Islamismus als gesellschaftliche Herausforderung

Paternalistische Begierde

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Im Juli erscheint bei Springer VS "Islamismus als gesellschaftliche Herausforderung: Ursachen, Wirkungen, Handlungsoptionen". Eine stark gekürzte Online-Fassung ermöglicht einen ersten Überblick. 100 Wissenschaftler haben von 2020 bis 2025 das Phänomenfeld Islamismus im Rahmen eines groß angelegten Forschungsprojekts des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung, des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und des Violence Prevention Networks untersucht. Eine Einschätzung.

Im Juli erscheint bei Springer VS die über 400-seitige Langfassung unter dem Titel "Islamismus als gesellschaftliche Herausforderung: Ursachen, Wirkungen, Handlungsoptionen". Einen ersten Überblick geben bereits 13 stark gekürzte Studien, die online veröffentlicht wurden.

Alle haben einen gemeinsamen Aufbau: Die Fragestellung wird vorgestellt, die Methodik erklärt, die Ergebnisse präsentiert, und am Ende gibt es Empfehlungen und Handlungsoptionen. Beim Thema Islamismus wird zunächst versucht, den Begriff zu fassen:

"Politischer Islam bezieht sich auf die Vertretung islamischer Werte innerhalb demokratischer Strukturen, politischer Islamismus zielt hingegen darauf ab, demokratische Systeme nach religiösen Prinzipien umzugestalten. Besonders problematisch ist zudem die pauschale Gleichsetzung von Islamismus mit Gewalt oder Terrorismus. Tatsächlich agieren viele islamistische Gruppierungen gewaltfrei und beschränken sich auf legale politische oder missionarische Aktivitäten."

Auch Salafisten könnten friedlich sein. Sicher gewalttätig ist der Dschihadismus, der auf den bewaffneten Kampf setzt.

Den Autoren ist es wichtig, nach Möglichkeit niemanden zu verletzen, denn ihre Sorge ist groß, Rechtsradikalen und Muslimfeinden Munition zu liefern. Doch zum Glück zieht sich diese fast hysterische Sorge, die vom Geist eines seine Hegemonie verlierenden postmodernen Ideologiebündels geprägt ist, nicht durch den gesamten Band. Die Forscher setzen auf Empirie, und die Ergebnisse ihrer Arbeit geben – wenig überraschend – Anlass zur Sorge. So wird in einer Arbeit festgestellt, dass Diskriminierung und Ausgrenzung die wichtigsten Gründe für eine Hinwendung zum Islamismus seien.

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Doch was bedeutet das, wenn etwa die Hälfte der befragten Muslime den Islam als einzig wahre Religion sieht und den Koran über deutsche Gesetze stellt? Ein Drittel glaubt, dass nur der Islam aktuelle Probleme lösen kann oder wünscht sich eine Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten. Rund 40 Prozent lehnen Juden ab, da sie diese als hinterhältig oder zu einflussreich betrachten. Knapp zwei Drittel akzeptieren autokratische Einschränkungen der Demokratie und verbinden dies mit Führersehnsucht oder dem Wunsch nach einem völkischen Einparteiensystem. Etwa 11 Prozent wären bereit, Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen anzuwenden.

Auch andere Gruppen werden diskriminiert – ohne jedoch in ihrer Breite so stark die westliche Gesellschaft abzulehnen. Die Frage, ob es Gründe im religiösen Gedankengebäude des Islams gibt, die seine Anhänger anfällig für Radikalismus machen, wird nicht gestellt. Obwohl das naheliegend wäre: Denn es ist ja nicht so, dass Muslime in Ländern, in denen sie die Mehrheit stellen und wegen ihrer Religion nicht diskriminiert werden, sich durch Weltoffenheit und Liberalismus auszeichnen.

Gut 125.000 Juden leben in Deutschland, eine winzige Minderheit. Viele in diesem Land werden noch nie Kontakt mit Juden gehabt haben. Aber Juden wiederum haben Erfahrungen mit Muslimen, wie sich in einer Studie nachlesen lässt:

"Unter den Befragten, die antisemitische Bedrohungen und Beleidigungen erfahren haben (67,5 Prozent), gaben 38 Prozent an, dass diese Taten islamisch motiviert gewesen seien. Ein rechtes Motiv wurde in 24 Prozent der Fälle vermutet, ein linkes in 6 Prozent, ein christliches in 2 Prozent. Auch bei antisemitischer Sachbeschädigung bzw. Vandalismus steht aus der Sicht der Betroffenen in 37 Prozent der Fälle ein islamisches Motiv hinter der Tat, wobei ebenso in 37 Prozent der Fälle ein rechtes Motiv vermutet wurde. Bei physischen Angriffen berichten 57 Prozent der Betroffenen, dass diese Taten islamisch motiviert gewesen seien, gegenüber 17 Prozent, die ein rechtes Motiv vermuteten."

Die Zahlen wurden vor dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 erhoben, der weltweit – und damit auch in Deutschland – eine massive Welle des Antisemitismus zur Folge hatte. Heute würden sie wohl noch erschreckender ausfallen.

Viele der in dem Vorabband veröffentlichten Kurzfassungen von Studien sind interessant und liefern aufschlussreiches Zahlenmaterial. Schwach sind oft die Handlungsempfehlungen, deren Grundlage eine Sicht auf Muslime und den Islam ist, die sich nicht davon lösen kann, Muslime als Opfer einer ihnen tendenziell feindlich gesinnten Gesellschaft zu sehen. Im Mittelpunkt steht daher oft die Forderung, die Mehrheitsgesellschaft und Protagonisten des Staates wie Lehrer oder Polizisten besser aufzuklären und entsprechende Initiativen zu fördern. Mag sein, dass das auch Sinn ergibt – aber es ist eine arg paternalistische Sicht auf die muslimische Community, die sie von jeder Verantwortung freispricht.

Ein Ansatz, der selbstbewusst die Ideen der Aufklärung, der Demokratie und der Trennung von Religion und Staat vertritt, könnte einen Versuch wert sein, sich dem Problem zu nähern. Vor allem, wenn man deutlich macht, dass das Zusammenspiel von Aufklärung, Wissenschaft und freier Wirtschaft die Grundlage für den Erfolg der westlichen Gesellschaften bildete – Gesellschaften, in die heute in Europa lebende Muslime oder ihre Vorfahren eingewandert sind, weil sie deutlich wohlhabender, freier und erfolgreicher waren und sind als ihre religiös geprägten Herkunftsstaaten.

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