Kinderrechte ins Grundgesetz

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...aber nicht im Grundgesetz / Fotos: Töns Wiethüchter

BERLIN. (hpd/hvd-b) Fit für Kinderrechte: Am 30. März trafen sich über 130 Schüler und Schülerinnen des Faches Lebenskunde zu einem Kongress über die Rechte der Kinder. Er stand unter dem Motto: Informieren, gestalten, engagieren.

„Kennt ihr den Footbag? In Marokko stellen sich Kinder den Hacky-Sack selber her. Wir zeigen euch heute, wie!“, stellt sich die Lebenskundegruppe aus Treptow mit ihrer Aktion vor.Noch ernten sie zögerlichen Applaus. Der Saal des Nachbarschaftshauses Urbanstraße ist gefüllt. Die Schüler und Schülerinnen aus Berlin sitzen gespannt auf ihren Stühlen. Sie sind gut vorbereitet. Und doch starten sie nervös in den Tag, nicht wissend, wie ihr Beitrag zum „Markt der Möglichkeiten“ ankommen wird. An 17 Ständen bieten die Lebenskundegruppen Informationen und Aktivitäten zu einzelnen Kinderrechten an.

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Markt der Möglichkeiten
"Bekannt machen, bekannt machen, bekannt machen“, benennt Dr. Eva Ellerkmann das Hauptziel des Kongresses. Sie ist die Initiatorin und Koordinatorin der Aktion. Informieren, gestalten, engagieren, so kann man das Motto dieses Tages zusammenfassen. Mit dabei sind der Kindernotdienst und das Deutsche Kinderhilfswerk.

Wenn in Libyen ein Diktator die eigene Bevölkerung bombardiert und in Japan ein Tsunami für kaum vorstellbares Elend sorgt, sind es mit den Kindern immer die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft, die am stärksten leiden. Die 1989 verabschiedete Konvention für Kinderrechte trägt dem besonderen Schutzbedürfnis der Kinder und Jugendlichen dieser Welt Rechnung. Es geht um scheinbar Selbstverständliches: Kein Kind darf Opfer eines Krieges werden oder gar als Soldat missbraucht werden.

Kein Kind darf aus Profitgier zu Arbeiten verpflichtet werden, die seine Entwicklung beeinträchtigen. Jedes Kind hat das Recht auf ein gesundes Leben, auf Bildung und Informationen und auch auf Freizeit und Spiel. Die Realität sieht anders aus. Mehrere Millionen Straßenkinder, Bilder von Kinderarbeitern und -soldaten, Kinder ohne eine Chance auf Bildung und gesundes Wasser sind in dieser Welt die Regel, nicht die Ausnahme.

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Der Harry Sack - ein Spielzeig aus Marokko
Doch was tun? Psycholog/-innen und Pädagog/-innen empfehlen, die Kinder und Jugendlichen nicht mit den katastrophalen Nachrichten alleine zu lassen. Wer weiß schon, wie ein Kind darauf reagiert, wenn es mit Bildern von einer radioaktiven Wolke oder flüchtenden Menschen konfrontiert wird. Aber reicht es wirklich aus, mit Kindern darüber zu sprechen? Die mediale Wirkung eines Bildes ist mächtig und kaum kontrollierbar. Es gilt, dieser Wirkmacht etwas entgegenzusetzen und den Schülern und Schülerinnen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dass die Welt veränderbar ist und man selbst etwas tun kann, gehört zu den wichtigsten Erfahrungen, die Kinder an solch einem Tag sammeln.
Die Ohnmacht angesichts des Elends dieser Welt in Engagement verwandeln – das ist eine pädagogische Aufgabe, der sich die Lebenskundelehrerinnen und -lehrer stellen.

„Geschockt“ sei sie, berichtet mir Nursi (11 Jahre) von der Königsgraben-Grundschule. „In Indien müssen Kinder 1000 Tüten kleben, um einen Euro zu verdienen“, klärt sie mich auf und überreicht mir eine selbst gebastelte Papiertüte. Sie wünscht sich, „dass die Kinder in die Schule gehen und versorgt werden“. Es geht um die einfachen Dinge: Ernährung und Bildung. „Die Wichtigen, ich meine die Bundeskanzlerin und so, könnten was verändern“, schlägt der 9-jährige Marvin vor. Warum eigentlich nicht?

Die Rechte der Kinder – zu teuer für Deutschland?

Im Jahr 1992 übernahm die Bundesrepublik unter dem Kanzler Helmut Kohl die Konvention – allerdings unter einem Vorbehalt: Entgegen dem Wortlaut der Konvention, nach der ein Kind eine Person unter 18 Jahren ist, wollte sich Deutschland die Möglichkeit offen halten, Kinder ab 16 Jahren abzuschieben. „Verbringen“ nennt man diese Praxis offiziell. Erst im Mai letzten Jahres wurde diese umstrittene Abweichung kassiert.Auch an diesem Detail lässt sich die Sprengkraft der Konvention für Kinderrechte erahnen: Wenn die Kinderrechte ausreichend durch das Grundgesetz und im selben Maße wir durch die Konvention geschützt würden, wieso dann dieser Vorbehalt?

Für die Lebenskundelehrerin Dr. Ellerkmann ist die Sache klar: „Kinderrechte gehören ins Grundgesetz!“ Der gesellschaftliche Status werde sich verändern, antwortet sie auf meine Frage, was sich eine Änderung des Grundgesetzes bewirken würde. Die Belange der Kinder müssten dann vorrangig berücksichtigt werden. Doch „das kostet Geld, viel Geld“, setzt sie hinzu. Wenn die Kinderrechte Verfassungsrang hätten, müsste jedes Kind gemäß seinen individuellen Fähigkeiten gefördert werden, erläutert sie. Doch genau daran mangele es. In der Tat: Es ist erschreckend, in welcher Weise die Zukunftschancen der Kinder mit ihrer Herkunft verknüpft sind. Oft entscheidet nicht nur das Einkommen der Eltern, sondern auch der Wohnort über ihre Zukunft. Armut ist in Deutschland überproportional die Armut der Kinder: Laut einem Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaft ist jedes fünfte Kind in Deutschland arm, jedes sechste von Armut bedroht. Die Bildungseinrichtungen werden mit immer höheren Ansprüchen belastet, ohne dass man ihnen ausreichende Mittel zu deren Umsetzung zur Verfügung stellt. Leider hat daran der Nationale Aktionsplan, der 2005 von der Bundesregierung ins Leben gerufen wurde und der eine Umsetzung der Konvention für Kinderrechte in Deutschland zum Ziel hatte, wenig geändert. Das derzeit „selektive Bildungssystem“ müsse umgestaltet werden „und stattdessen die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes zum Herzstück einer neuen Bildungspolitik“ erklärt werden, heißt es dort. 2010 lief der Aktionsplan aus ohne erkennbare Verbesserungen bewirkt zu haben.

Ein symbolischer Akt mit großer Wirkung

Die Gegner einer Grundgesetzänderung berufen sich auf den ausreichenden Schutz, den die Gesetze Kindern gewähren würden. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, gelte schließlich auch für Kinder. Und verleiht das Grundgesetz dem Schutz der Familie nicht einen besonderen Stellenwert? Es gebe ein „Vollzugsdefizit“, zitiert Gero von Randow in der ZEIT den juristischen Begriff. Es klaffe eine Lücke zwischen der Gesetzgebung und deren Umsetzung. Eine zusätzliche Hereinnahme der Kinderrechte sei nur ein symbolischer Akt.

Ein symbolischer Akt mit großer Wirkung, sagen Befürworter einer Grundgesetzänderung: Wenn schon bei der Gesetzgebung Kinderrechte berücksichtigt werden müssten, kämen wir dem Ziel, eine Kind gerechtere Welt zu schaffen, einen entscheidenden Schritt näher. Auch Parvin Sadigh ist in der Zeit der Ansicht, dass es eine Frage des Geldes sei: „Damit alle Kinder sich entfalten können, müssen Sozialarbeiter, Psychologen und Eltern Zeit haben – und das kostet.“ Mohammed von der Lietzensee-Grundschule kennt den Zeitmangel. Er wünscht sich, „dass Eltern mehr Zeit mit den Kindern verbringen“ und dass alle „ein bisschen reicher“ sind.

Die Befürworter hoffen, dass Kinder nicht nur als Teil der Familie, sondern als eigenständige Persönlichkeiten berücksichtigt werden. Liest man den Wortlaut der geplanten und schon beschlossenen Änderung der Berliner Verfassung, kann man dem nur zustimmen: „Jedes Kind habe das Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz der Gemeinschaft vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes als eigenständige Persönlichkeit und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen“. Wer will das widersprechen!

Am heutigen 5. April jährt sich die Anerkennung der Kinderrechtekonvention durch Deutschland. Es ist an der Zeit, die Kinderrechte wieder auf die Agenda der Politik zu setzen.

Töns Wiethüchter