zu idiotischen bis blutigen Formen, wenn sie sich mit ethnischen oder religiösen Differenzen paaren. Das von Belgien über Spanien bis Jugoslawien auch in Europa.
Ethnisierte Konflikte sind deshalb gefährlich, weil sie meistens emotional geladen aus dem Bauch kommen. Genau wie religiöse Konflikte eignen sie sich gut dazu, eigennützliche Interessen bestimmter Gruppen zu kaschieren, um sie scheinbar zur Sache der ganzen Bevölkerung zu machen. Sie können auf der Grundlage nur einzelner Elemente des Menschseins ein falsches Identitätsgefühl erzeugen, das ganze Völker feindlich trennt. Fanatischer Kommunitarismus bis hin zu Rassismus können so die Universalität der Menschenrechte kollektiv und individuell aufheben. Prinzipiell gilt es somit, jeder Versuch zur Ethnisierung von bestehenden Konflikten zu vermeiden. Individuelle und kollektive Identitäten beruhen auf einem Komplex von Faktoren, die den Weg zu der notwendigen individuellen und kollektiven Selbstbestimmung nicht zwangsweise über die normativ verengten Pfade der Ethnie oder Religion führen.
Gibt es Ethnien in Deutschland?
Trotz dieser prinzipiellen Bedenken über die Verwendung der Kategorie Ethnie bei gesellschaftlichen und insbesonders sozialökonomischen Konflikten, die nachher noch zu präzisieren sind, bedeutet dies nicht, dass es sie nicht gibt oder sie grundsätzlich ohne Bedeutung sind. Sie werden gerade dann ein zu thematisierendes Faktum, wenn sie mit Diskriminierung bzw. Ungerechtigkeit verbunden sind, d. h., wenn sie sozialökonomisch fundiert sind. So geschehen in Stuttgart im vorigen Jahr. Geklagt hatte Gabriela S. aus Ostberlin gegen eine erfolglose Bewerbung um eine Stelle als Bilanzbuchhalterin im Schwabenland. Zusammen mit der Ablehnung fand sie auf dem zurückgesandten Lebenslauf die handschriftliche Notierung „Ossi“ mit einem Minuszeichen. Sie berief sich auf das seit 2006 geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Diskriminierung wegen Geschlecht, Religion und ethnischer Herkunft verbietet. Das Arbeitsgericht Stuttgart wies die Klage in erster Instanz ab, da die Ostdeutschen keine eigene Ethnie im Sinne des AGG sind. Es fehlt entsprechend der klassischen Definition der Ethnie an Gemeinsamkeiten in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung und Ernährung und überhaupt hat die DDR nur 40 Jahre bestanden. Nach Widerspruch des Anwalts konnte dann in letzter Instanz ein Vergleich erwirkt werden, was die juristische Stichhaltigkeit des Gerichtsurteils bereits in einem schwächeren Licht erscheinen lässt.
Wie immer geht es hier um die folgenschwere Deutungshoheit über Begriffe und Kategorien, um die Kluft zwischen Realität und Gesetzen auch bei der Bestimmung was heute unter Ethnie zu verstehen ist und wann daher von ethnischer Diskriminierung gesprochen werden kann. Die moderne Soziologie geht dabei von einem viel weiteren Begriffsverständnis aus als die Richter in Stuttgart bzw. die durch sie angewandten Gesetze. Der Soziologe Prof. Bierschenk der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz z. B. verteidigt deshalb explizit die Existenz einer ostdeutschen Ethnie ebenso im Magazin stern. Auch Dr. Thomas Koch, Wissenschaftler am Brandenburg-Berliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien, beantwortete Ende Januar in Berlin in einem, durch den bekannten Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Dietrich Mühlberg moderierten, ausführlichen Vortrag „Wer oder was sind die Ostdeutschen?“, die Frage mit einem vorsichtigen Ja.
Diese Positionierung ändert jedoch nichts an die prinzipielle Fragwürdigkeit der Verwendung der Ethnie. Insofern hat das Gericht implizit recht, obwohl eine objektive Anwendung der eigenen, altherkömmlichen Definitionselemente des Ethnienbegriffes genügend Raum gelassen hätte, um die tatsächliche Existenz einer ostdeutschen Ethnie nachzuweisen. Diese widersprüchliche Anwendung seines eigenen Definitionsverständnisses lässt an die Konsistenz seiner Argumentation starken Zweifel aufkommen. Lässt sogar eine Politisierung oder Ideologisierung der Denkweise vermuten. Wäre die andere Position juristisch legitimiert worden, dann hätte konsequenterweise Frau Gabriela S. recht auf Entschädigung bzw. müsste eingestellt werden. Eine Entscheidung mit Präzedenzwirkung für vielleicht Tausende andere ähnlich gelagerte Fälle.
Einer der vordergründig wichtigsten ethnischen Bestandteile, das das Gericht in diesem umgekehrten Sinne hätte objektiv werten müssen, wäre zunächst die Situation der Religion in den neuen Bundesländern gewesen.
Der ostdeutsche Volksatheismus als ethnisches Kennzeichen?
Viele Autoren haben auf den Seiten des hpd bereits seit Langem auf die scharfen Unterschiede in der Situation der Kirchen und der Religionen zwischen den alten und neuen Bundesländern hingewiesen und in dem fowid Archiv findet sich dazu der entsprechende statistische Nachweis. Dr. Horst Groschopp z. B. bewies, dass der vom katholischen Theologen Eberhard Tiefensee entwickelte Begriff „Volksatheismus“ als ein wesentliches Merkmal der DDR-Kulturgeschichte anzusehen ist und vielleicht als ein atheistischer Humanismus in den Farben der DDR in der heutigen Bundesrepublik weiterexistiert. (so z. B. in: „Soziologische Befunde über die 'dritte Konfession' " in der Zeitschrift MIZ Nr: 4/ 04 und in der kulturation. Dass er tatsächlich stabil weiterexistiert, wird durch eine Reihe von Fakten bewiesen, die in diesem Kontext hier nur kurz angedeutet zu werden brauchen.
Illustrativ, aber ausreichend beweiskräftig für die hier behandelte Thematik, ist zunächst die Tatsache, dass der Durchschnittswert der Christenquote der Neuen Bundesländer (NBL) 2002 (inklusive Ost Berlin) weit unter dem der BRD insgesamt liegt (12 zu 24 %). Dabei wird zwar das bundeseigene Gefälle von Nord nach Süd reproduziert, aber zusammen mit Schleswig Holstein zeigen die Landesquoten hier (mit einem leichten Ausnahmenwert Sachsens von etwa 17 %), eine relativ gleichmäßige Streuung der Unterproportionalen (von 13 bis 8 %). Entsprechend auch die Werte für die Konfessionslosen: Bundesdurchschnitt 27 % - Durchschnitt NBL 76 % (Streuung zwischen Sachsen und Ost Berlin: 65 zu 88 %). Die frühere Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland markiert also eine eindeutige Eigenständigkeit der beiden Teile in Sache Religiosität. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall haben für die Mehrheit der Ostdeutschen Gott und Kirche noch immer keine Bedeutung.
Die Ursachen dieser Situation sind sehr komplex, haben aber sicherlich nur in weitestem Sinne etwas mit dem Lauf des römischen Limes zu tun. Sie brauchen hier zunächst nicht thematisiert zu werden, da es nur um den Nachweis der religiösen Eigenständigkeit des Ossilandes geht, die offensichtlich nach allen neuen Daten zu einem stabilen Atheismus ausgewachsen ist. Ganze Familien sind bis in die vierte Generation konfessionslos. Dabei ist diese Konfessionslosigkeit, anders als in den alten Bundesländern, nicht beschränkt auf (vorwiegend männlich bestimmte) Kreise, die sich eher vernunftmäßig, intellektuell von der Kirche abgenabelt haben, sondern um es mit dem oft in diesem Kontext zitierten Halbsatz von Hegel zu kennzeichnen, um Menschen, die „vergessen (haben), dass sie Gott vergessen haben“. Es handelt sich bei den NBL eindeutig um ein genau determiniertes Territorium fast ohne Gott und mit einem gottlosen Volk, wo die Remissionierungsversuche der Kirchen chancenlos bleiben. Um einen sich reproduzierenden Volksatheismus mit der vollen Bedeutung des Wortes Volk also. Auf der anderen Seite lassen die Initiativen der atheistischen Vereine sich aber deshalb nur mühevoll verwirklichen, auch weil es in den NBL eine Konfessionslosigkeit ohne starke aufklärerische Wurzel gibt. Insgesamt zeigt diese kurze Analyse, dass die Argumentation des Stuttgarter Gerichts zumindest in Bezug zu dieser ethnischen Begriffskomponente stark zu hinterfragen ist, danach gäbe es nämlich eine ostdeutsche Ethnie. Aber das gilt auch für andere dieser klassischen Komponenten.