Aus hedonistischer Sicht geht das Interesse immer von innen nach außen: Ich → Freunde → Volk. Auch Aristoteles stimmt dem zu: „Jeder ist sich selbst der beste Freund und darum soll man auch sich selbst am meisten lieben“. „Selbstwertgefühl, Selbstsorge sind die Voraussetzung für erfolgreiches Handeln in der Gemeinschaft.“ Der hellenistische Hedonismus geht vom Primat des Individuums aus, sieht aber im Mitbürger, wenn man mit ihm freundschaftlich umgeht, einen Glücksverstärker. „Das Mitempfinden an der Freude des Freundes verstärkt das eigene Glück“. Die Gesellschaft ist der institutionelle Rahmen für die Bewahrung individuellen Wohlergehens. Das Verhältnis des Individuums zum Kollektiv wird von der Ansicht bestimmt, dass ein Kollektiv kein Organismus ist, der etwas fühlt. Dies kann nur das Individuum, dessen Interessen deshalb vor denen des Staates rangiert. Als negatives Beispiel wird hier die häufig eintretende Verselbständigung der Staatsidee angeführt, wo die Staatslenker den Kollektivismus einsetzen um das Reich zu mehren, Hegemonie auszuüben, politische Vormacht zu erlangen und den Nationalismus zu schüren. „All dies geschieht unter Opferung des fühlenden und leidenden Individuums“. Für den Hedonisten muss das Gemeinwesen den Interessen des Individuums dienen. Der Hedonismus steht durch eine idealisierte Kollektiv-Struktur der drohenden Versklavung des Individuums entgegen (Beispiel Wehrpflicht).
Christentum bricht mit Hedonismus: Schweine!
Beim Übergang von der römischen Spätantike zum Christentum hat der Hedonismus einen klaren Bruch erlitten. In der christlichen Tradition gilt der Hedonismus als lasterhaft, amoralisch und tugendresistent. Der christliche Kirchenlehrer Augustinus (354-430) bezeichnete Epikur als ein Schwein, weil er die Lust ins Zentrum seiner Ethik stellt, was für Christen bis heute inakzeptabel ist. Epikur ist Zielscheibe dessen, was in der heidnischen Philosophie für Christen verabscheuungswürdig war. In den folgenden, fast 1000 Jahren des christlichen Mittelalters, wurde die Philosophie Epikurs verschwiegen und seine Schriften teilweise vernichtet. Erst in der Renaissance um 1430 gab es wieder erste zaghafte Versuche vom italienischen Humanisten Lorenzo Valla (1405-1457) z.B. nach den Motiven zu fragen, die hinter dem, was man unter tugendhaft versteht, eigentlich stehen. Tugenden wie Enthaltsamkeit, Mäßigkeit, Bescheidenheit, Askese haben in der christlichen Tradition hohes Ansehen. Lorenzo Valla fragt, welchen Ersatz man durch den Verzicht auf Sinnesfreuden bekommt ... etwa Ehre, Ruhm, Ansehen, Geld? Der niederländische Arzt und Sozialtheoretiker Bernard Mandeville (1670-1733) weist in seiner Bienenfabel als einer der ersten darauf hin, dass nicht die Tugend, sondern das Laster die eigentliche Quelle des Gemeinwohls sei. Gesetzgeber nutzen die Eitelkeit der Menschen aus, indem sie für den Verzicht auf Leidenschaften mit den zugeschriebenen Tugenden eine imaginäre Belohnung anbieten. Die Lusterfüllung wird als Laster und Askese als Tugend deklariert.
Der italienische Schriftsteller Pietro Aretino (1492-1556) formuliert 100 Jahre später eine naturalistische Verteidigung der Triebsphäre, in der er jede Art von Triebverzicht als unnatürlich bezeichnet. (Später bezeichnete der US-amerikanische Sexualforscher Alfred Charles Kinsey (1894-1956) die Enthaltsamkeit als eine Perversion.)
LaMettrie: Neurobiologische Struktur des Bewusstseins
Etwa 250 Jahre später vertritt der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de LaMettrie (1709-1751) einen ausgeprägten Materialismus, indem er den Menschen als eine Maschine betrachtet (heute würde man von einer biochemischen Maschine sprechen). LeMettrie verteidigt, wie man heute sagen würde, ein Computermodell der Intelligenz und ist (als Arzt) von der neurobiologischen Struktur des Bewusstseins überzeugt. Er verband die Ethik mit der Medizin und kam zu dem Schluß, dass Gefühle, Strebungen und Neigungen ihren Ursprung in den emotiven Zentren des Gehirns haben, wie es schon Epikur in seinen Schriften antizipierte. Vernunft hat hierbei die Aufgabe einer Optimierung der emotionalen Ziele ohne Zielvorgabe und Tugendfilter für die Leidenschaften.
Mill: Jeder Bürger ist von Natur aus der beste Verwalter seiner eigenen Angelegenheiten
Nach dem schottischen Philosophen David Hume (1711-1776) ist die Vernunft die Sklavin der Leidenschaften, sie kann keine andere Rolle spielen als nur den Leidenschaften zu dienen. Einen Schritt weiter geht dann der englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill (1806-1873): das mittelalterliche Staatsdenken war durch einen ganz deutlichen Paternalismus geprägt, d.h. der Staat gibt die Werte vor und weiß besser als alle einzelnen Personen, welche Handlungen anzustreben sind. Das Vorbild war der platonische Staat, in dem wenige Weise als Vordenker an der Spitze stehen und denen unbedingt zu folgen ist, gegen die man nicht opponieren darf, was die Todesstrafe zur Folge hätte. Diese Staatsform hatte das Christentum aufgenommen und hat daraus eine absolutistisch, hierarchisch organisierte Ordnung etabliert in der das individualistische Freiheitsstreben keinen Platz hatte. John Stuart Mill bezeichnet dies als obsolet, denn jeder Bürger ist von Natur aus der beste Verwalter seiner eigenen Angelegenheiten.