Die zentralen Gründe für politische Umbrüche

(hpd) Der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse beschreibt und vergleicht in seinem Buch „Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90“ die im Titel genannten politischen Umbrüche. Das Werk zeichnet sich durch die konsequente Umsetzung eines Analyseprogramms und eine klare Systematisierung des Stoffs aus.

 

Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert ist von vier bzw. fünf politischen Systemwechseln geprägt: vom Wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik, von der Weimarer Republik zum Dritten Reich, vom Dritten Reich zur Bundesrepublik Deutschland bzw. Deutschen Demokratischen Republik, von der Deutschen Demokratischen Republik zur erweiterten Bundesrepublik. „Systemwechsel meint“, so der Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse, „den (friedlichen, weniger friedlichen oder gewaltsamen) Übergang von einem Systemtypus zu einem anderen, abgesehen von etwaigen Modifikationen (monarchisch-konstitutionelle Verfassungstypen etc.) entweder von der Diktatur zur Demokratie oder von der Demokratie zur Diktatur“ (S. 7). So lautet die Definition in seinem Buch „Systemwechsel in Deutschland. 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90“, das diese Veränderungen unter der Fragestellung „Was sind die zentralen Gründe für die Umbrüche – den Sturz des Alten wie den Sieg des Neuen?“ (S. 11f.) erörtern will.

Der Band gliedert sich in acht Hauptkapitel, die historisch beschreibend wie analytisch vergleichend angelegt sind: Zunächst gibt Jesse einen Überblick zur Systemwechselforschung und benennt die drei Kriterien Ende des alten Systems, Institutionalisierung und Konsolidierung des neuen als Instrumente für die Untersuchung und den Vergleich. Danach präsentiert das Buch eine Darstellung der jeweiligen Ereignisse 1918/19, 1933, 1945/49, 1989/90 jeweils bezogen auf die Gesichtspunkte Rahmenbedingungen und Ursachen, Verlauf und Phasen, Ergebnisse und Folgen. Nach der Ausbreitung des historischen Stoffs stehen die systematischen Vergleiche zunächst bezogen auf Aspekte wie Charakterisierung, Determiniertheit oder Intensität der Systemwechsel im Zentrum des Interesses. Schließlich geht es um den Vergleich der Diktaturen (NS und DDR) und Demokratien (Bundesrepublik und Weimar) sowie der Demokratie und Diktatur (Bundesrepublik und DDR) und dann noch hinsichtlich des „neuen“ Systemvergleichs („alte“/“neue“ Bundesrepublik).

Bilanzierend bemerkt Jesse: „Die vier Schlüssel-, Zäsuren- und Umbruchjahre 1918, 1933, 1945 und 1989 symbolisieren fundamentale, in vielerlei Hinsicht für das 20. Jahrhundert charakteristische Systembrüche. Dem autoritären Kaiserreich, das allerdings ein Rechtsstaat war, folgte 1918 die ungefestigte Weimarer Demokratie, ihrerseits nach nur 14 Jahren vom NS-Regime abgelöst. Mit dessen blutigem Ende schlugen der Osten und der Westen Deutschland unterschiedliche Wege ein. 1945 fungierte als ein Scharnierjahr: Zwar war der Bruch mit der deutschen Vergangenheit bei allen Elementen der Kontinuität fundamental, doch wies die Entwicklung in den beiden Hälften Deutschlands, aus denen vier Jahre später zwei Staaten – nicht freiwillig – entstanden, eine vollkommen andere Qualität auf – einerseits eine mehr schlecht als recht funktionierende Diktatur, andererseits eine mehr recht als schlecht funktionierende Demokratie. Das westdeutsche ‚Provisorium’ war lebenskräftiger als das ostdeutsche Gebilde, das ein ‚Definitum’ sein wollte“ (S. 213).

Die bilanzierende und vergleichende Betrachtung zu den „Systemwechsel in Deutschland“ beeindruckt allein schon durch ihre systematische Anlage und Strukturierung. Jesse benennt immer wieder für die unterschiedlichen Aspekte Kriterien, die ihm als Untersuchungsraster dienen. Das so entstandene Analyseprogramm setzt er dann auch konsequent um, wodurch sich der hohe Erkenntnis- und Informationsgehalt des Buchs erklärt. Seine inhaltlich komprimierten historischen Darstellungen können darüber hinaus noch als historische Beschreibungen der jeweiligen Umbrüche gelesen werden. Der Autor setzt sich jeweils auch mit Einwänden auseinander, etwa hinsichtlich der Frage nach einer Angemessenheit eines Vergleichs von „Drittem Reich“ und DDR. Gegen Ende hätte er vielleicht den analytischen Nutzen dieser vergleichenden Betrachtung von Systemwechseln noch etwas stärker betonen können. Der besonders klare Aufbau und die gut verständliche Darstellung machen aus dem Band darüber hinaus eine gute Einführung und ein nützliches Nachschlagewerk.

Armin Pfahl-Traughber

 

Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90, Köln 2010 (Böhlau-Verlag), 280 S., 24,90 €