Dipl. Psych. Dr. Elke Lemke (1961-2025) war im Berliner Sozialpsychiatrischen Dienst tätig. Die dortige Festlegung auf Suizidprävention – im Sinne von unbedingter Verhinderung von Selbsttötungen – erlebte sie als bedrückende Folge für Betroffene. Zu deren Freiverantwortlichkeit hinterlässt sie eine eindrucksvolle Abhandlung, die ein Jahr vor ihrem Tod veröffentlicht wurde.
Elke Lemke schied am 17. März aufgrund schwerer Erkrankung selbstbestimmt aus dem Leben. Als freiberufliche psychologische Einzelfallhelferin und Ärztin arbeitete sie mit psychiatrischen Patienten und Patientinnen. In ihrem Klientel hatte sie mit verschiedensten Diagnosen zu tun (v.a. Depression, Zwangserkrankung, generalisierte Angststörung, soziale Phobie, Suchterkrankung, bipolare sowie Borderline-Persönlichkeitsstörung) – bei zum Teil über zehn Wochenstunden pro Patient*in, nicht selten einige Jahre lang. Durch offene und intensive Kommunikation wurde ihr deutlich, dass fast bei allen zeitweilig zumindest Suizidgedanken präsent waren, bei einigen aber auch manifestes und nachhaltiges Verlangen nach Hilfe zur Selbsttötung.
Psychiatrische Diagnosen führen jedoch dazu, dass Betroffenen das Persönlichkeitsrecht auf Suizidhilfe pauschal abgesprochen wird. Als Folge würden viele von ihnen als letzten Ausweg nur einen brutalen und einsamen Suizid sehen – wobei in Deutschland Erhängen tatsächlich die häufigste Selbsttötungsmethode ist.
Elke Lemke war eine zurückhaltende, teils scheue und dabei urteils- und meinungsstarke Persönlichkeit, welche eigentlich die Öffentlichkeit mied. So stimmte sie erst nach Ermunterung verschiedener Seiten zu, das Angebot der Online-Zeitschrift humanismus-aktuell zur Veröffentlichung ihrer Erfahrungen und Erkenntnisse anzunehmen und für diese eine Abhandlung mit dem Titel "Zur Freiverantwortlichkeit und Suizidbegleitung psychisch/psychiatrisch Erkrankter" zu verfassen.
In dieser richtet sie sich mutig auch gegen ihre eigene Zunft, wenn es etwa heißt: "Leider beobachte ich in der Diskussion um den assistierten Suizid noch immer von Ideologie und Glauben bestimmte, paternalistische Bestrebungen. Auch scheint mir die Diskussion um die 'Freiverantwortlichkeit' zunehmend abstrakt und philosophietheoretisch abgehoben, bei völligem Bezugsverlust zur Alltagsrealität tatsächlichen Leidens und begründeter Verzweiflung der betroffenen Menschen, die ein Suizidbegehren anmelden."
Freiverantwortlichkeit für objektive Messung unzugänglich
Ihr Vorschlag für einen Lösungsansatz mag dabei nicht unumstritten bleiben. Er lautet: "Es ist mir ein besonderes Anliegen, die Zahl der harten grausamen Suizide (endlich!) zu verringern. Der wichtigste Punkt dabei ist und bleibt die Suizidprävention! Ohne Leuchtschriftwerbung für den Suizid zu machen, müssten aber die Möglichkeiten humaner Suizidbegleitung offiziell bekannt gemacht werden und potentielle Helfer bekannt sein. So wie die Kontaktdaten der Telefonseelsorge oder der Krisenintervention überall erscheinen, sollte auch der Zugang zu niedrigschwelligen, nicht-obligatorischen und ergebnisoffenen Suizidpräventionsberatungsstellen für die Öffentlichkeit leicht auffindbar sein."
Als Ärztin eröffnet sie ihren sorgfältig ausgearbeiteten Beitrag im April 2024 mit den Worten: "In Abhängigkeit vom Krankheitsbild und der psychopathologischen Ausprägung der Symptomatiken stand das Thema Suizid streckenweise im Fokus meiner psychotherapeutischen, sowie suizidpräventiven Bemühungen. Es ist eines der Gebote, neben der grundlegenden autonomen Handlungsfreiheit, den Schutz des jeweiligen Lebens im Blick zu behalten. Dies kommt einer schwierigen Gratwanderung gleich, wenn man bedenkt, dass die vom BVerfG 2020 genannten Kriterien zur Freiverantwortlichkeit, sowie der von den Patienten empfundene Leidensdruck, einer objektiven Messung Dritter nicht zugänglich sind."
In Bezug auf die drohenden mehrjährigen Gefängnisstrafen für zwei ärztliche Sterbehelfer – den Psychiater und Neurologen Dr. Johann Friedrich Spittler und den Allgemeinmediziner und Internisten Dr. Christoph Turowski – vertritt sie folglich die Auffassung: Man könne beide nicht in Verantwortung nehmen, bei den von ihnen in den Tod begleiteten Suizidwilligen gegen das Rechtskonstrukt der Freiverantwortlichkeit verstoßen zu haben – denn es gäbe gar keine allgemein verlässliche Basis zu deren Feststellung.
Aufgerüttelt durch die Prozesse gegen die beiden Kollegen begann Elke Lemke, sich im Rahmen der Sterbehilfedebatte gegen eine Ungleichbehandlung von psychisch Erkrankten zu engagieren. Mit Spittler verband sie ein enger Kontakt und sie korrespondierte auch mit Turowski, konnte allerdings aufgrund schwerer Krankheit und Behinderung nicht als sachverständige Zeugin zugunsten eines der ärztlichen Sterbehelfer aussagen.
Biografie, Persönlichkeit und humanistische Haltung
Lemke war zu DDR-Zeiten vor ihrer Promotion zunächst als Kinderpsychologin tätig – dabei selbst seit Jugendzeiten bereits im Alter von 14 Jahren mit Suizidgedanken befasst. Dies dürfte zu ihrer späteren besonderen Sensibilität für psychisch erkrankte und suizidale Menschen beigetragen haben.
Elke Lemke litt seit über 10 Jahren an einer chronischen Entzündung des Schädelknochens hinter dem rechten Ohr. Drei OPs hatten dort permanentes Dröhnen und schließlich Hörverlust nicht verbessern bzw. aufhalten können, hinzu kam in letzter Zeit ein Augenleiden mit bedrohlicher Tendenz. Schließlich führte aber erst eine zusätzliche Krebsdiagnose zu ihrem Freitod – unterstützt von einer Sterbehilfeorganisation und begleitet durch ihren Sohn Erik sowie eine enge Freundin. Am Tag vor ihrem Tod führte der Tagesspiegel ein berührendes Interview mit ihr.
Konfessionsfrei sozialisiert, wie bei DDR-Bürger*innen üblich, plädierte sie für Gelassenheit im Umgang mit dem Tod. Bei aller Fürsorge sollte gemäß ihrem Verständnis von Aufrichtigkeit darauf verzichtet werden, über eine Existenz jenseits der physischen Welt und über den vermeintlich tröstenden „Übergang“ dorthin zu erzählen. Wenn überhaupt, beträfe ihre allerletzte Sorge höchstens, dass eine Dosierung des tödlich wirkenden Medikaments aufgrund ihrer Krankengeschichte mit Benzodiazepin-Einnahme auch hoch genug angesetzt werde.
Sie besteht statt der üblichen sechs Gramm auf acht Gramm des Mittels Thiopental. Nachdem sie damit auch unmittelbar nach ihrem Aufdrehen einer entsprechenden Infusion in den Schlaf gesunken ist, wird nach Bericht ihres Sohnes alsbald der Tod festgestellt.
Gründe für den Verlust von Lebensqualität seien vor allem zunehmende körperliche Schwäche und drohende Pflegebedürftigkeit gewesen, mit den Schmerzen hätte sie umgehen können, ihr Palliativarzt habe durch Austarieren der Medikamente versucht, Symptomkontrolle und Nebenwirkungen einigermaßen erträglich auszubalancieren. Darüber und überhaupt von ihrer Krebsdiagnose erfuhren ihr Umfeld und ihr Mitstreiter*innen vor ihrem Freitod nichts. Warum hätte sie sich der Verabschiedung, Traurigkeitsbekundung und den Trostversuchen der anderen zuwenden sollen, wo sie sich doch Ruhe und Gelassenheit wünschte, und nur noch im Reinen mit sich selbst sein wollte. Dazu gehörte für sie das tiefe humanistische Verständnis, dass alle Menschen miteinander verbunden seien und bei Verinnerlichung dieser Haltung kein Platz für Ausgrenzung, Hass und erst recht Krieg gegeben wäre.
Ihr blieb bis zuletzt eine Zeit des liebe- und humorvollen Zusammenseins mit Erik, dem aus dem Ausland angereisten Sohn: Gemeinsam hätten sie sich noch darüber lustig gemacht, dass die Verbrauchsempfehlungen der Lebensmittel im Kühlschrank später als ihr eigener "Verfall" datiert waren. Ernsthaft gesprochen bedeute gelassenes Sterben für sie – ein wenig auch durch Meditationserfahrung – das behutsame Verschwinden der äußeren Welt in ihrem Inneren. Der Abschied vom Leben war für Elke Lemke, bekleidet im eleganten Hosenanzug, am Morgen ihres Todes eine frohgemute Befreiung; der vom Sohn – schon am Tag zuvor – sei gleichwohl tränenreich gewesen.
Vermächtnis zur Gleichbehandlung von psychisch Leidenden
Als Ärztin, Psychologin und Einzelfallhelferin von psychisch erkrankten Menschen hinterlässt Elke Lemke ihre schon erwähnte lesenswerte und verbreitungswürdige Abhandlung. Sie wendet sich gegen eine psychiatrische Diagnostik, die pauschal dazu führt, dass Suizidhilfe verweigert und kriminalisiert wird. Hier noch einige Zitate daraus:
"Nach dem derzeitigen methodologischen Stand ist das Kriterium der 'Freiverantwortlichkeit' nicht objektivierbar, was es notwendig macht, der Bedeutung der subjektiven Komponente des zur Selbstbestimmung fähigen Menschen stärkere Beachtung zukommen zu lassen. Das bedarf insbesondere, dass man als 'Dritter' […] sich ganz auf den Betroffenen einlässt und ihn in seinem Leidensdruck, vielleicht auch Lebensüberdruss, zu verstehen versucht."
"Bei den zum Freitod entschiedenen Patienten […] stellen sich ganz existenzielle Fragen: Wie halte ich diesen Zustand noch weiter aus; wie soll ich es schaffen, den Tag bis zum Abend zu bewältigen usw.; und der Patient weiß seine (oftmals einzige) Antwort, nämlich: dass es unmöglich ist, sich weiter zu quälen, jeden noch folgenden Tag im Schmerz (auch seelischen Schmerz) zu verbringen; und dennoch macht er weiter, jeden einzelnen Tag, weil er sich aus eigener Kraft nicht anders helfen kann."
"Ich habe meine Patienten, außerhalb psychotischer Episoden, fast ausnahmslos klar, bodenständig, selbstreflektiert, verantwortungsbewusst, im Denken eigenständig, kritikfähig und offen, in einigen Fällen auch intellektuell herausfordernd, und vor allem kompetent erlebt, was ihre eigene Erkrankung, Behandlungsoptionen und ihr pharmakologisches Knowhow betrifft."
"Depressionen werden u.a. als Hirnstoffwechselstörung begriffen, bei denen ein Ungleichgewicht der Botenstoffe (Serotonin, Dopamin, Noradrenalin usw.) vorherrscht […] Jede Krankheit ist jedoch individuell […] und spielt sich in einem Menschen ab, der mit ihr leben muss, und im chronischen Geschehen, oft über Jahre oder Jahrzehnte, mit aufwändigen Therapien und oft auch prekären finanziellen Lagen belastet ist."
